Ausgabe 22/07 Das Weltwoche-Gespräch Ali Allawi «Der Aufstand wird nie besiegt» Hanspeter Born



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Transkript:

Ausgabe 22/07 Das Weltwoche-Gespräch Ali Allawi «Der Aufstand wird nie besiegt» Hanspeter Born Die Lage im Irak ist schlimmer als vor vier Jahren. Ohne den Iran werden die Amerikaner das Land nicht beruhigen können. Selbst dann wird es lange dauern, bis wieder Ruhe herrscht, sagt der ehemalige irakische Finanzminister Ali Allawi. Herr Allawi, Meldungen aus dem Irak sind widersprüchlich. Einerseits liest man, der «Surge», also die massive Verstärkung der amerikanischen Truppen, sei gescheitert. Der Journalist Patrick Cockburn berichtet, wie die Aufständischen innert einer Woche drei Brücken sprengten. Das ist sein Job. Er ist ein Reporter. Er beschreibt, was er sieht, und macht dann gewisse voraussagende Annahmen. Andererseits schilderte Iraks Aussenminister kürzlich, wie sich an einem Feiertag in Bagdad lange Autoschlangen bildeten, weil die Leute zu Fussballspielen oder zu Rummelplätzen fahren. Wem soll man glauben, dem Reporter oder dem Aussenminister? Ich würde sagen, beide Darstellungen sind wahr. Es kommt darauf an, worauf man schaut. Einerseits kann man die Dinge nach der Sicherheitslage, der Zahl der Getöteten, der Hartnäckigkeit der politischen Probleme beurteilen. Andererseits müssen die Leute mit ihrem Leben weitermachen. Bagdad ist eine Stadt von 6,7 Millionen Einwohnern und selbst unter schlimmsten Bedingungen würde man annehmen, dass die Leute ausgehen und ihren täglichen Geschäften nachgehen. Ich war in Beirut zur Zeit des libanesischen Bürgerkriegs, und da hatte man nebeneinander Szenen völliger Normalität und Szenen extremer Gewalt. Wenn man die heutige Lage mit derjenigen von 2004 vergleicht, hat sie sich verschlimmert? Sie ist viel schlimmer geworden. Es gibt keinen Vergleich. Die Lage verschlechterte sich schon 2004/2005 entscheidend, als der Aufstand sich ausbreitete. Als ich Minister war, wurde klar, dass es von einem Sicherheitsstandpunkt aus bergab ging. Realisierten die Amerikaner dies? Nein, sie wollten es nicht wahrhaben. Und die irakische Regierung? Die irakische Regierung war nicht in der Lage, die Ereignisse zu beeinflussen. Bis vor kurzem verfügte die Regierung über keine Sicherheitskräfte, sie konnte bloss im Dunkeln pfeifen. In unseren Diskussionen im Kabinett kam die Sicherheitslage kaum zur Sprache, weil wir wussten, dass die Amerikaner für Sicherheit zuständig waren. Heute ist dies natürlich anders. Stellen Sie seit Beginn des «Surge» Fortschritte bezüglich der Sicherheitslage

fest? Kommt darauf an, was man unter Fortschritt versteht. Es gibt verschiedene Ebenen des Konflikts, und für jede gibt es einen eigenen Massstab. Man kann gesamthaft das Machtgleichgewicht zwischen den Koalitionsstreitkräften und den Aufständischen beziehungsweise al-qaida vergleichen. Oder man kann die Kämpfe zwischen den Milizen die konfessionellen Kämpfe betrachten oder die Kämpfe um die Herrschaft in einzelnen Provinzen oder Städten. Wie steht es mit dem Kampf zwischen Koalitions- und Regierungsstreitkräften einerseits, den Aufständischen und al-qaida andererseits? Hier kann man bestenfalls von einem Patt reden. In Bagdad ist der von den Aufständischen und al-qaida verursachte Schaden zurückgegangen. Der Grund dafür ist teilweise der «Surge», teilweise dass viele der Quartiere, in denen es Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten gab, einfarbig, das heisst entweder schiitisch oder sunnitisch, geworden sind und deshalb die Gewalt automatisch zurückging. Von den einst gemischten Quartieren in Bagdad, die heute entweder ganz schiitisch oder, in geringerem Ausmass, sunnitisch geworden sind, kann man sagen, dass sie heute ziemlich stabil sind. In einem gewissen Sinn ist es eine Stabilität des Friedhofs. Bis zu einem gewissen Grad ist die Gewalt jetzt in andere Provinzen exportiert worden. In der Provinz Diyala ist die Macht der Aufständischen/al-Qaida stark angewachsen. In der Provinz Anbar andererseits ist al-qaida unter Druck geraten, und zwar von Seiten von Stammesmilizen, die sich mit den USA, (jedoch nicht mit der irakischen Regierung) verbündet haben. Die sektiererischen Morde sind also in Bagdad zurückgegangen? Ja, natürlich, weil eben viele Quartiere Bagdads «einfarbig» geworden sind. Durch ethnische Säuberungen, wie dies in Jugoslawien der Fall war? Das Endergebnis ist dasselbe: Viele Leute sind weggegangen oder wurden vertrieben. Aber man kann nicht sagen, dass die Regierung oder paramilitärische Verbände in eine systematische Kampagne ethnischer Säuberung verwickelt waren. Sind die Eliten weggezogen? Verschiedene Eliten haben den Irak verlassen. Die erste Gruppe war unsere, die nach der Machtübernahme der Baath-Partei wegzog. Eine zweite Gruppe, bestehend aus oberen Beamten und Agenten des Regimes, setzte sich in den ersten Monaten nach dem Krieg, teils schon vor dem Krieg, ab. Nachher umfasste der Exodus immer weitere Kreise Freiberufliche, Akademiker, Geschäftsleute, die aus Angst vor Entführung flohen. Jetzt haben wir ein erhebliches Flüchtlingsproblem in den Nachbarländern und im Land selber. Zwei Millionen? Ich glaube, die Zahl ist richtig. Ich habe vor zwei Tagen den Leiter des Irakischen Roten Halbmonds getroffen, der die Zahl bestätigt hat. Möchten Sie Tee? Gerne. Es heisst immer, Öl sei das Fundament des Iraks (lacht), aber eigentlich ist es Tee. Ohne Tee hätten wir eine wirkliche Revolution. Die Regierung liefert Tee für die ganze Bevölkerung, die ihn mit Rationscoupons gratis bezieht. Sie gibt für die Einfuhr von Tee im Jahr 150 Millionen Dollar aus.

Die Amerikaner drängen darauf, dass das irakische Parlament endlich zwei Gesetze, eines über die Verteilung des Ölreichtums, das andere über die «Entbaathifizierung» verabschiedet. Wieso geschieht dies nicht? Alles ist nicht so einfach. Eines der Probleme, die wir in der Vergangenheit hatten, bestand darin, dass man die Komplexität der irakischen Politik unterschätzte. Man sah die Dinge vereinfacht und nicht in ihren Zusammenhängen. Man sprach von Meilensteinen, die im politischen Prozess erreicht werden sollten. Das Schlussergebnis sollte dann ein stabiler Endzustand sein. Dies ist Quatsch. Es handelte sich um eine grobe Vereinfachung, die bezweckte, der westlichen öffentlichen Meinung ein verständliches Paket zu präsentieren und die Aufmerksamkeit der Medien auf diese sogenannten Erfolge zu lenken. Das Problem im Irak liegt nicht darin, wie die Einkünfte zwischen den Provinzen verteilt werden, sondern es geht ganz einfach um Macht. Es geht um elementare Fragen von Macht, Prestige und Privileg. Man kann das bestmögliche Ölgesetz haben, aber solange man nicht die politische Machtfrage löst, bleibt dieses Gesetz ein blosser Meilenstein. Ist es vorstellbar, dass die Macht schliesslich geteilt wird, wie dies die verfeindeten Parteien in Nordirland heute tun? In Irland brauchten sie dreissig Jahre, um so weit zu kommen. Ich will nicht sagen, dass es im Irak dreissig Jahre dauern wird, aber es wird lange dauern, bis eine neue Ordnung einen gewissen Grad des Gleichgewichts erreicht. Im Moment versuchen die Vereinigten Staaten ein solches Gleichgewicht zu erzwingen, indem sie eine Blaupause vorlegen für das, was sie für einen stabilen Endzustand halten. Aber diese Blaupause deckt sich nicht unbedingt mit der innerirakischen politischen Dynamik. Wo liegt der Kern des Problems? So wie ich es sehe, hat der Krieg sowohl im Irak wie in der Region tektonische Veränderungen gebracht. Bis diese Dinge sich aussortieren und eine neue Dynamik entsteht, wird es nicht viel Stabilität geben. Natürlich können die USA mit ihrer militärischen Macht und ihren finanziellen Mitteln sehr viel bewirken, aber sie müssen sich zuerst einmal über die Folgen dessen, was sie entfesselt haben, klarwerden. Vorher wird man keinen stabilen Endzustand erreichen. Man wird vielleicht weniger Gewalt haben, was gut ist, aber früher oder später muss man die Grundsatzfragen lösen. Und die sind? Die wichtigste dieser Fragen ist meiner Meinung nach die Ermächtigung («empowerment») der Schiiten. Dies ist ein wahrhaft historisches Ereignis. Die andere, vielleicht weniger offensichtliche, aber für Länder wie die Türkei wichtige Frage betrifft die Kurden. Diese beiden Ereignisse die Stärkung der Schiiten und der Kurden haben den Irak und das Bild des Iraks verschoben: Aus einem arabischen (sunnitischen) Staat, der ein Teil des arabischen Heimatlandes was immer dies auch heissen mag war, wurde etwas völlig anderes. Wie man mit diesem «völlig Anderen» umgehen soll, weiss man nicht recht. Saudi-Arabien weiss es nicht recht und Syrien auch nicht. Erfreulicher sieht die Lage aus iranischer Sicht aus. Das einzige Land in der Region, das die Entwicklung begrüsst, ist der Iran. Die Iraner sehen schiitisch-islamistische Parteien, die eine schiitische Regierung dominieren.

Diese Regierung steht dem Iran nahe, auch wenn sie ihm nicht gerade hörig ist. Was sagt die arabische Welt zur Annäherung zwischen Bagdad und Teheran? Was auch immer das Saddam-Regime darstellte, es war immer noch Teil einer sunnitisch-arabischen Vorherrschaft, ein Bollwerk gegen iranische Ambitionen. Dies hat sich verschoben. Wie sie mit der Verschiebung zurechtkommen, ist für die arabischen Staaten ein sehr heikles Thema. Die Saudis wollen mit einer schiitischen Regierung in Bagdad immer noch nichts zu tun haben. Gewöhnlich pflegen die Saudis solche Probleme mit Geld zu regeln. Aber jetzt gibt es ein anderes Land [Iran], das auch bereit ist zu zahlen. Die Saudis haben aufgehört zu versuchen, die schiitischislamistischen Parteien zu untergraben was ihr normaler Stil ist. Aber sie finanzieren weiterhin die Aufständischen. Träumen die Saudis immer noch davon, die Al-Maliki-Regierung durch eine Koalition von weltlichen Schiiten, Sunniten und Kurden, eventuell unter Führung Ihres Cousins Ayad Allawi, zu ersetzen? Die Saudis unterstützen jetzt dieses Projekt. Sie hätten es vor zwei Jahren tun sollen. Wenn die Sunniten 2004, statt die Wahlen zu boykottieren, taktisch für Ayad Allawi gestimmt hätten, hätte dieser gute Chancen gehabt, Premierminister zu werden und die Ausgestaltung der Verfassung zu beeinflussen. Heute sind die Saudis reuig, dass sie die Chance verpassten, und versuchen die Idee neu aufleben zu lassen. Die Stimmung hat jedoch geändert. Der Zeitgeist hat geändert. Verkörpert Premier al-maliki den Zeitgeist? Nein, das tut er nicht. Aber der Zeitgeist ist schiitisch. Ajatollah Sistani als Zeitgeist? Bis zu einem gewissen Grad. Es geht über einzelne Personen hinaus. Trotz ihrer früheren Konflikte und persönlichen Gegensätze sind die schiitisch-islamistischen Parteien entschlossen, die Kontrolle über den irakischen Staat nicht wieder abzugeben. Ich selber bin nicht der Auffassung, dass die Schiiten als Schiiten politische Macht ausüben sollten, weil dies in einem multikonfessionellen Staat ein unsinniges politisches Programm ist. Welches ist in Ihren Augen eine ideale Lösung für alle Volksgruppen? Meine ideale Lösung wäre eine solche, die es den konfessionell oder ethnisch abgestützten Parteien verunmöglichen würde, zentrale politische Macht zu erlangen. Man hätte dies durch verschiedene Wahlmechanismen erreichen können. Aber nachdem diese Aussicht immer mehr schwindet, sollte man einen Staat aufbauen, der auf sehr mächtigen Institutionen beruht, die sich jeder Tendenz zum Konfessionalismus entgegenstellen. Wäre die Armee eine solche Institution? Nein, nicht die Armee. Unter diesen Institutionen verstehe ich mächtige Gerichte oder mächtige Kommissionen. Damit der Aufbau solcher Institutionen gelingen kann, muss er von der «maraji», der schiitischen Hierarchie in Nadschaf, gefördert werden. Wenn sie dies nicht tut, dann werden wir einen konfessionsgebundenen Staat kriegen. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie die alten wirtschaftlichen und menschlichen Kontakte zwischen dem Irak und dem Iran, die von Saddam Hussein während

dreier Jahrzehnte gekappt worden waren, jetzt wieder aufleben. Ist nicht denkbar, dass auch in Bagdad die Volksgruppen dereinst wieder zusammenkommen? Es ist möglich. Die alten Mittelschichten hatten bis zu einem gewissen Grad den konfessionellen Graben überwunden nicht ganz, wie sie behaupten, aber sie hatten andere Loyalitäten als bloss diejenige zur eigenen Glaubensrichtung. Die Mittelklasse war in einem gewissen Sinn postkonfessionell. Dies ist Vergangenheit. In den letzten Monaten hat sich eine kaum beachtete soziale Revolution abgespielt. Die alten Eliten sind durch andere Klassen abgelöst worden. Repräsentiert durch Leute wie Moktada al-sadr? Nicht nur al-sadr. Es handelt sich allgemein um eine andere Art von Leuten, die mit andern Wahrnehmungen und anderen kulturellen Werten aufwuchsen. Diese Leute sind viel weniger modernisiert und viel weniger verwestlicht. Viel weniger tolerant auch, weil sie selber Intoleranz und Brutalität ausgesetzt waren. Während zweier Generationen wurden ihre Führer verfolgt, und sie erlitten einen katastrophalen Einbruch in ihrem Lebensniveau. Solche Umstände produzierten andere Mentalitäten und Loyalitäten als bei der alten Mittelklasse. Es war eine soziale Revolution. Man sieht dies an der Art von Leuten, die jetzt in der Regierung sitzen. Nur wenige haben Kontakt zu ihren weltoffeneren Kollegen. Für Sie, Herr Allawi, kann dies nicht sehr ermutigend sein. Nein. Aber dies bedeutet nicht, dass man uns, das heisst die alten liberalen Klassen, diskriminieren wird. Jetzt muss man warten, bis sich der Staub legt, um einen Ausweg zu sehen. Das Volk ist nicht instinktiv demokratisch, nicht instinktiv liberal und hat eine Serie von ungeheuer traumatischen Ereignissen über sich ergehen lassen müssen. Waren Sie für eine Entfernung Saddams von der Macht? Gewiss. Aber ich war gegen eine Invasion. Hatte man zuvor nicht alles andere versucht, um ihn loszuwerden? Nicht systematisch. Das Sanktionsregime war nicht darauf ausgerichtet, die Regierung zu untergraben. Und die irakische Opposition war nicht in der Lage, aus eigener Kraft ohne aktive Mithilfe der USA Saddam von der Macht zu entfernen. Die Armee hat es erfolglos mit verschiedenen Coups versucht. Es war ein Spiel mit sehr hohem Risiko und wenig Chancen, wenn man bedenkt, dass es unter Saddam acht oder neun Geheimdienste gab. Vielleicht wäre der beste Ausgang gewesen, dass eine Generationenablösung einen ähnlichen Wandel wie im Libyen Gaddafis bewirkt hätte. In den neunziger Jahren versuchten die Amerikaner, die Opposition militärisch aufzubauen oder einen Umsturz zu provozieren. All dies geschah halbherzig. Nach zwei missglückten Versuchen zog sich die Clinton- Administration auf eine Eindämmungspolitik zurück, an die sich auch die Bush- Administration bis zum 11. 9. 2001 hielt. 9/11 veränderte die Lage dramatisch. Zu diesem Zeitpunkt hätte eine verantwortlich handelnde irakische Opposition klarmachen müssen, unter welchen Bedingungen sie beim Sturz des Regimes mitwirken würde. Sie hätte eine andere Rolle spielen können als bloss diejenige eines Spielverderbers. Politische Rivalitäten kamen dazwischen. Jeder betrachtete die Lage aus seiner eigenen engen Interessensicht. So hatte die Opposition sehr wenig Input. Wie die Amerikaner hatte auch die irakische Opposition keine Pläne für den Irak nach

dem Krieg. Weil sie unter sich zerstritten und schwach war, folgte sie einfach den Amerikanern. Ich glaube, die Amerikaner hätten hingehört, wenn die Opposition mit einer einigen und starken Stimme gesprochen hätte. Geht es den Leuten im Irak heute besser oder schlechter als unter Saddam? Mit dieser Frage ringe ich jeden Tag. Wir sind jetzt nicht mehr im April 2003, sondern im Mai 2007, vier Jahre später. Als das Regime gestürzt wurde, gab es unter den Irakern ziemlich viel guten Willen. Die Leute hofften auf einen Neuanfang. Wenn man im Sommer 2003 eine Meinungsumfrage gemacht hätte, hätten die Iraker geantwortet: Ja, es geht uns besser. Damals hatten die Amerikaner noch nicht so enorme Fehler gemacht, und die irakische politische Klasse hatte ihre wahre Unfähigkeit noch nicht gezeigt. Vier Jahre später ist die Lage für viele Leute unendlich schlimmer nicht zu reden von den 200 000 bis 300 000, die getötet wurden, aber für gewisse Gruppen ist sie tatsächlich besser. Die Schiiten in ihrer Gesamtheit möchten gewiss das Rad nicht zurückdrehen. Die Kurden sind zweifellos zufrieden mit dem Ausgang. Die Sunniten lehnen mehrheitlich ab, was geschehen ist. Ich würde sagen, die meisten Leute sind mit den Folgen der Invasion unzufrieden und hätten, wenn sie die Wahl gehabt hätten, die «Gaddafi-Route» vorgezogen. Hat der Iran heute ein echtes Interesse an der Stabilisierung der Lage im Irak? Ich glaube schon. Die Iraner haben widersprüchliche scheinbar widersprüchliche Zielvorstellungen. Die Präsenz der USA im Irak bedeutet eine offensichtliche Gefahr für sie, und sie möchten diese beseitigen. Andererseits wollen sie die Regierung im Irak stärken. Dort sind jetzt ihre Freunde an der Macht. Gleichzeitig wird diese Regierung von den USA gestützt. Wenn die Amerikaner akzeptieren, dass der Iran im Irak seine Interessen verfolgt und auch Gewinne gemacht hat, sind die Iraner heute so weit, dass sie dies entgelten werden. Sie können dies tun, indem sie helfen werden, mindestens den schiitischen Teil des Iraks zu stabilisieren und den Amerikanern zu erlauben, den Rückzugsprozess mindestens zu beginnen. Dies ist der einzige Weg vorwärts. Wenn dies geschieht, kann dann auch der sunnitische Aufstand besiegt werden? Ich glaube nicht, dass der Aufstand je besiegt wird. Nicht wie in einem Bürgerkrieg, in dem eine Partei gewinnt und die andere verliert. Aber der Aufstand wird ein Ende nehmen? Ja, aber nicht notwendigerweise, indem die Zentralregierung ihre Amtsgewalt auf das ganze sunnitische Territorium ausdehnt. Er wird damit enden, dass die schiitische Zentralregierung akzeptiert, dass sie nicht imstande ist, das Gebiet zu beherrschen, und deshalb Befugnisse abgibt. Ich glaube, dies wird geschehen. Die Zentralregierung wird zwar ihre finanziellen Verpflichtungen für das sunnitische Gebiet weiter wahrnehmen, aber die Verantwortung für die Sicherheit abgeben. Sie wird dort eine oder zwei Divisionen stationieren, die nominell der irakischen Armee angehören, aber im Wesentlichen lokal rekrutiert worden sind und die dort für die Aufrechterhaltung des Friedens sorgen werden. Tönt vernünftig. Wieso geschieht es nicht? Wir haben unter den Aufständischen drei Kategorien. Erstens die Elemente des früheren Regimes in all seinen Erscheinungsformen Partei, Geheimdienste, Republikanische Garden. Die zweite Kategorie sind die Stämme. Beide Kategorien

profitierten sehr stark vom Saddam-Regime. Eine neue Kategorie ist das salafistischislamistische Element, zu dem al-qaida gehört. Gegenwärtig ist al-qaida für die meisten Anschläge und Tötungen verantwortlich. Eine Zentralregierung kann regionale Macht vielleicht an die beiden ersten Kategorien abgeben und darauf hoffen, dass diese beiden den Kern einer neuen Ordnung im sunnitisch-arabischen Herzland bilden. Diese neue Ordnung würde dann wohl mit der Hilfe der Zentralregierung oder der Amerikaner imstande sein, al-qaida loszuwerden. Dies ist ein durchführbarer Plan, der voraussetzt, dass die ehemaligen Regimeleute und die Stämme akzeptieren, dass sie nie wieder das Land regieren werden. Dies haben sie noch nicht getan. Wie überzeugt man diese sunnitischen Elemente, dass sie einlenken sollten? Man muss ihnen Zeit lassen. Wenn Sie mich fragen, wie der Irak in fünf Jahren aussieht, werde ich Ihnen sagen: Nicht viel anders als heute. In zehn Jahren? Das ist etwas anderes. Wenn niemand etwas unternimmt, um die Dynamik, die auf eine konfessionsgebundene schiitische Regierung hinsteuert, zu stoppen, dann wird sich die Lage so entwickeln, dass es eine Zentralregierung geben wird, die vorgibt, für den ganzen Irak zu sprechen, aber in Wirklichkeit ihre Amtsgewalt nur im Süden und in den meisten Quartieren von Bagdad ausüben kann. Die Kurdistan-Region wird in einer Art strategischer Allianz dieser Zentralregierung angegliedert sein, während die sunnitisch-arabischen Provinzen auf die Dauer ihre eigenen internen Mechanismen entwickeln und ständig mit der Zentralregierung über Geld und Ressourcen streiten werden. Kein gutes Ergebnis, aber besser als keines. Und die Amerikaner? Ich glaube, die Amerikaner werden ihre Truppen auf einen Drittel oder einen Viertel des gegenwärtigen Bestands reduzieren und sie auf fünf oder sechs Stützpunkten hauptsächlich im Norden und Westen des Landes zusammenziehen, wo ihre Aufgabe die Bekämpfung von al-qaida sein wird. (c) 2007 by Die Weltwoche, Zürich - E-mail: webmaster@weltwoche.ch