Dr. med. Gisela Penteker, Scharhörnweg 1, 21762 Otterndorf Tel 49-4751-2464 Fax 49-4751-909220 e-mail Penteker@t-online.de den 30.9.2012 Türkeibeauftragte des Vorstands Vortrag auf der Fortbildung des NTFN am 6.10.12 im Haus der Region, Hannover, 11-16 Uhr Traumabehandlung in einer gewalttraumatisierten Gesellschaft am Beispiel der Türkei Die Türkei ist für uns ein wichtiges Land, beliebtes Urlaubsland, Natopartner, Herkunftsland von inzwischen fast 3 Millionen Migranten. Städte wie Köln oder auch Berlin werden manchmal als Klein Istanbul bezeichnet. Die Konflikte der türkischen Bevölkerung werden auch auf unseren Straßen ausgetragen. Ich bin mit meiner IPPNW-Arbeitsgruppe Deutschland-Türkei-Kurdistan seit 15 Jahren regelmäßig besonders im Südosten der Türkei unterwegs, aber auch in Istanbul, Izmir und anderen westlichen Städten. Wir haben kontinuierliche Kontakte zu Lokalpolitikern, Ärzten, Anwälten, Gewerkschaftern und Menschenrechtlern. In Deutschland habe ich in erster Linie mit kurdischen Flüchtlingen aus der Türkei zu tun. Die Begegnung mit diesen Menschen hat mich als Allgemeinärztin mit dem Thema Traumastörungen in Berührung gebracht. In der IPPNW-Arbeitsgruppe Flüchtlinge und Asyl haben wir zusammen mit den Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer für die Anerkennung von Traumastörungen als Abschiebehindernis gekämpft und für die Notwendigkeit einer frühzeitigen Identifizierung und Behandlung. So war ich dann auch an der Gründung des NTFN beteiligt. Ich habe in den letzten Jahren viele Stellungnahmen für Gerichte geschrieben über die Behandlungsmöglichkeiten in der Türkei im Fall einer Abschiebung nicht nur für Traumastörungen und habe so viele Flüchtlingsschicksale kennen gelernt.
Der folgende Überblick über die Situation in der Türkei kann natürlich nur kurz und grob sein: Die Türkei ist ein noch junges Land. Sie wurde 1923 von Mustafa Kemal, genannt Atatürk (Vater der Türken) und anderen Offizieren der sogenannten Jungtürken aus den Resten des Osmanischen Reiches gegründet und in ihrer jetzigen Ausdehnung den westlichen Hegemonialmächten abgerungen. Im Zuge dieses sehr schmerzhaften und gewalttätigen Prozesses fanden umfassende ethnische Verschiebungen und Säuberungen statt. So wurde die griechische Bevölkerung aus der Gegend um Izmir (Smyrna) gegen die türkische rund um Tessaloniki ausgetauscht, die Armenier aus dem Osten aber auch aus den großen Städten im Westen wurden fast vollständig vernichtet oder vertrieben, die Kurden wurden als Bergtürken einem massiven Assimilierungsdruck ausgesetzt. Religiöse Minderheiten wie Alewiten, syrisch orthodoxe Christen und Jeziden wurden verfolgt. Glücklich ist, wer sich Türke nennen kann Dieser Slogan ist überall auch in die kurdischen Berge geschrieben. Der Kemalismus mit den Säulen: eine Nation, ein Volk, eine Fahne, eine Sprache war lange Staatsdoktrin und der Laizismus, die Trennung zwischen Staat und Religion. Die Regierung ist zentralistisch. Es gibt ein großes Gefälle zwischen den modernen, westlich ausgerichteten, großen Städten im Westen und armen archaischen Lebensbedingungen im Osten. Die Macht war in der Hand des Militärs. Die Regierungen waren meist schwach und korrupt. Vor allem
die Kurden im Südosten des Landes und die Alewiten rund um Dersim wehrten sich gegen die Assimilierungsbemühungen der Zentralregierung. eine berühmt-berüchtigte Stelle am Munzurfluss in Dersim/Tunceli. Dort haben sich hunderte Alewiten auf ihrer Flucht vor dem türkischen Militär in den Fluss gestürzt. Trotz seiner NATO Mitgliedschaft und offiziell westlichen Ausrichtung war die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei schwach und von einer hohen Inflation geprägt. 1980 putschte das Militär, vor allem, um die Einheit des Staates zu sichern. In der Folge wurde alle Opposition grausam unterdrückt, die Gesellschaft gleich geschaltet. Hunderttausende wurden getötet, verschwanden für Jahre im Gefängnis oder wurden vertrieben. Seit 1982 kämpft die PKK als Befreiungsarmee, Guerilla, Terrororganisation gegen das türkische Militär und zwar sowohl im Südosten, an den Grenzen zum Iran, Irak und Syrien, aber auch im Westen, in den Touristenhochburgen und in der Diaspora. Über weite Teile des kurdischen Siedlungsgebietes wurde der Ausnahmezustand verhängt mit repressiven Sondergesetzen, tausende Dörfer wurden zerstört und ganze Landstriche wurden vermint. Der charismatische PKK-Führer Abdullah Öcalan wurde infolge eines internationalen Komplotts verhaftet und sitzt seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer in Isolationshaft. Ein Bild von Abdulah Öcalan zu zeigen ist verboten. Auf dem Newrozfest, dem Neujahrsfest der Kurden, ist er allgegenwärtig Seit 10 Jahren ist die jetzige islamische Regierung unter Ministerpräsident Erdogan mit einer komfortablen Mehrheit im Amt.
Er war selbst in seiner Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul wegen eines religiösen Zitates, das er in einer politischen Rede verwendete, einige Zeit im Gefängnis. So knüpften sich an seine Amtsübernahme viele Hoffnungen, aber auch ebenso viele Ängste der Kemalisten. Erdogan hat eine geschickte Politik gegenüber dem Westen betrieben. Unter seiner Regierung floriert die Wirtschaft, ist bisher von der gegenwärtigen Finanzkrise wenig betroffen. Er hat die Macht des Militärs eingeschränkt, dafür die Polizei gestärkt, er hat den Ausnahmezustand in den kurdischen Gebieten beendet und manches Tabu aufgeweicht. Bis zu den Kommunalwahlen im Juni 2009 schien sich auch in der kurdischen Frage etwas zu bewegen. Es war von Öffnung und politischer Lösung die Rede, es gab geheime Verhandlungen zwischen Öcalan und der Regierung und zwischen dem Geheimdienst und der PKK. Hohe Generäle wurden wegen eines geplanten Staatskomplotts angeklagt. Nach der Kommunalwahl hat sich das Blatt wieder gewendet. Die AK-Parti des Ministerpräsidenten erhielt nicht die erwartete Mehrheit in den kurdischen Gebieten. In vielen kurdischen Städten wurde die prokurdische Partei BDP stärkste Kraft und stellt die Bürgermeister. Kinder zeigen die Fahne der BDP und das Victory-Zeichen. Osman Baydemir, Oberbürgermeister von Diyarbakir und kurdische Prominenz bei einem Sitzstreik
Trauerflor am Rathaus von SUR, einem Stadtteil von Diyarbakir. Der Bürgermeister war verhaftet und seines Amtes enthoben, weil er mehrsprachige Informationsbroschüren erstellt hat. Seit Dezember 2009 sind viele dieser Bürgermeister, andere Kommunalpolitiker, Gewerkschafter, Menschenrechtler und Journalisten in Haft. Auch viele Kinder und Jugendliche sind im Gefängnis, weil sie Steine gegen Polizisten geworfen oder verbotene Parolen gerufen haben oder nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind. Die PKK hat den jahrelangen einseitigen Waffenstillstand beendet, entlang der Ostgrenzen gibt es täglich Kämpfe, besonders in der Gegend um Hakkari. Unterwegs nach Hakkari Auf der Straße in Hakkari Am Rande einer Demonstration in Diyarbakir
Soviel zu den äußeren Rahmenbedingungen in aller Kürze. Die Menschen sind seit Jahren massiver und willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Fast alle haben Angehörige verloren oder im Gefängnis oder im Exil. Es hat sich in diesen Jahren der Bedrohung eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt, die gegen alle persönliche Gefährdung versucht, humanitär zu helfen und die Lebensbedingungen zu verbessern. 1982, schon kurz nach dem Militärputsch gründeten Anwälte den Menschenrechtsverein IHD. Sie dokumentierten die Menschenrechtsverletzungen bei der Polizei und in den Gefängnissen und boten juristischen Rat. Herr Akbulut, Leiter des Menschenrechtsvereins in Hakkari Da viele ihrer Klienten in einem körperlich und psychisch sehr schlechten Zustand waren, gründeten sie zusammen mit Ärzten die Menschenrechtsstiftung, die sogenannte Rehabilitationszentren in Ankara, Istanbul, Izmir, später in Adana und Diyarbakir betreibt. Auch hier ist ein Schwerpunkt der Arbeit die Dokumentation. So waren insbesondere die Kollegen des Zentrums in Izmir federführend an der Entwicklung des Istanbul-Protokolls beteiligt, eines UN-Dokuments zu Foltermethoden und Erkennung. Ergänzend dazu haben sie einen Folteratlas erstellt. Die Zentren sind über Jahre massiv in ihrer Arbeit behindert worden. Die MitarbeiterInnen standen ständig vor Gericht. Wir waren oft als Beobachter der Prozesse vor Ort. Inzwischen sind sie weitgehend anerkannt und führen zusammen mit den Ärztekammern Schulungen von Polizisten und Ärzten durch. Sebnem Korur Fincanci, Gerichtmedizinerin und Vorsitzende der Menschenrechtsstiftung im Gespräch mit Angelika Claussen von der IPPNW Prof. Veli Lök, Othopäde, TIHV Izmir Unter anderem durch ihre Arbeit ist bekannt, dass und wie in den Gefängnissen und Polizeistationen der Türkei systematisch gefoltert wurde. Man geht von mindestens 1 Million Folteropfer seit 1980 aus. Ministerpräsident Erdogan hat bei seinem Amtsantritt die
Abschaffung der Folter versprochen und hier auch Fortschritte erreicht. Bei den Verhaftungen seit 2009 geht die Polizei allerdings mit großer Brutalität vor. Besonders belastend waren die sogenannten Morde durch unbekannte Täter, denen in den 90er Jahren Tausende zum Opfer gefallen sind. Viele andere verschwanden, ohne dass ihr Schicksal geklärt werden konnte. Die Samstagsmütter erinnern seit Jahren mit stillen Straßenprotesten an die Verschwundenen. Samstagsmütter in Diyarbakir In verschiedenen Landesteilen im Südosten wurden jetzt Sammelgräber entdeckt. Ihre professionelle Öffnung und Untersuchung nach den Erkenntnissen in Südamerika und Bosnien wird jedoch verweigert, eine Identifizierung der Toten und Übergabe an die Verwandten findet nicht statt. und IHD-Vertretern aus Van Besuch an einem Sammelgrab mit Samstagsmüttern Von unserer Arbeit mit Flüchtlingen aus der Türkei hier in Deutschland kennen wir viele schwere Traumastörungen, die durch die Lebensbedingungen im Asylverfahren oft verstärkt werden. Sie werden oft übersehen, weil die Frage des Überlebens und der Anerkennung im Vordergrund steht. Oft werden die psychischen Erkrankungen erst bei drohender Abschiebung akut und dann als unglaubwürdig angesehen. Deutsche Gerichte neigen dazu, eine Behandlung in der Türkei für gegeben zu halten und verweisen dazu auch auf die Behandlungszentren der Menschenrechtsstiftung.
Psychiatrische Erkrankungen sind in der Türkei noch mehr mit tabuisiert als bei uns. Man versucht, in der Familie damit fertig zu werden. In größeren Regierungskrankenhäusern gibt es psychiatrische Abteilungen, in denen ausschließlich kurzzeitige medikamentöse Behandlungen durchgeführt werden. In Istanbul, Izmir und Ankara gibt es auf privater Basis inzwischen einige Psychotherapeuten. Tageskliniken, beschützende Einrichtungen oder ähnliches sind uns nicht bekannt. Auf einer unserer ersten Reisen trafen wir uns mit jungen ÄrztInnen der Ärztekammer in Istanbul. Sie brachten ihre smarten Männer mit zu einem guten Essen in einem schönen Restaurant über den Dächern der Stadt. In unserer Gruppe war eine kurdisch stämmige Psychotherapeutin aus Bayern, die über ihre Arbeit mit kurdischen Flüchtlingen in Deutschland erzählte. Die jungen Männer, Anwälte, Ärzte, Geschäftsleute, hörten aufmerksam zu und berichteten dann ihrerseits von ihren Erfahrungen im Gefängnis und den psychischen Folgen, über die sie niemandem erzählen könnten und für die sie natürlich auch keine Therapie erhielten. Besonders offen sind die Gespräche immer bei den Gewerkschaften. Hier treffen wir engagierte Männer und Frauen, die alle Gefängniserfahrung haben oder über Jahre zwangsversetzt waren. Wir treffen uns oft unter den Bildern der ermordeten Gewerkschaftsmitglieder. Die Galerie der getöteten Vorsitzenden der Gesundheitsgewerkschaft SES in Diarbakir Sie berichten, dass sie den Druck nur aushalten, weil sie in der Gruppe zusammen arbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Über ihre Gefängniserfahrungen reden sie nie. Was sollten sie auch darüber erzählen? Alle haben ähnliche Misshandlungen und Verhältnisse erlebt. Früher hätte man Frauen nach Vergewaltigungen verstoßen, sie hätten gelernt, die Genossinnen nach der Haft wieder einzubinden. Wir haben uns immer gewundert, dass sowohl die Gewerkschaften als auch die Menschenrechtsgruppen in ihren Bemühungen nicht nachlassen und weiter kämpfen. Dieses Jahr haben wir zum ersten Mal gehört, dass viele Gruppen Schwierigkeiten haben, Mitglieder zu finden. Die flächendeckenden Verhaftungen durch die Regierung Erdogan seit Dezember 2009 scheinen Früchte zu tragen. Letztes Jahr waren wir mit Mehmet Desde unterwegs, einem deutschen Kurden, der von 2002 bis 2008 in der Türkei festgehalten wurde weil er einer illegalen kommunistischen Organisation angehören sollte. Er war monatelang im Gefängnis und wurde gefoltert. Er hat
seine Arbeit und seine Familie dabei verloren. Nach seiner Entlassung fand er Hilfe bei der Menschenrechtsstiftung in Izmir, später im Behandlungszentrum in Berlin. Er hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben und sich langsam wieder im Leben zurecht gefunden. Wir trafen einen seiner Zellengenossen in Diyarbakir, dem es sehr schlecht ging. Er hatte sich keine Hilfe gesucht, konnte mit niemandem über seine Erlebnisse sprechen. Wenn er seiner Familie oder seinen Freunden erzählen würde, was man alles im Gefängnis mit ihm gemacht hat, könne er niemandem mehr in die Augen sehen. Einer meiner liebsten Gesprächspartner sitzt auch seit Dezember 2009 im Gefängnis. Der ehemalige Bürgermeister von Viransehir, Emrullah Cin. Als wir zum ersten Mal nach Viransehir kamen, war es ein dreckiges Nest mit aufgeweichten Lehmstraßen und lebensgefährlichen Stromleitungen. An einer Straßenecke standen Männer und warteten, dass jemand sie als Tagelöhner engagiert. Es gab ein herunter gekommenes Regierungskrankenhaus, eine gynäkologische und eine Zahnarztpraxis. Wenige Jahre nachdem die prokurdische Partei mit Bürgermeister Cin regierte, war die Stadt nicht wieder zu erkennen. Trotz der Restriktionen durch die Zentralregierung waren Straßen asphaltiert, eine Kanalisation gebaut, Firmen angesiedelt worden. Er hatte mit Hilfe der Bevölkerung ein Rathaus gebaut als Ort der Begegnung, in dem es Theateraufführungen, Malkurse und Nachhilfe gab. Nun waren sie dabei, ein noch größeres Kulturhaus zu errichten im Stil historischer Bauten aus einer besseren Zeit. Das Kulturzentrum in Nuseybin Sie berufen sich dabei nicht ganz korrekt auf frühere Hochkulturen in der Region, die mit den Kurden relativ wenig zu tun hatten. Es ist aber eine Besinnung auf ihre Kultur und ihre Werte als Gegengewicht zu all den Verletzungen und Demütigungen. Wir haben ähnliche Gebäude in anderen kurdisch regierten Städten gesehen. Immer sind sie wichtige Identifikationspunkte für die Menschen, die sie mit eigenen Mitteln und mit Hilfe der Verwandten im Exil erbauen. Es sind ihre Häuser, sie gehen dort ganz furchtlos ein und aus und nutzen die Angebote.
Meist gibt es dort auch Frauenzentren, in denen Alphabetisierungskurse, Nähkurse und Informationsveranstaltungen zu Gesundheit und Erziehung und zu Frauenrechten angeboten werden und manchmal auch psychologische Hilfe. Emrullah Cin trieb die Sorge um die Jugend, auch um seine Kinder. Er sagte, wir müssen ihnen eine Perspektive bieten. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir gegen die staatlichen Widerstände aus eigener Kraft etwas erreichen können, dass es eine Alternative zum bewaffneten Kampf in den Bergen gibt. Obwohl die Menschen kriegsmüde sind, stecken sie ihre Kinder in Kampfanzüge In Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der Kurden in der Türkei, leben wie in allen Städten die vielen Binnenvertriebenen am Rande der Gesellschaft in großer Armut. Nur wenige schaffen den Sprung in die Mittelschicht. Trotz der allgemeinen Schulpflicht gehen viele Kinder nur selten zur Schule, weil sie zum Unterhalt der Familie beitragen müssen. Sie verkaufen Taschentücher, putzen Schuhe, sitzen mit Personenwaagen auf dem Bürgersteig herum, sammeln Müll, betteln oder stehlen.
Die Kinder schnüffeln Lösungsmittel, Frauen prostituieren sich. Das Klima in den Familien ist voller Gewalt. Ich war mit einer Freundin in der Altstadt unterwegs wie immer mit einer Horde Kinder. Die Sonne schien, die Stimmung war entspannt. Plötzlich riss mir ein größerer Junge auf dem Fahrrad die Kamera aus der Hand und verschwand im Straßengewirr. Obwohl viele Erwachsene vor ihren Häusern saßen, half uns niemand. Niemand hielt den Jungen auf, niemand wollte ihn kennen. Wir gingen zur Polizei um Anzeige zu erstatten. Ein Polizist brachte uns mehrere Ordner voll mit Fotos von polizeibekannten Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 16 Jahren. Er erzählte uns, dass sie in Banden arbeiten und Schläge bekommen, wenn sie nichts erbeuten oder wenn sie sich erwischen lassen. Die Eltern hätten auf diese Kinder schon lange keinen Einfluss und würden sie höchstens verprügeln. Auch von den Politikern und den Frauenorganisationen hören wir, dass es ein großes Problem mit den Straßenkindern gibt. Sie sind es häufig, die bei Demonstrationen Steine auf Polizisten werfen. Sie werden ins Gefängnis geworfen, dort nicht wie es vorgeschrieben istpsychologisch betreut und beschult, sondern gedemütigt und misshandelt. Nach ihrer Entlassung sind sie für die Gesellschaft erst recht verloren. Meist gehen sie zu den Kämpfern in die Berge. Eine zunehmend wichtige Rolle bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Probleme, die aus der jahrelangen Gewalterfahrung resultieren, spielen die Frauenorganisationen. Gerade in den armen ungebildeten Schichten sind die feudalen Strukturen noch sehr ausgeprägt. Auf der anderen Seite können die Männer oft ihre traditionelle Rolle des Ernährers und Beschützers nicht ausfüllen. Häusliche Gewalt ist zwar nicht beschränkt auf arme ungebildete Familien, Armut und Perspektivlosigkeit, unbearbeitete Traumata, Demütigungen und Krankheit sind aber häufige Auslöser.
KAMER hat ausgehend von Diyarbakir inzwischen in den meisten kurdischen Städten Büros und Beratungsstellen eingerichtet. Sie sind die einzigen, die politisch unabhängig vom türkisch-kurdischen Konflikt gegen häusliche Gewalt arbeiten. Sie bieten Frauen konkrete Hilfe an, schulen sie auf verschiedenen Gebieten, arbeiten aber auch mit der Polizei, mit religiösen Führern und mit AnwältInnen. Sie sind international eingebunden und anerkannt und haben es erreicht, dass Vergewaltigung in der Ehe in der Türkei jetzt ein Straftatbestand ist und dass Städte ab einer bestimmten Größe Frauenhäuser einrichten müssen. Sie sorgen dafür, dass mehr Frauen ihre Rechte kennen und einklagen. Frauen zeigen uns stolz ihre Handarbeiten Auch die kommunalen Frauenzentren beraten und schulen Frauen. Dabei entwickeln sie viel Fantasie, wie sie die Frauen aus ihren Häusern, aus ihrer Isolation locken können. So haben sie in der Altstadt von Diyarbakir einen Waschsalon eingerichtet. Dorthin ließen die Männer ihre Frauen ohne Misstrauen gehen, zumal auch die Kinder dort mitbetreut wurden. Auch hier gibt es Kurse und Schulungen und Frauen, die besonders schlecht dran sind, können in psychologische Betreuung vermittelt werden.
Frauenzentrum in einem Stadtteil von Diyarbakir
Der Waschsalon von DIKASSUM in der Altstadt von Diyarbakir Traditioneller Brotbackofen Tandir, ein Treffpunkt für Frauen In einer kollektiven Gesellschaft wie der türkischen sind Traumaerkrankungen noch weniger individuelle Krankheiten als hier bei uns. Die Einbindung in eine funktionierende Familie oder eine politische Gruppe kann bei der Bewältigung helfen. Da die Traumafolgen so viel Menschen betreffen, muss es gesellschaftliche Ansätze zur Lösung geben neben den individuellen Behandlungsmöglichkeiten. Solange der Krieg dauert, solange über die Vergangenheit nicht offen gesprochen werden kann, solange das Unrecht nicht Unrecht genannt werden darf, kann es auch keine Traumabehandlung geben. Diyarbakir Die restaurierte armenische Kirche in der Altstadt von
Ihn trafen wir im Gericht, wo er die Gerichtsverhandlung gegen einen Schulfreund verfolgte. Im Jahr darauf fand er uns im Gedränge des Newrozfestes.
Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.v., Körtestr. 10, 10967 Berlin