Rede zur Aufnahme der neuen Fünftklässler am 13. 9. 2005 von Ulrich Kernen am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart



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Transkript:

Fehlerkultur Rede zur Aufnahme der neuen Fünftklässler am 13. 9. 2005 von Ulrich Kernen am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart Liebe Eltern, Verwandte und Freunde unserer neuen Fünftklässlerinnen und Fünftklässler, ich pflege an der Aufnahmefeier unseren Gästen einige pädagogische Überlegungen zum Überdenken anzubieten, heute zum Thema: Fehler machen aber richtig! Plädoyer für eine humane Fehlerkultur oder: Wie wir lernen, mutig und fröhlich Fehler zu machen, dabei Neues zu entdecken und dennoch bescheiden zu bleiben. Liebe Eltern, Verwandte und Freunde unserer neuen Fünftklässlerinnen und Fünftklässler, glauben Sie mir, neben Stolz und Neugier, nun ins berühmte Ebelu gehen zu dürfen, erfüllt Ihr Kind heute insgeheim auch die bohrende Frage: Werde ich den neuen Anforderungen gerecht? Oder konkreter: Bin ich gut genug? Haben die neuen Lehrer Geduld mit mir, wenn ich einmal nicht mitkomme? Sind die anderen Neuen viel besser als ich, werden sie lachen, wenn ich Fehler mache? Und irgendwo sind auch Sie nicht ganz frei vom diesem mulmigen Gefühl Und damit sind wir beim Thema: Fehler machen aber richtig! Dafür ist es geschickt, dass wir ein paar Minuten allein sind, solange Ihr Kind mit Frau Reiner bzw. Herrn Behrens in ihrem neuen Klassenzimmer das Weitere für den Anfang besprechen. In einigen Mußestunden meines Sommerurlaubs habe ich versucht, mich in diese Situation hinein zu versetzen; mit meinen drei Kindern habe ich vor Jahren das gleiche erlebt. Ich möchte Sie in den nächsten fünfzehn Minuten an meinen Überlegungen teilhaben lassen vielleicht kommen wir dann nachher und in den nächsten Monaten ins Gespräch zum Nutzen Ihres Kindes so wünsche ich es mir. Zunächst war ich erstaunt zu erkennen, dass das Thema Fehler machen aber richtig! bei näherer Betrachtung kein pädagogisches Randthema ist, sondern an grundsätzliche Fragen des Lernens, ja der Wirklichkeitsbewältigung allgemein rührt. Wir alle machen, ob wir wollen oder nicht, insgeheim oder öffentlich, ständig Fehler, gravierende oder lässliche. Blicken wir auf Ihre letzten 60 Minuten zurück eine Kette von Fehlern blitzt auf, mit denen wir ganz fröhlich leben können: Aus Unaufmerksamkeit haben Sie vielleicht den Brief verlegt, in dem mitgeteilt worden ist, wann die Aufnahmefeier beginnt, beim Suchen brauchten Sie etwas länger als sonst, weil Sie aus Faulheit Ihre Brille nicht am gewohnten Platz abgelegt hatten, oder war es aus Trotz, weil Ihr Mann Sie andauernd mit pädagogischem Unterton daran erinnert? Aus Angst, zu spät zu kommen, fahren Sie zunächst etwas schneller als erlaubt und werden prompt geblitzt; zu allem Unglück finden Sie das Ebelu nicht auf Anhieb. Sie fahren zwar zunächst aus Versehen in die Relenbergstraße, entdecken dann aber zunehmend Eltern mit ca. zehnjährigen Kindern im Gefolge, die vom Herdweg aus dem Ebelu zustreben. Nun fühlen Sie doch, dass Sie ein wenig zu spät dran sind, und in der aufkommenden Hetze missachten Sie einige wartende

Passanten am Zebrastreifen. Sie probieren an einigen viel versprechenden Stellen, einen Parkplatz zu ergattern, zunächst vergebens, dann erfolgreich. Beim Einparken jedoch müssen Sie, weil Sie das noch nie richtig konnten, mehrmals ansetzen, aber wie man sieht Sie sind gottseidank da, obwohl eine Kette von Fehlern hinter Ihnen liegt, und das ist völlig normal und in gewissen Bereichen sogar notwendig. So weit eine beliebige Sammlung von mehr oder wenig wahrscheinlichen Fehlern. Fehler machen wir alle aus vielerlei Gründen: aus Unaufmerksamkeit, aus Faulheit, aus Trotz, aus Angst, aus Selbstüberschätzung, aus Zeitnot, wegen mangelnder Begabung und in einem Fall war in meiner konstruierten Aufzählung der Fehler sogar notwendig: Hätten Sie es nicht probiert, ein paar Mal vergebens nach einem Parkplatz zu schauen, Sie wären im Extremfall unverrichteter Dinge wieder nach Hause abgezogen. Fehler und Lernen zwei Seiten einer Medaille! Kommen wir noch einmal auf das mulmige Gefühl im hinteren Herzensstübchen zurück! Wir Erwachsene wissen, dass Angst vor Fehlern unter unglücklichen Umständen zur feinen, unterschwelligen Dauerqual werden kann, unsere Lernfreude und Selbstsicherheit untergräbt. Wie eine vielköpfige Hydra lauern die Gründe überall: Der Unterrichtsstoff kann für das Kind zu früh kommen, die Vermittlung im Unterricht kann zu rasch erfolgen, es kann zu viel auf einmal sein, der Lerngegenstand kann die Begabung übersteigen das sind Sorgen, die mit der Einführung des achtjährigen Gymnasiums manchen beschleichen und denen wir am Ebelu mit unserem speziellen Übergangskonzept Grundschule Ebelu und mit einer großzügigen Stundenausstattung für Übphasen entgegensteuern werden. Zur Überforderung und zum Fehlermachen bis hin zur Blockade aus Resignation oder Trotz würde auch eine übermäßige Konzentration auf Leistung führen, wenn Sie Ihr Kind in eine Lernhektik drängen, die es nicht mehr verarbeiten kann. Dabei meinen Sie es gut, Ihr Kind soll all das schaffen, was Sie sich erträumten, oder Sie machen sich frühzeitig / rechtzeitig? Sorgen über den Verteilungskampf von Zukunftschancen und überziehen, das Beste wollend, jetzt schon heillos. Denken Sie daran, so wie die Haut zu viel Sonnenbestrahlung ein Leben lang nicht vergisst, so leidet auch die Seele und der Geist, wenn sie wie Weihnachtsgänse fort und fort gestopft werden. Nachhilfe ist zum Beispiel nur dann wirklich sinnvoll, wenn durch eine Unterbrechung, etwa durch Krankheit oder Umzug, oder, auch das soll vorkommen, durch unzureichenden Unterricht Lücken entstanden sind. Ansonsten schadet Nachhilfeunterricht eher, dann gehört er in das unselige Arsenal von süßen Verwöhnungsgiften, deren Langzeitwirkung nicht ausbleiben wird. Fehler ist nicht gleich Fehler. Alle Zeugnisse, egal von wem sie ausgestellt wurden, sind zugleich richtig und falsch, denn, um wirklich gerecht zu sein, müsste man eigentlich nach den persönlichen Bedingungen beurteilt werden und nicht nach einem allgemeinen Maßstab. Was heißt das konkret? Manche hart errungene Vier ist eine viel bemerkenswertere Leistung als die Bequemlichkeitszwei des Begabten. Unter die Lupe genommen entstehen Fehler ja auch selten nach wirklich genormten Bedingungen. Wurden vom Lehrer Rahmenbedingungen für die Leistungsfeststellung vorher bekannt gegeben, war die Vorbereitung im Unterricht angemessen? Stimmt die Menge der Aufgaben, der Schwierigkeitsgrad, der Zeitpunkt, die Gewichtung der Aufgaben, die zugelassenen Hilfsmittel, die Mischung aus verschiedenen Aufgabentypen, der Zeitpunkt der Ankündigung, die Sitzordnung, die Aufsicht? Überall lauern pädagogische und organisatorische Fehlerquellen! Außerdem wäre zu bedenken und zu überprüfen, dass meistens Leistungen im Schriftlichen höher bewertet werden als im Mündlichen oder im Praktischen. Und schließlich: Wer legt die Felder fest, auf denen geprüft wird? Was ist wichtig, was nicht non scholae, sed vitae discimus Findet das auch Eingang in unsere Tests?

Gehen wir davon aus, dass ein Schüler im Allgemeinen Fehler nicht aus Gleichgültigkeit macht oder weil es in der Clique als cool gilt oder weil er sich als hoffnungslosen Fall aufgegeben hat, wenn er sich also, so gut es ging, angestrengt hat, dann ist ein Fehler der momentan optimale Lösungsweg, den der Lernende gefunden hat und in der Lage ist, unter Prüfungsbedingungen darzustellen. So findet man den Begriff Fehler in der Fachwissenschaft definiert. Der Fehler ist demnach, das klingt überraschend, aus subjektiver Sicht zeitweilig gar kein Fehler. Und deshalb stürzen sich gute Pädagogen auf Fehler, lassen sie doch Rückschlüsse zu auf das Lernen und Verstehen des Schülers, sie offenbaren die Vielfalt der Denkwege. Das soll natürlich keine Dauerausrede für eine Fünf in Mathe sein! Eine Fünf kassieren und dann zur Tagesordnung übergehen das ist nach dem ersten Schmerz und Frust ein allzu bequemer und äußerst kurzsichtiger Weg, das wäre dann der eigentliche Fehler! Optimal wäre es, sich die Fehler genau anzusehen, mögliche Ursachen dafür aufzuspüren um dann die notwendigen praktischen Konsequenzen zu ziehen: Wie können in Zukunft die Lücken verringert und, falls vorhanden, die Aufregung während des Tests vermieden werden? Vereinbarungen, möglichst schriftlich, mit zeitlicher Bindung und mit gemeinsam festgelegten Nachkontrollen, haben sich als erfolgreich erwiesen, denn es gilt auch hier der Kästner Aphorismus: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! Realismus, Selbstüberwindung, Fleiß und Durchhaltewillen sind nun angesagt. Und wenn das zu besteigende Lerngebirge unbezwingbar erscheint, kann es Mut machen, ganz bescheiden die nächsten konkrete Schritte heraus aus der Misere zu tun, um keine komplette Lethargie aufkommen zu lassen; und dann sind mittel- und langfristige Ziele mit Augenmaß festzulegen im Zusammenhang mit Überlegungen, welche Hilfen zur Verfügung sind. Wenn allerdings Misserfolge chronisch werden sollten und die Schulzeit zu einer ewigen Leidenszeit auszuarten droht, könnte auch eine Beratung sinnvoll sein, ob der gewählte Bildungsgang der passende ist oder ob ein Wechsel wieder Zuversicht, Lernfreude und Erfolg bringen kann. Auch im Bildungssektor muss der Schuh passen, den man anhat! Permanente Angst vor Fehlern und Versagen führt zu inneren Fluchtreflexen und hemmt Kreativität und die Freude an Verknüpfung und Anwendung des Gelernten. Mutlosigkeit und Selbstverachtung untergraben am Ende Zuversicht und Lernfähigkeit. Wie findet man einen Weg? Am Anfang steht das Gespräch des Lehrenden und des Lernenden über die vorhandenen Fehler. Grundlage für eine darauf aufbauende Rückmeldungskultur ist gegenseitige Offenheit und Vertrauen in die konstruktive Einstellung des Partners. Es darf genauso wenig ein Vertuschen von Schwächen geben wie ein demütigendes, genüssliches, vielleicht sogar öffentliches Sezieren von Fehlern. Ärgerlich und indiskutabel sind die virtuosen Ausredekünstler, die in ihrer Wehleidigkeit hauptsächlich vermeiden wollen, mit langem Atem an sich selbst zu arbeiten. Es muss also zunächst Tacheles geredet werden: Der Lehrende stellt deutlich die Schwächen heraus, aber auch die Stärken, denn ganz ohne positive Rückmeldung tut sich der Mensch schwer, sich neu zu motivieren! Wichtig ist es außerdem, klar zu machen, was zentrale Punkte sind und welche Fehler zwar ärgerlich, aber doch eher nebensächlich sind. Perfektionswahn ist auch bei der Vermeidung von Fehlern eher schädlich. Wir übersehen dabei natürlich nicht, dass es elementare Lerninhalte gibt, die man nicht halt so ungefähr oder nach langem Nachdenken, im zweiten Anlauf, zusammenbringt. Das Einmaleins ist rasch und selbstverständlich abrufbar. Vor allem Mathematik und die Fremdsprachen rächen sich unerbittlich, wenn Grundlagen fehlen. Diese alten Sünden werfen spätestens den Neuntoder Zehntklässler dann immer wieder zurück und sind nur mühsam aufzuarbeiten. Sollten Sie Kinder in diesem Alter haben, wissen Sie wahrscheinlich, wovon ich rede, den nachrückenden wird es kaum erspart bleiben. Die Pubertät lässt grüßen. Um noch einmal auf den Perfektionswahn zurück zu kommen: Als Deutschlehrer darf ich Ihnen versichern, dass

grammatikalische und stilistische Fehler weit gravierender sind als Rechtschreibfehler, die leider den Vorzug haben, so herrlich eindeutig und leicht korrigierbar zu sein! Bei der Aufarbeitung von Fehlern muss ohne Wenn und Aber die Gewissheit stehen: Wer Fehler macht, ist deswegen kein schlechter, minderwertiger Mensch! Humanes Lernen findet in einem angst- und herrschaftsfreien Raum statt. Ein Teil der Offenheit kann durchaus auch darin bestehen, dass der Lehrende selbstkritisch seinen Anteil an den Fehlern seiner Schüler ermittelt! Denn die alte Unteroffiziersschelte: Können Se nich, oder wollen Se nich? trifft bei einem Misserfolg oft nur einen Teil der Ursachen Der gute Lehrer ärgert sich über die Fünf seines Schülers mindestens ebenso heftig wie dieser selbst und er geht in sich und treibt auch bei sich Ursachenforschung. Und unter uns gesagt: Es gibt amtliche und stille Wege Mängel auf dieser Seite auszugleichen.. Kunstfehler gibt es nicht nur in der Medizin und können meist repariert werden. Sollten Sie als Eltern hier einmal Gesprächsbedarf sehen, so suchen Sie zunächst das Gespräch mit dem betreffenden Lehrer und, wenn angezeigt, mit dem Schulleiter. Fairness gilt für alle Seiten. Ich halte es darüber hinaus für sehr wünschenswert und für eine humane Einstellung, wenn Lehrer und Eltern vor ihren Kindern eigene Fehler zugeben und vorbildhaft Konsequenzen daraus ziehen können. Scheinbare Unangreifbarkeit schafft Kälte und Angst; wer Fehler zugibt, verliert nicht automatisch an Autorität, sondern der, der permanent Fehler vertuscht. Vom ängstlichen Fehler Vermeiden nun jedoch zum spielerischen, lustvollen Fehlermachen. Ohne Fehler, ohne riskantes Ausprobieren, funktioniert selbstständiges, wirksames Lernen nicht! Wer etwas Neues lernen will, begibt sich immer als Entdecker in eine Terra incognita. Er orientiert sich zur Sicherheit eine Zeitlang noch am Altvertrauten, wird aber auch im richtigen Augenblick loslassen müssen da sind Irrwege, Fehler, das Natürlichste, und ein guter Lernbegleiter in dieses Neuland macht Mut, verhindert das Gefühl der Blamage, er erwartet sogar Fehler, denn er kennt die Klippen aus Erfahrung mit anderen und aus seiner eigenen Lernzeit. Manchmal provoziert er sogar intelligente Fehler, bedankt sich dafür, denn diese kann er aufnehmen, er deutet Auswege an, hilft nicht zu früh, nimmt sich Zeit für Umwege. Er stärkt das Selbstbewusstsein der Lernenden hin zum spielerischen Fehlermachen, zum Herumspielen, zum Suchen von neuen Lösungen, die teilweise auf Altem fußen, teilweise den Schritt ins Ungewisse brauchen. Ein Beispiel aus der Praxis: Ich gewähre bei Diktaten den Schülern immer einen so genannten Joker-Fehler, d.h., man darf ein beliebiges Wort unterstreichen: Ist es falsch geschrieben, zählt es trotzdem nicht als Fehler. Das bringt die Schüler zum genaueren Hinsehen und zu der Überlegung, wo ihre größte Unsicherheit besteht mancher Fehler wird im Vorfeld dadurch schon entlarvt! Bleibt immer noch das entspannende Gefühl, sich einen Fehler leisten zu können. In ähnlicher Weise bewerten manche Kollegen originelle, unkonventionelle Lösungen mit Extra- Pluspunkten, um das Risiko abzufedern, wenn der Schüler an anderer Stelle sich mit seiner gewagten Lösung auch einmal vergaloppiert hat. Die meisten Menschen können nicht eher schwimmen, als bis sie es können. Mit diesem Bild hat Novalis die Blockade umschrieben, die Fortschritt hindert Neues war und ist riskant, steht es doch im Widerspruch zum bewährten Alten. Aus intelligenten Fehlern von heute kann das Hilfreiche von morgen entstehen. Ein berühmtes Beispiel: Eine Erfindung besteht aus zwei Teilen: der Idee und ihrer Ausführung. Wie entsteht die Idee? Mag sein, dass sie manchmal blitzartig auftaucht, meistens wird sie sich aber durch mühevolles Suchen aus zahllosen Irrtümern langsam herausschälen, sich allmählich durch Vergleiche, Ausscheiden des Wichtigen vom Unwichtigen, mit immer größerer Deutlichkeit dem Bewusstsein aufdrängen, bis sie endlich klar vom Geiste geschaut wird. Die Idee selbst

entsteht dabei weder durch Theorie, noch durch Deduktion, sondern intuitiv. Die Wissenschaft ist bloß Hilfsmittel zum Suchen, zum Prüfen, aber nicht Schöpferin des Gedankens. (aus Rudolf Diesel: Die Entstehung des Dieselmotors) Das Wagnis des Schöpferischen Augenblicks verkörperte bei den Griechen der Gott Kairos wer ihn sich ansehen will ein Bild hängt bei mir im Rektorat: Er ist immer auf dem Sprung man muss ihn am Schopf packen, sonst entwischt er! In einer guten Schule lernen wir, mutig und fröhlich Fehler zu machen, dabei Neues zu entdecken und dennoch bescheiden zu bleiben. Für die Kleingläubigen unter uns hier zum Schluss die Lehre eines Rabbis: Sage nicht, dass es schwer ist; sonst tust du nichts! Fang mit der Arbeit an! Du wirst sie nicht zu Ende bringen; aber du darfst dich ihr nicht entziehen, weil du dir deiner Schwäche bewusst bist. Du kannst dem Gebot auch Folge leisten auch durch dein Stolpern, deine Irrtümer aber nicht durch dein Zögern.