Predigt zum Weihnachtstag über Matthäus 1, 18-25 vom 25. Dezember 2015 gehalten von Pfarrer Martin Keller Lesung aus Matthäus 1, 18-25 Mit der Geburt Jesu Christi aber verhielt es sich so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt. Noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte es sich, dass sie schwanger war vom heiligen Geist. Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht blossstellen wollte, erwog, sie in aller Stille zu entlassen. Während er noch darüber nachdachte, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen, denn was sie empfangen hat, ist vom heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten. Dies alles ist geschehen, damit in Erfüllung gehe, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben. Das heisst: Gott mit uns. Als Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. Er erkannte sie aber nicht, bis sie einen Sohn geboren hatte; und er gab ihm den Namen Jesus. Predigt Weihnachten 2015 Liebe Gemeinde so langsam wird es für mich schwierig, etwas über Weihnachten zu sagen, was ich noch nicht erzählt habe. Es ist sowieso eine sperrige Geschichte, die uns da zugemutet wird. 1
Es ist so viel Unwahrscheinliches und Wundersames dabei, dass man sie schon am liebsten im Märchenwald ansiedelt. Aber wie soll ich den antiken Märchenwald in unsere Zeit und Welt hinein übersetzen? Es ist zweifellos eine schöne Geschichte und dass sie bis heute erzählt wird, zeigt nur, dass sie ein Bedürfnis der Menschen stillt. Für viele - auch ganz und gar kirchenfremde oder religionskritische - Leute bieten die Weihnachtsgeschichte und die Bräuche um sie herum eine Art emotionale Heimat, die prägt und die man nicht vermissen möchte. Es geht eine grosse Kraft von diesen Geschichten aus, das kann niemand leugnen. Am ehesten kommt dem Märchen die Heilige Nacht entgegen. In der Nacht sieht vieles anders aus. Waldweihnacht unter Bäumen, wo es kalt ist und tropft und es einem dennoch seltsam warm wird, wenn man neben dem Tännchen im Kreis steht, das Feuer in der Mitte brennt, gemeinsam Lieder singt und dann miteinander an die Wärme geht - das vergisst man nie. Genauso wie an der Familienfeier am Nachmittag gestern, wo sich eine ganz spezielle, erwartungsvolle Stimmung in der Kirche einstellt, wenn sie voll ist mit Kindern und man das Getuschel, Scharren und Rascheln hört, die roten Backen und die grossen Augen - da muss jemand schon einen Stein in der Brust haben, wenn ihn das nicht rührt. Auch spät am Abend, nach der häuslichen Weihnachtsfeier, wenn man sich noch einmal aufmacht in die Kälte und den Tag mit einem festlichen Gottesdienst beschliesst, der mehr die Sinne und das Gefühl anspricht als den Verstand, finden viele Menschen etwas, das sie offenbar sonst vermissen. Weihnachten stiftet eine Art von Gemeinschaft, wie es kein anderes Fest vermag. Nun heute Morgen ist wieder mehr der Verstand gefragt. Es ist jetzt wieder Tag geworden, der Zauber der nächtlichen Traumfetzen hat sich verflogen - und jetzt sollte man noch etwas für das Gehirn tun. Was machen wir jetzt, wo aus dem Märchenwald ein ganz gewöhnlicher Wald geworden ist, aus den Elfen, Zwergen und Fabelwesen wieder Gebüsche, Baumstrünke und Feldsteine? Das ist schon nicht so romantisch, denn jetzt geht es nicht einfach um das Erzählen, sondern zu erklären, worum es bei Weihnachten tatsächlich geht. Damit haben sich schon die biblischen Schriftsteller schwergetan. Der älteste und wichtigste Zeuge Paulus, weiss nichts von wundersamen Umständen bei der Geburt Jesu. Wäre ihm da etwas Verlässliches bekannt gewesen, er hätte das sicher berichtet. Aber es gibt nichts zu berichten. Der geschichtliche Jesus tritt bei ihm in den Hintergrund. Der verkündigte Christus, welcher Freiheit und ein Leben gegen den Tod verkündigt und ein Leben über die Vergänglichkeit hinaus verheisst, Vergebung und Versöhnung bereithält und um Glaube, Hoffnung und Liebe wirbt, das ist seine Kernbotschaft. Märchenwälder sind nicht vorgesehen. 2
Auch Markus weiss nichts über die Umstände der Geburt Christi. Er beginnt mit Johannes dem Täufer und erzählt eigentlich nur den Weg Jesu ans Kreuz. Matthäus ist der erste, der sich der Geburtsgeschichte annimmt und damit beginnen auch die Schwierigkeiten, weil das, was er zu berichten weiss, mit unserer Wahrnehmung und Erfahrung kollidiert. Lukas erzählt eine andere Version, die sich nur in wenigen Punkten mit Matthäus vergleichen lässt. Bei Lukas kommen die Hirten, das Lichtwunder, die Engelheere, der Stall in Bethlehem vor. Bei Matthäus die Jungfrauengeburt, der Stern, die Drei Könige und der böse König Herodes, der Kindermord in Bethlehem und die Flucht nach Aegypten. Johannes drückt sich um eine Weihnachtsgeschichte. Er bringt einen hochphilosophischen Exkurs, der schwer verständlich ist. Johannes, der Adler, ist eben der Evangelist der Höhenflüge. Markus, der Realist, ist der kraftvolle Löwe. Lukas, der Stier, sorgt für Kontinuität. Matthäus, der Engel, öffnet den Himmel. Was wir bei einem Krippenspiel darstellen, ist der Zusammenzug aller möglichen Erzählstränge, angereichert durch Figuren und Bilder, welche die spätere Tradition hinzugefügt hat. Das ist noch einmal etwas Anderes. Vergleicht man die biblischen Texte, so kann man etwas darüber erfahren, wie die verschiedenen Gemeinden sich ihre Geschichten erzählten und mit welchen literarischen Techniken sie arbeiteten. Matthäus beispielsweise lebte in einer judenchristlichen Umgebung und ist geprägt von der rabbinischen Erzählkunst. Er berichtet mit Anspielungen, die der geneigte Leser eben merken muss, dann erschliesst sich ihm nebst der Oberflächenstruktur des Textes eine Art Tiefentext, den man nur versteht, wenn man die Anspielungen kennt. Man nennt das einen Midrasch. Die frühchristliche Gemeinde musste zu diesem Zweck auf das Alte Testament zurückgreifen, weil es das Neue Testament ja noch gar nicht gab. Maria und Josef waren verlobt. Das heisst, sie durften noch nichts miteinander haben, weil sie noch nicht verheiratet waren. Da wird Maria schwanger und es gibt ein Problem. Josef weiss von nichts, sagt er. Maria weiss ebenfalls nichts, sagt sie. Aber die Schwangerschaft ist da - war also ein anderer am Werk? Das hätte für Maria den Tod bedeutet, weil sie nach der damaligen Lesart der Gesetze die Ehe gebrochen hätte. Bereits die Verlobung galt als verbindlich. Josef nun - ein gerechter Mann - will sie freigeben. Er will Maria nicht schaden. Und es ist dann quasi ein Unfall. Das ist die erste Ebene der Erzählung. Das kennen wir. Ist nicht gerade Alltag aber nicht so selten, wie man meint. Jetzt führt Matthäus ein Motiv ein, welches wir zum Beispiel aus den alttestamentlichen Josefsgeschichten kennen: den Traum. Der Traum treibt die Handlung voran. Josef, der jüngste Sohn Jakobs, träumt von Sonne und Mond und elf Sternen, die sich ihm verneigen, und von zwei grossen und elf kleinen Garben, die dasselbe tun. Seine 3
empörten Brüder entsorgen ihn und verkaufen ihn nach Aegypten. Die schlüpfrige Geschichte mit Potifars Frau bringt ihn ins Gefängnis, dann treiben die Träume des Pharaos von den fetten und den mageren Kühen, den fetten und den verdorrten Aehren die Geschichte weiter. Josef wird frei und steigt zum Grosswesir auf und die Geschichte nimmt ihren heilsamen Lauf. Es hat unheilvoll begonnen und endete mit einem grossartigen Finale. Bei Matthäus übernimmt ein Engel diese Funktion und Josef, Marias Verlobter, der nicht zufälligerweise den gleichen Namen trägt, steht davon ab, sie zu entlassen. Er nimmt es also auf seine Kappe, würde man heute sagen. Ihm ist klar, dass Gott seine Hand im Spiel hat. Und wie um das noch zu unterstreichen, zitiert Matthäus eine Stelle aus Jesaja 7, 14: Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben. Das heisst: Gott mit uns. Da hat Matthäus den Text manipuliert. Eben Märchenwald. Jesaja spricht von einer jungen Frau, die schwanger ist, nicht von einer Jungfrau. Matthäus hat das überhöht. Dass einem Fräulein - das darf man heute zwar nicht mehr sagen - ein Malheur passiert, kommt vor. Und dass ein Partner oder eine Partnerin feststellen muss, dass hinter seinem oder ihrem Rücken etwas gegangen ist, kommt ebenfalls vor. Es ist das harte Pflaster des wirklichen Lebens. Mit diesem Erzählertrick von der überirdischen Jungfrau gelingt es Matthäus eine tiefere Dimension zu eröffnen, welche die Oberflächlichkeit nicht sieht oder dann missversteht. Es ist ja keine biologische Aussage, sondern eine theologische, die einen Hinweis geben will auf den wahren Urheber der Geschichte. Das kommt auch in der Namengebung zum Ausdruck. Der Engel nennt Jesus. Jesaja nennt Immanuel. Matthäus führt beides zusammen: Der Gott ist mit uns - Immanuel - ist auch der Gott hilft - Jesus - Jehoschua. Jesus ist die Nähe Gottes selber, der uns in sein ewiges Reich führt. Fassen wir zusammen, was vom Märchentraum noch übrigbleibt, nachdem der helllichte Tag angebrochen ist: Gott will und wird sich den Weg zu seinen Menschen öffnen. Er findet seinen Weg gegen jede Konvention und jedes Vorurteil. Er stellt eine junge Frau in den Mittelpunkt, eine Benachteiligte wegen ihres Geschlechts und ihres Alters, eine die man nicht zur Kenntnis nimmt. Er gibt ihr einen älteren Mann zur Seite, der sich fast lächerlich macht als Partner dieses Mädchens. Es ist ein Mann, der das Leben kennt, und darum keine Urteile fällt, sondern dem Leben seinen Weg bahnt. In seiner Solidarität gegenüber Maria und seiner Toleranz gegenüber einem Geschehen, das er nicht verstehen kann, lässt er zu, was das Leben so bringt. Er lässt die werdende Mutter in Ruhe, bedrängt sie nicht und liebt sie doch. Er nimmt sie zu seiner Frau, wie es heisst. Und er besiegt mit seiner Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit diskriminierender Bräuche. Mose hat das Gesetz gebracht, mit welchem die Sünde und die Schuld bemessen wird. Josef bringt das Gesetz, welches die Liebe und Vergebung, den Neuanfang und das 4
Leben zum Ziel hat. Er ist ein würdiger Ziehvater, ein neuer Mose, der ein neues Gesetz bringt, welches Jesus dann verkündigen wird. Mit diesem Zusammenspiel, abgestützt durch das Zeugnis der Schrift, kann Matthäus den Befreier und Erlöser ankündigen, der die Welt verändern wird, wie keiner vor oder nach ihm. Es sind eigentlich alles ganz normale Vorgänge, die Matthäus in seiner Weihnachtsgeschichte erzählt. Erst wenn wir sie als Taten Gottes anschauen, der in die Welt und zu den Menschen kommen will, um sie zu suchen, zu sammeln und zu retten, werden sie zu Wundern. Das sogenannte Wunder selber spielt eigentlich keine Rolle und ist nur Kulisse. Damit ist eigentlich alles gesagt - mit und ohne Märchenwald. Gott wird Mensch, damit Menschen menschlich werden. Das ist dringend nötig. Amen. 5