34 Das funktioniert allerdings nur dann, wenn nach den klassischen Regeln der Homöopathie die Gesamtpersönlichkeit mit ihren aktuellen und chronischen Leiden einbezogen wird. Bei einem großen Teil der Stresserkrankungen bringt die Verbindung von Akupunktur und Homöopathie die schnellsten und besten Heilerfolge. Grundsätzlich lässt sich also Folgendes feststellen: Die meisten Medikamente der modernen westlichen Medizin sind mit einer Akupunkturbehandlung kombinierbar: Die Wirkung der Akupunktur wird durch die Medikamente ebenso wenig beeinträchtigt wie die Wirkung der Medikamente durch die Akupunktur. Im Gegenteil, die Kombination bringt in vielen Fällen die besseren Ergebnisse. Yin, Yang und die Funktionskreise Grundlage der chinesischen Medizin ist die Yin-Yang-Lehre, die aus der Beobachtung von Naturphänomenen entwickelt wurde. Yin und Yang bezeichnen Gegensätze: Yin-Yang-Paare der Schatten das Licht die Nacht der Tag die Ruhe die Aktivität das Weibliche das Männliche Es sind Gegensätze, die einander bedingen; das eine kann nicht ohne das andere existieren. Auf die Nacht folgt der Tag, jede Aktivität braucht die Ruhephase.
Die chinesische Medizin bezieht sich immer auf den Kosmos, auf das Ganze und darin bilden die Gegensatzpaare von Yin und Yang eine Einheit. Das Symbol dafür ist das Fou-Chi- Zeichen. 35 Das Fou-Chi-Zeichen Hier steht der blaue Bereich für Yin, der weiße für Yang, der umgebende Kreis für das Ganze und die Punkte dafür, dass das eine im jeweils anderen immer mitexistiert. Die Wellenlinie zwischen Blau und Weiß drückt den steten Wandel aus, wie den Zyklus der Jahreszeiten oder der Mondphasen, das stetig Wachsende und Vergehende oder auch hormonelle Zyklen. Akupunkturpunkte sind durch Linien miteinander verbunden, die Meridiane. Meridiane sind gedachte Energielinien, die den Körper überziehen und ihn so praktisch in Längsstreifen unterteilen. Bisher gibt es in der westlichen Medizin keine Struktur, die den Verlauf der Meridiane erklärt. Sie folgen nicht den Blutbahnen, nicht dem Nervensystem, auch nicht dem lymphatischen System; es gibt noch keine schlüssige Erklärung für den Verlauf. Im Bereich der biomedizinischen Forschung bestehen inzwischen mehrere Erklärungsansätze. Wahrscheinlich wird man zu einem späteren Zeitpunkt ein wissenschaftlich fundiertes Modell dafür entwickeln können. Bis dahin bedienen wir uns einer jahrtausendealten Erfahrung, die diese
36 Die zwölf Hauptmeridiane sind paarig angelegt; sie laufen auf der rechten wie der linken Körperseite spiegelbildlich. Sie unterteilen sich in sechs Yin- und sechs Yang-Meridiane. He Ks KS Lu Ma Ma Bl 3 E Di Dü Dü Di Mi Ni Le Di 3 E Dü Ni Ma Le Mi Bl Die Yin-Meridiane und der Magen-Meridian (Yang) KS Kreislauf He Herz Lu Lunge Ma Magen Mi Milz Ni Nieren Le Leber Die Yang-Meridiane 3 E Dreifacher Erwärmer Bl Blasen Gallen Dü Dünndarm Di Dickdarm
Leitbahnen von Energie beschreibt. Denn der große Erfolg der Akupunkturbehandlung gibt den Erfahrungswerten recht. Stellt man sich einen Menschen vor, der mit erhobenen Händen steht, so liegen alle Yin-Meridiane auf der Vorderseite und alle Yang-Meridiane auf der Rückseite des Körpers. Es gibt allerdings hier eine Ausnahme: Der Magen-Meridian läuft, obwohl er Yang ist, vorn über den Körper. Hilfreich ist auch die Vorstellung eines gebeugt im Garten arbeitenden Menschen: Alles, was die Sonne bescheint, ist Yang, und was im Schatten liegt, ist Yin. Auch in der Richtung, in der die Energie fließt, sind die Meridiane gegensätzlich: Yang-Meridiane laufen von oben nach unten, also vom Kopf zum Fuß, oder bei erhobenen Händen von der Hand zum Kopf. Yin-Meridiane laufen von unten nach oben, vom Fuß zum Brustkorb und vom Brustkorb zur erhobenen Hand. Die Energie, die durch die Meridiane fließt, bildet beim Gesunden einen gleichmäßigen Fluss, er wechselt mit den Tagesund auch den Jahreszeiten. Entsteht eine Krankheit in einem Organ, ist der Energiefluss gestört. Durch die Akupunktur, den Reiz durch eine Nadel am richtigen Punkt, bringt man die Energie wieder in Gang und stellt so das Gleichgewicht wieder her. Das Organ wird dadurch entlastet und wieder gesund, und der ganze Körper findet zu einer harmonischen Einheit zurück. So kann zum Beispiel bei einer Gastritis (Magenschleimhautentzündung) die überschüssige Säureproduktion des Magens wieder reguliert werden durch einige Akupunkturnadeln an den entsprechenden Punkten. Je ein Yin- und ein Yang-Meridian bilden ein Paar. Zusammen bezeichnet ein Meridianpaar einen gemeinsamen Funktions- 37
38 kreis oder Meridiankomplex. Er bildet wieder das Ganze als eine Einheit von Gegensätzen. Es gibt fünf Funktionskreise, die jeweils ihren Organen zugeordnet sind. Nur zehn der zwölf Meridiane sind inneren Organen zugeteilt, die zwei weiteren (der Dreifache Erwärmer und der Kreislauf-Meridian) sind nur als funktionelle Meridiane beschrieben. Der Leber-Meridian (Yin) bildet mit dem Gallen-Meridian (Yang) einen Funktionskreis, der Herz-Meridian (Yin) mit dem Dünndarm-Meridian (Yang), der Milz-Meridian (Yin) mit dem Magen-Meridian (Yang), der Lungen-Meridian (Yin) mit dem Dickdarm-Meridian (Yang), der Nieren-Meridian (Yin) mit dem Blasen-Meridian (Yang). Die traditionelle chinesische Medizin kennt fünf Elemente: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Jedem dieser Elemente ist ein Meridiankomplex zugeteilt. Dahinter steht die Vorstellung, dass alles in der Natur von Yin und Yang und von den fünf Elementen beherrscht wird. Die Elemente verkörpern die grundsätzlichen Eigenschaften jeder Materie im Universum. Sie befinden sich im steten Wandel durch den Zyklus der Jahreszeiten in der Natur, ein Prozess der laufenden Veränderung, den man als die fünf Wandlungsphasen bezeichnet. Diesen Wandlungsphasen unterliegt alles Leben, das der Menschen, der Tiere und der Pflanzen.
Die fünf Wandlungsphasen 39 Feuer Herz / Dünndarm Holz Leber / Galle Erde bildet durch Aushärten Metall An Metall kondensiert Wasser ====== Wasser lässt den Baum wachsen = Holz ist die Grundlage für Feuer === Feuer ergibt Asche (Erde) ========== Erde Milz / Magen Wasser Niere / Blase Metall Lunge / Dickdarm Außerdem gibt es eine Zuordnung zu den Jahreszeiten mit entsprechenden Klimafaktoren: Der Leber-Gallen-Meridian gehört zum Frühjahr mit Wind und schnellem Wetterwechsel, der Herz-Dünndarm-Meridian zum Sommer mit Hitze, der Milz-Magen-Meridian zum Spätsommer mit Feuchtigkeit der Luft und der Erde, der Lunge-Dickdarm-Meridian zum Herbst mit Trockenheit, der Nieren-Blasen-Meridian zum Winter mit Kälte. Ebenso werden die Sinnesorgane assoziiert: Auge, Zunge (Sprache), Mund (Geschmack), Nase, Ohren. Die Meridiankomplexe sind auch für bestimmte Gewebe des Körpers zuständig: Muskeln und Sehnen, Blutgefäße, Binde- und Fettgewebe, Haut, Knochen und Zähne.
40 Zusätzlich finden die Elemente und die Jahreszeiten ihre Entsprechung in emotionalen Grundstimmungen: Zorn, Freude, Sorge, Trauer, Angst. Die fünf Meridiankomplexe mit ihren verschiedenen Assoziationen Leber / Galle Herz / Dünndarm Milz / Magen Lunge / Dickdarm Nieren / Blase Holz Feuer Erde Metall Wasser Frühling Sommer Spätsommer Herbst Winter Wind Hitze Feuchtigkeit Trockenheit Kälte Auge Zunge Mund Nase Ohren Muskel Gefäße Bindegewebe Haut Knochen Zorn Freude Sorge Trauer Angst In den folgenden Kapiteln wird beschrieben, wie sich aus diesen Grundstrukturen bestimmte Charaktertypen entwickeln. Jeder Typus, der von seiner genetischen Grundlage her zu einem Meridiankomplex gehört, weist ein gewisses Spektrum an Reaktionsweisen auf. Er reagiert in seiner spezifischen Weise auf den Stress durch äußere Bedingungen. Kommt man auf die anfängliche Geschichte mit dem kalten und zugigen Bahnhof und dem verspäteten Zug zurück, so würde hier jeder Charakter seine spezielle Reaktionsweise auf die Situation zeigen. Als Beispiel für die unterschiedlichen Strukturen der Konstitutionstypen könnte man sich die fünf Charaktere auf dem Bahnsteig vorstellen: Der Typ vom Leber-Gallen-Meridian reagiert mit Ärger und Wut. Er leidet sehr unter der Zugluft, dem Wind und verspannt seine Muskulatur. Die Augen werden leicht rot und trocken, er fürchtet eine Bindehautentzündung.
Ist er mehr in Gallen-Stimmung, also Yang, das heißt aktiv, erklärt er den Mitreisenden lautstark, welche Schlamperei sich diese Bahn mal wieder geleistet hat, greift sich möglicherweise den Stationsvorsteher oder sonst jemanden, den er für verantwortlich hält, überschüttet ihn mit Verbalinjurien, zieht ihn zur Rechenschaft und droht ihm Schadensersatzforderungen an. Ist der Leber-Meridian aktiver, also das Yin-Prinzip, wird der Zorn etwas ruhiger ausgedrückt. Der Typus würde alle erdenklichen bösartigen Bemerkungen entweder nur denken oder ein paar anderen Wartenden mitteilen. Der Typ vom Herz-Dünndarm-Meridian würde unter der Situation vermutlich viel weniger leiden. Die Zugluft macht ihm nicht so viel aus, er ist hitziger. Und er gebraucht seine Zunge, das heißt, er redet viel. Die Freude über die geplante Reise möchte er sich nicht verderben lassen, nur weil der Zug etwas später kommt. Bei mehr Yang würde er oder sie auf jeden Fall Kontakt mit den anderen aufnehmen, einige witzige Geschichten über andere Zugverspätungen erzählen und sich vielleicht darüber freuen, welch spannende Leute man auf einem trostlosen Bahnhof kennenlernen kann. Bei mehr Yin könnte die Wartezeit genutzt werden, noch schnell ein kleines Mitbringsel zu erwerben, um bei der Ankunft jemandem eine Freude zu bereiten. Der Typ vom Milz-Magen-Meridian würde sich vor allem Sorgen machen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Er braucht jetzt etwas im Mund, das heißt, er denkt bei Stress zunächst an Essen und Trinken. Reagiert er mehr im Yang, dem Magen-Meridian, besorgt er erst einmal etwas zu essen, falls er nicht ohnehin schon ge- 41
42 nügend dabei hat. Aus seiner Keksschachtel bietet er den Mitreisenden großzügig an, verteilt ein paar Schokoriegel und achtet darauf, dass mitwartende Kinder bei guter Laune bleiben. Bei mehr Yin, hier dem Milz-Meridian, könnte die Sorge darüber, dass der Zug möglicherweise entgleist ist, im Vordergrund stehen. Er oder sie grübelt darüber nach, ob man in einen eventuell defekten Zug überhaupt einsteigen sollte, wenn er dann kommt. Der Typ vom Lunge-Dickdarm-Meridian fürchtet vor allem, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Wäre man mit dem Auto gefahren, hätte man jetzt nicht den Stress am Bahnhof. Und vielleicht hätte man eine andere Strecke fahren sollen. Mehr im Yang-Meridian Dickdarm spürt der Typus schon das Kribbeln in der Nase. Er weiß, dass er jetzt krank werden wird. Missmutig und wortlos starrt er die Mitreisenden an. Ein wenig beneidet er den sich lautstark aufspielenden Typ vom Gallen-Meridian, aber gleichzeitig findet er ihn auch furchtbar peinlich in seiner Unbeherrschtheit. Mehr im Yin-Meridian Lunge verträgt der Typus die schreckliche Luft auf dem Bahnsteig nicht. Er reagiert leicht allergisch und denkt über die Zusammensetzung der unterschiedlichen Abgase nach, die die Umwelt für ihn unerträglich machen. Er sucht die Taschen nach seinem Asthmaspray ab. Der Typ vom Nieren-Blasen-Meridian steht starr, unbeweglich und deutlich abseits von den anderen am Gleis. Unter der Kälte leidet er sehr, besonders an den Ohren. Noch mehr aber empört ihn, dass die Bahn offenbar nicht in der Lage ist, Termine korrekt einzuhalten. In seiner Übervorsichtigkeit ist er allerdings ohnehin schon eine Stunde früher unterwegs.
Wenn er mehr auf dem Yang-Meridian der Blase reagiert, weiß er, dass Reisen sowieso Stress bedeutet und sehnt sich nach seinem ordentlich aufgeräumten Büro. Er hasst es, dass man ihm so unerträgliche Bedingungen aufgezwungen hat. Leicht angewidert registriert er die weniger ordentliche Kleidung der Mitreisenden und den Schmutz auf dem Bahnsteig. Selbstverständlich hat er zugige Bahnhöfe eingeplant und sich entsprechend gekleidet. Beim Nieren-Meridian, der die Yin-Energie hat, dominiert die Angst. Der Typus fürchtet, gerade jetzt zur Toilette zu müssen und wenn er ginge, führe bestimmt der Zug ein, den er dann doch noch verpassen könnte. Vielleicht gerät er auch in Panik wegen der unangenehmen Mitreisenden, die ihm bestimmt nachher den Sitzplatz wegnehmen. 43 Überlegungen zur Charakterstruktur In der Geschichte der Medizin hat es zahlreiche Ansätze gegeben, sich die Natur von Krankheiten zu erklären, das heißt, Gründe zu finden, warum der eine krank wird und der andere nicht. Und warum bei manchen Menschen dieses und bei anderen jenes Organsystem von Krankheit befallen wird. In den meisten Beschreibungen versucht man, Strukturen zu entwickeln, Charaktertypen zu analysieren, aus denen sich die verschiedenen Krankheiten herleiten könnten. In unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen sind so über die Jahrhunderte Systeme entwickelt worden, die als Grundlage entweder das Wirken eines göttlichen Willens annehmen oder auf Gesetzmäßigkeiten der Natur basieren. Am bekanntesten sind die klassischen griechischen Tempera-