Sozialmedizin und ADHS Ressourcenorientierung oder Problemzentrierung?

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Sozialmedizin und ADHS Ressourcenorientierung oder Problemzentrierung? Ringvorlesung Kinder stark machen! Ressourcen, Resilienz, Respekt Nicola Wolf-Kühn 1

Wichtigste ätiologische Theorien zu ADHS Mainstream-Modell: genetisch bedingte neuropsychologische Störung Durch negative Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit bedingte psychische Störung ADHS Erziehungs- und Schulbedingte Verhaltensprobleme Aufmerksamkeitsdefizitkultur

Gliederung: Einführung Mainstream-Hypothese Gesellschaftlicher Kontext: Medikalisierung Alternative Erklärungen Fazit und Diskussion

ADHS - Störungsbild Problematisches nervendes Verhalten mit den Leitsymptomen Unaufmerksamkeit Motorische Unruhe Impulsivität Gestörte soziale Beziehungen (Familie, Gleichaltrige, Kita, Schule) Lernschwierigkeiten -> Schlechtere Schulleistungen -> Sonderschule Delinquenz u.a. 4

ADHS - Diagnosekriterien (1) Unaufmerksamkeit: Es bestehen mindestens sechs Monate lang und mit mindestens sechs der folgenden Symptome, in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder: 1. sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder machen Sorgfaltsfehler bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten und Aktivitäten 2. sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten 3. hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird 4. können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen (nicht wegen oppositionellen Verhaltens oder weil die Erklärungen nicht verstanden werden) 5. sind häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren 6. vermeiden häufig ungeliebte Arbeiten, wie Hausaufgaben, die geistiges Durchhaltevermögen erfordern 7. verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben wichtig sind, z. B. für Schularbeiten, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und Werkzeuge 8. werden häufig von externen Stimuli abgelenkt 9. sind im Verlauf der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich.

Überaktivität: ADHS Diagnosekriterien (2) Es bestehen mindestens sechs Monate lang und mit mindestens drei der folgenden Symptome, in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder: 1. fuchteln häufig mit Händen und Füßen oder winden sich auf den Sitzen 2. verlassen ihren Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird 3. laufen häufig herum oder klettern exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen und Erwachsenen entspricht dem nur ein Unruhegefühl) 4. sind häufig unnötig laut beim Spielen oder haben Schwierigkeiten bei leisen Freizeitbeschäftigungen 5. zeigen ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivitäten, die durch den sozialen Kontext oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar sind.

Impulsivität: ADHS - Diagnosekriterien (4) Es bestehen mindestens sechs Monate lang und mit mindestens einem der folgenden Symptome, in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder: 1. platzen häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist 2. können häufig nicht in einer Reihe warten oder warten, bis sie bei Spielen oder in Gruppensituationen an die Reihe kommen 3. unterbrechen und stören andere häufig (z. B. mischen sie sich ins Gespräch oder Spiel anderer ein) 4. reden häufig exzessiv ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren

8

ADHS Diagnose ohne Subjekt Basiert auf der Beschreibung von Verhaltensauffälligkeiten Cut-off-Punkt für Störung willkürlich Keine Berücksichtigung des soziokulturellen, schulischen und familiären Kontextes Keine Berücksichtigung von Biographie und Temperament 9

Soziale Determinanten der Kindergesundheit "Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben.. (Ottawa-Charta, WHO 1986) Lebenswelten der Kinder: Familie Kita Schule Peer-Group Wohnumfeld, Gemeinde..

KIGGS-Studie: Psychische Auffälligkeiten

Risikofaktoren für kindliche Entwicklungsstörungen (Family Adversity Index, nach Rutter % Quinton 1977, Becker u.a. 2004) - Niedriges Bildungsniveau - Schlechte materielle Situation - Schlechte Alltagsbewältigung - Eigene Mangelerfahrungen in der Kindheit der Eltern - Psychische Störungen der Eltern - Unglückliche Partnerschaft der Eltern/chronische Konflikte - Scheidung/Trennung - Ein-Eltern-Familie - Enger Wohnraum - Frühe Elternschaft - Unerwünschte Schwangerschaft - Mangel an sozialer Unterstützung

Belastungen in der Mittelschicht Leistungsdruck der Eltern Konkurrenzförmige Lernkultur Angst vor dem Absturz (Ehrenreich 1992) Entgrenzte Arbeit -> wenig Zeit, Partnerkonflikte 13

Wichtigste ätiologische Theorien zu ADHS Mainstream-Modell: genetisch bedingte neuropsychologische Störung Durch negative Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit bedingte psychische Störung ADHS Erziehungs- und Schulbedingte Verhaltensprobleme Aufmerksamkeitsdefizitkultur

Mainstream-Modell von ADHS (Döpfner 2000) 16

Mainstream-Modell von ADHS: Dopamin-Hypothese 17

ADHS genetisches Defizit?

Gene und psychische Störung Die klare und eindeutige Beziehung, die durch das Konzept das Gen für nahegelegt wird, existiert für psychische Störungen definitiv nicht. Obwohl wir uns das vielleicht wünschen mögen, haben wir keine Gene für psychische Störungen entdeckt und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass dies der Fall sein wird. (Kendler 2005, Übersetzung NWK) Trotz weltweiter Anstrengungen und ungezählten Millionen von Forschungsdollars : Es wurden keine Gene gefunden, die relevante psychische Störungen verursachen. Unglücklicherweise ist aber der Glaube weit verbreitet, solche Gene seien entdeckt worden. (Joseph 2006, Übersetzung NWK) 19

Paradigmenwechsel Genomforschung: Vom Gen zum System

Paradigmenwechsel Genomforschung Vom Gen: Eine funktionelle Einheit der DNA, die die Zusammensetzung eines Proteins bestimmt und von einem Individuum an seine Nachkommen weitergegeben werden kann gene-p ( performationist determinate) -> zum Genon (System): Ergebnis komplexer Regulationsprozesse gene-d ( developmental ressource - indeterminate) Beziehungen zwischen DNA und biologischer Funktion sind viel komplexer als angenommen!

Fazit: Mainstream-Modell von ADHS Ursachenzuschreibung ohne Subjekt und sozialen Kontext: Aus einem Kind mit einer sozioökonomisch bestimmten Lebenslage und damit zusammenhängen Erlebnis- und Beziehungsstruktur wird ein Kind mit einem normierten biologischen Defizit. -> Medizinische und psychologische Therapie ohne Subjekt: Medikamente (Psychostimulantien) Verhaltenstherapie 23

ADHS Therapie mit Psychostimulantien 24

Medikalisierung Prozess, in dem menschliche Lebensprobleme definiert und behandelt werden als Probleme der Medizin 25

ADHS Aspekte der Medikalisierung Soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens Individualisierung sozialer Probleme entwicklungsbehindernde kindliche Lebenswelten müssen nicht in den Blick genommen werden Stattdessen Nachfrage nach Waren Subjektive Entlastung der Eltern 26

Wichtigste ätiologische Theorien zu ADHS Mainstream-Modell: Genetisch bedingte neuropsychologische Störung Durch negative Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit bedingte psychische Störung ADHS Erziehungs- und Schulbedingte Verhaltensprobleme Aufmerksamkeitsdefizitkultur

Stärkung der Eltern ADHS - Soziale Prävention Beschäftigungs- und Einkommenssicherheit gesellschaftliche Teilhabe, humane Arbeitsbedingungen, Zeit Bildung Kindgerechte und gesundheitsförderliche Gestaltung von Kita und Schule Sport- und Bewegungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche Kulturelle Angebote Sicherung der Kinder- und Jugendhilfe Frühintervention in der Kita ( Frankfurter Präventionsstudie ). 28

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 29