16. Sonntag nach Trinitatis 2004, 26. September 2004, 10 Uhr



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Transkript:

Professorin Dr. Dorothea Wendebourg, Berlin 16. Sonntag nach Trinitatis 2004, 26. September 2004, 10 Uhr Predigt über Psalm 84 Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst, dass sie im Blütenschimmer von ihm nur träumen müsst. Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht. Es rauschten leis die Wälder, so sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus. Flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus. Liebe Gemeinde! Die Sehnsucht der Seele nach dem Zuhause in unserem Kulturkreis hat sie wohl kein Dichter so zur Sprache gebracht wie Joseph von Eichendorff in seinem Geistlichen Gedicht Mondnacht. Jenes uralte Motiv der Menschheitsgeschichte, von dem wir wieder und wieder hören: bei dem Kirchenvater Augustin, der von dem unruhigen Herzen auf der Suche nach der wirklichen, endgültigen Erfüllung spricht; bei dem marxistischen Philosophen Ernst Bloch, der nach der Heimat fragt, nach der alle sich sehnen, obwohl dort noch keiner je war ; und eben bei Eichendorff, der die Seele besingt, die ihre Flügel ausspannt und losfliegt, als flöge sie nach Haus. In immer neuen Spielarten immer wieder dieselbe Erfahrung: die Erfahrung der Herzensheimatlosigkeit. dass in allem, was uns beschäftigt, auch was uns erfreut, packt, ja erfüllt, wir nicht gefeit sind gegen die nagende Frage: Ist das alles, ist es das wirklich? dass selbst menschliche Beziehungen, die engste Freundschaft, die heißeste Liebe nicht ankommen gegen das plötzliche Gefühl: Da müsste doch noch mehr sein, noch etwas ganz Anderes... Solches Gefühl kann uns beschleichen in Momenten der Leere. Es kann uns aber auch ergreifen in Momenten glückhafter Erhebung. Wenn die Herrlichkeit eines Musikstücks Zeit und Ewigkeit in einem Augenblick verschmelzen lässt. Oder wenn uns die Schönheit der Natur den Atem verschlägt. Eichendorffs Gedicht stammt aus der zweiten Erfahrung her: von der klaren, ruhigen Weite der mondbeschienen Nacht, in der sich Himmel und Erde zu vereinigen scheinen. Und in der die Seele selbst weit wird, sich über alles Enge, alle Geschäfte, allen Lärm des Tages erhebt als flöge sie nach Haus. Der Dichter belässt es beim Als ob, beim irrealen Konjunktiv. Ein Lied von der Sehnsucht der Seele nach dem Zuhause, liebe Gemeinde, ist auch unser heutiger Predigttext, der 84. Psalm, den wir vorhin gesprochen haben. Ich lese noch einmal den Anfang:

Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn. Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar. Ein biblisches Lied von der Sehnsucht nach dem Zuhause. Von dem verzehrenden Verlangen, dort zu sein, wo ich hingehöre. Hingehöre wie ein Vogel in sein Haus, wie ein Schwalbenjunges in sein Nest. Ein Lied von der Sehnsucht nach dem Zuhause. Nur der, der es singt, hat gerade Haus und Hof den Rücken gekehrt. Dieser Vogel ist ausgeflogen, hat sein warmes Nest verlassen. Nicht dass er keine Bleibe hätte, obdachlos, heimatlos wäre. Er hat alles: ein Haus, eine Familie, einen Beruf, eine geachtete Stellung im Dorf. Und doch, das alles befriedigt, hält ihn nicht. Unwiderstehlich wird er von dort weggezogen, weggezogen in eine Richtung, an einen Ort: deine Altäre, mein König und mein Gott. Der Sänger ist ein Pilger auf der Straße nach Jerusalem, ein Wallfahrer auf dem Weg zum Gottesdienst im Tempel. Dafür hat er sein Haus verlassen, dahin geht seine Sehnsucht, da möchte er sein und nirgendwo sonst. Glücklich, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar. Dort zu wohnen, im Tempel zu Hause zu sein, immerwährenden Gottesdienst zu feiern das wäre die Erfüllung, das würde die Sehnsucht stillen, die Seele zur Ruhe bringen. Und wenn es so viel nicht sein kann, doch wenigstens ein Plätzchen im Vorhof des Gottesdienstes, auf der Schwelle des heiligen Bezirks. Türhüter im Tempel zu sein, ein kleiner Portier ganz am Rande das wäre herrlicher und befriedigender als das Residieren im schönsten Palast da draußen, fern vom Altar. Die Sehnsucht nach dem einen Ort, sie relativiert alle anderen. Dies eine Ziel lässt den Rest der Welt grau und unbedeutend erscheinen. Zugleich wirft es aber auch Licht auf alle anderen Örter: Die Vorfreude verwandelt schon den Weg; jede Meile, die die Pilger ihrem Ziel näher bringt, erscheint ihnen reizvoll; die Wüste selbst, durch die sie sich quälen müssen, wird ihnen saftig und grün: Wenn sie durchs dürre Tal gehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie gehen von einer Kraft zur anderen. Alle Strapazen der Reise verflüchtigen sich, Herz und Füße werden leicht, denn sie fliegen ja nach Haus. Der Gottesdienst als höchstes Glück, als Erfüllung unserer Sehnsucht? Die Kirche als unser Zuhause, als der Ort, an den wir eigentlich gehören? Ach, liebe Gemeinde, nichts liegt unserem Lebensgefühl ferner als ein solcher Satz; nichts ist uns fremder als der Enthusiasmus dieses Psalms. Wenn überhaupt, dann gehört der Kirchgang für uns doch eher in die Kategorie Luxus : Wir leisten uns diese Unterbrechung des alltäglichen Lebenslaufes, wenn es die Geschäfte erlauben, wenn der Schreibtisch halbwegs abgearbeitet ist, wenn nicht gerade die Vorbereitung des nächsten Termins ansteht. Oder der Gottesdienstbesuch trägt das Vorzeichen der Pflicht, so für viele unter uns, die religiös sozialisiert sind, wie es so schön heißt, oder die auf irgendeine Weise, dauerhaft oder zeitweilig, mit der Institution Kirche verbunden sind Pfarrer, Gemeindekirchenräte, Theologieprofessoren, Konfirmanden. Was

spräche hier eine deutlichere Sprache als die Tatsache, dass viele Pastoren sich nichts Schöneres vorstellen können als einen gottesdienstfreien Sonntag und dass für die meisten Konfirmanden die Konfirmation vor allem dies bedeutet, nun nicht mehr zur Kirche gehen zu müssen? Luxus oder Pflicht der Ort, nach dem unsere Seele verlangt und sich sehnt, der Ort, an den es uns zieht, weil wir dort nach Hause kommen das ist der Gottesdienst für uns meist nicht. Und wir haben ja auch gute Argumente dafür, dass das nicht so ist. Nicht allein den Hinweis auf Arbeit und Terminkalender. Nicht nur die Feststellung, wie dürftig viele Predigten, wie banal und ehrfurchtslos gestaltet viele Gottesdienste sind. Sondern auch theologische Argumente: Als Christen kennen wir keine heiligen Orte mehr hat doch Jesus selbst gesagt, seine Anhänger würden Gott nicht an heiligen Plätzen anbeten, sondern im Geist und in der Wahrheit. Und von dem Apostel Paulus hören wir, darin mit Nachdruck von der Reformation bestätigt, dass unser ganzes Leben Gottesdienst sein soll, gerade auch in seinen alltäglichen Verrichtungen. Wie sollten wir da Erfüllung in besonderen kirchlichen Veranstaltungen an besonderen kirchlichen Örtern finden! Nein, nach Vorhöfen Gottes kann ein christliches Herz kein Verlangen tragen, von immerwährenden Lobgesängen in heiligen Häusern kann eine christliche Seele nicht träumen. Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn. Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Können wir wirklich so glatt mit diesem Psalm fertigwerden? So überlegen darüber hinweggehen? Es steckt ein Widerhaken darin, an dem unsere bequemen wie unsere gelehrten Argumente hängen bleiben. Sie bleiben hängen an dem letzten Satz: Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Der lebendige Gott darum geht es; ihm gilt die Sehnsucht des Wallfahrers, ihn sucht er im Jerusalemer Tempel. Nicht das steinerne Mauerwerk selbst, die großartige Zeremonie an sich. Sondern Gott, den Inbegriff und die Quelle alles Lebens, den Schöpfer, der allem, was ist, Sein und Kraft, Norm und Ziel, Heil und Erfüllung gibt. Hier sucht der Pilger sein Zuhause, weil er von hier sein Leben hat. Hier zieht es ihn hin, weil er hier seine Erlösung findet. Hier möchte er immer sein, weil die Gegenwart Gottes ihn ganz und heil macht. Lebensbegründende, heilende Gottesgegenwart haben wir eine andere Adresse, wo wir unser Zuhause finden könnten? Haben wir eine andere Stelle, wo unsere Seele Wohnung nehmen könnte? Es ist wahr an einen heiligen Ort, an ein heiliges Gebäude bindet sich Gottes Gegenwart für uns nicht. Tempel, in denen wir ihn zu suchen hätten, gibt es für Christen nicht. Doch wie sollte der Gott, der uns in Jesus Christus so unüberbietbar nahe gekommen ist, dass er ein Mensch wurde wie wir wie sollte er uns seine Gegenwart weniger konkret schenken? Wie sollte der Gott, der zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort tatsächlich die Erde geküsst hat, uns weniger deutlich begegnen? Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Nicht in einem Tempel, nicht auf einem geweihten Altar hat er Wohnung genommen. Sondern wo immer das Evangelium von Jesus Christus verkündigt, wo in seinem Namen Vergebung zugesprochen, wo sein Leib und sein Blut ausgeteilt wird da macht der lebendige Gott sich für uns gegenwärtig. Wo die Botschaft von Gottes Zuwendung die Seele berührt, da bringt sie Geborgenheit. Wo sie Gewissheit und Freude schafft, da kommt das Herz nach Hause. Wo Leib und Seele schmecken, wie freundlich der Herr ist, da spüren sie, wo sie letztlich hingehören. Sicher, Gottes Geborgenheit schaffende Gegenwart ist nicht auf den sonntäglichen Gottesdienst der Kirche beschränkt glücklicherweise. Sie kann uns in den

verschiedensten Zusammenhängen und Situationen zuteil werden, in denen das Evangelium begegnet in der eigenen Bibellektüre, im Zeugnis und Vorbild anderer Menschen um uns her, in der Andacht mit der Familie, im Kantatenkonzert. Doch der sonntägliche Gottesdienst hat diesem allen eines voraus: die vorgegebene Regelmäßigkeit. Hier wird Gottes Wort laut, hier wird der Tisch bereitet unabhängig von den Schwankungen unseres Lebenslaufs, unseren Stimmungen und Befindlichkeiten, unserer eigenen Initiative: Sonntag für Sonntag, sommers und winters, Jahr um Jahr. Ob es viele sind, die sich zum Gottesdienst einfinden, oder nur kleine Gruppen die Glocken läuten, unbeirrt, das Evangelium ist da, der Tisch ist gedeckt, Gott ist gegenwärtig. So, gerade so, kann Gottes Gegenwart uns wirklich zum Haus werden: mit dieser ehernen Verlässlichkeit, mit der er sich in seinem Wort und Sakrament immer wieder anbietet. Doch, liebe Gemeinde, damit das Haus zum Zuhause, zur Wohnung wird, bedarf es der Aneignung, der Pflege. Wohnen hat ja etwas mit Gewöhnung zu tun. Mit dem regelmäßigen Gebrauch, der Vertrautheit, Sicherheit, Heimat schafft. Der regelmäßige Gebrauch, zu dem wir hier eingeladen werden, ist der Gottesdienst im Sieben-Tage- Rhythmus, ererbt aus der jüdischen Tradition und nach uns übernommen auch vom Islam. Sicher, man könnte sich auch eine andere Einteilung vorstellen warum nicht sechs oder zehn Tage? Und es hat in revolutionären Zeiten auch nicht an Versuchen gefehlt, andere Rhythmen zu etablieren mit geringem Erfolg allerdings, die Sieben-Tage-Ordnung scheint unserem Lebensrhythmus, unserem Bedürfnis nach Ruhe und Bewegung, nach Arbeit und Unterbrechung besonders angemessen zu sein. Entscheidend ist aber gar nicht die Sieben- Tage-Ordnung an sich, entscheidend ist die Regelmäßigkeit, mit der uns hier, Sonntag für Sonntag, angeboten wird, nach Hause zu kommen, Heimat zu finden. Und diese heimatstiftende Regelmäßigkeit charakterisiert ja nicht nur den Termin des Gottesdienstes, sie ist auch ein wesentliches Kennzeichen seiner Gestalt, die Wiederholung und Wechsel in kunstvoller Weise miteinander verbindet: einerseits der immer gleiche Ablauf mit seinen Worten und Gebeten, die jedes Mal gesprochen, mit seinen Versen, die jedes Mal gesungen werden; auf der anderen Seite die Bibellesungen und Choräle, auch die Farben, die wechseln, aber immer wiederkehren mit den Festen und Zeiten des Kirchenjahres selten genug, immer neu Vorfreude und Beglückung zu bescheren, doch so häufig, dass wir das alles wiedererkennen, dahin zurückkehren können; und schließlich die Predigt auch sie eherner Bestandteil eines jeden Gottesdienstes, festgebunden an den alten, immer wiederkommenden Bibeltexten, und zugleich das beweglichste, aktuellste Element, jedes Mal neu, ganz auf unser Leben hier und heute ausgerichtet, denn es ist ja dieses unser Leben, das in der Gegenwart Gottes Geborgenheit finden soll. Ein kunstvolles Gebäude ist der Gottesdienst fürwahr, erbaut im Laufe von Jahrhunderten. Ein Gebäude, in das Generationen von Christen, Vorfahren wie Zeitgenossen, Früchte ihres Glaubens und ihrer Liebe, ihrer dichterischen, musikalischen und theologischen Fähigkeiten und ihres unterschiedlichen Geschmacks eingebracht haben und bis zum heutigen Tag einbringen. Ein Gebäude voller Weisheit und Schönheit, stabil und biegsam, alt und neu, gleich bleibend und vielgestaltig so lädt der Gottesdienst uns ein, Wohnung zu nehmen. Aber er lädt uns nicht ein, weil er so ist das alles würde nicht länger tragen als eine große Oper oder ein beeindruckendes Theaterstück. Nein, der Gottesdienst lädt uns ein, weil er in seiner Stabilität und Gestalt das Gehäuse ist für die Begegnung mit dem, der uns wahrhaft nach Hause kommen lässt: mit dem lebendigen Gott. Dem Gott, der in seiner Schöpferkraft unser Leben trägt, der uns mit seinem Wort und Mahl heilt und erneuert, der uns mit seinem Geist darin Gewissheit finden und Geborgenheit spüren lässt.

Gewissheit und Geborgenheit, die ausstrahlen auch in das trockene Tal des Alltagslebens, die tragen auch in der Dürre von Misserfolgen und Enttäuschungen, ja die selbst in der Wüste von Schuld, Schmerz und Tod noch halten können, weil es der lebendige Gott selbst ist, der uns in seinen Händen hält. Liebe Gemeinde, der Himmel hat die Erde geküsst, damals zwischen Bethlehem und Golgatha, ein für alle Mal und unwiderruflich. Und er will unsere Seele immer wieder aufs Neue küssen, Sonntag für Sonntag, damit sie weit werde und ihr Zuhause habe in dem lebendigen Gott. Amen.