Ich bin Muslim. Fundamentalismus und Konversion zum Islam bei Jugendlichen in der Schweiz



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Transkript:

Ich bin Muslim http://browse.deviantart.com/?q=virsa&order=9&offset=24#/dqndy7 Fundamentalismus und Konversion zum Islam bei Jugendlichen in der Schweiz Eine Maturaarbeit von Nisrin Al- Zubaidy, G4A Neue Kantonsschule Aarau Betreut durch Martin Zürcher 17.10.2011

Abstract Im Rahmen meiner Maturaarbeit wollte ich herausfinden, weshalb junge Menschen zum Islam kon- vertieren oder wenn sie schon Muslime sind, eher streng religiös werden. Zudem untersuchte ich das Phänomen des Fundamentalismus. Hierfür führte ich sechs intensive Interviews mit Menschen, die alle auf irgendeine Weise mit dem Islam in Verbindung stehen, um so ein breites Spektrum an Mei- nungen kennenzulernen. Mithilfe der sechs Interviews und der Literatur versuchte ich meine Frage- stellung zu beantworten. Des Weiteren zog ich Vergleiche mit meinen Ergebnissen und den drei Ty- pen der Konversion von Wohlrab- Sahr. Meine Untersuchungen zeigten, dass es unterschiedliche Gründe wie Konversion aus familiären Gründen, Hinwendung zur Religion durch eine Lebenskrise, eine Orientierung, Konversion als Befreiung aus streng religiösen Kreisen, sich öffnen für etwas Neu- es, Suche nach den eigenen Wurzeln, Hinwendung zur Religion aufgrund eines Kulturschocks und Hinwendung zur Religion als Mittel zum Zweck für die Konversion oder Bekennung zum Islam gibt. Zudem zeigte sich, dass der Fundamentalismus von Extremismus zu unterscheiden ist und nicht mit Gewaltbereitschaft in Verbindung gesetzt werden soll. In der Schweiz gilt die Religionsfreiheit und deshalb sollten keine Massnahmen ergriffen werden, gegen Fundamentalismus vorzugehen. Dort wo religiöse Praxis in Konflikt mit staatlichen Regelungen wie zum Beispiel im Schulunterricht, steht, müssen Grenzen der religiösen Freiheit diskutiert und Lösungen gefunden werden. 2

Vorwort In der Schweiz wird in den Medien und in der Öffentlichkeit der Islam oft als eine Religion der Unter- drückung, der Gewalt und des Extremismus betrachtet. Es herrschen sehr viele Vorurteile und man unterstellt den Konvertiten/innen oft, sie hätten irgendwelche Persönlichkeitsdefizite und seien des- halb zum Islam konvertiert. Sind solche Vorstellungen berechtigt oder nicht? Mit meiner Arbeit möchte ich betroffene Menschen verstehen lernen, ihnen zuhören und ihre Mei- nungen erfahren, aber auch kritische Fragen stellen. Ich möchte versuchen zu verstehen, weshalb eine junge 20 jährige Frau plötzlich beginnt, ein Kopftuch zu tragen und den Männern die Hand nicht mehr gibt oder ob der Fundamentalismus sogar gefährlich werden kann. Mein wichtigstes Anliegen ist, mit meiner Arbeit Dialoge zwischen den Muslimen und den nicht- muslimischen Schweizern erschaffen zu können. Ich bin der Überzeugung, dass man mit Offenheit und gegenseitigem Respekt, aber auch mit einem kritischen Auge sehr viel mehr erreichen und Vor- urteile abbauen kann. Dabei möchte ich folgenden Personen danken, ohne die meine Arbeit nicht möglich gewesen wäre: Nadia Al- Chalid, für den vertieften Einblick in ihre Gedankenwelt, Claudia Al- Chalid, für den Mut über ihre persönlichen Erfahrungen zu sprechen, Jasmin El- Sonbati, für das höchst interessante Gespräch und ihr für mich sehr inspirierende Buch, Nicolas Blancho, für das interessante Gespräch, Achmed Tuab, für seine Zeit während des Ramadans, um mit mir ein interessantes vierstündiges Interview zu machen und für die Gastfreundschaft und Susanne Leuenberger, die mir ihr sehr grosses Wissen zur Verfügung gestellt hat. Herzlichen Dank für Ihre wertvolle Unterstützung! Des Weiteren möchte ich mich bei meiner Schwester Yasmin Al- Zubaidy bedanken, die mir bei der Transkription von einigen Interviews geholfen hat und bei meinem Freund, Kevin Sommer, der mich immer wieder motiviert hat. Speziell bedanken möchte ich mich bei Kerstin Meier, für das Korrigieren der unglaublich vielen Sei- ten und ihre tatkräftige Unterstützung. Vielen Dank auch an meine Bezugsperson Martin Zürcher, der mich stets mit Ratschlägen und neuen Ideen begleitete und mir eine enorme Hilfe war. 3

Inhaltsverzeichnis Abstract... 1 Vorwort... 3 Inhaltsverzeichnis... 4 1. Einleitung... 6 2. Theorieteil... 7 2.1 Die Grundzüge des Islams...7 2.1.1 Der Prophet Mohammed...7 2.1.2 Quellen des Islams...7 2.1.3 Glaubensinhalte und die fünf Säulen des Islams...8 2.1.4 Hauptrichtung innerhalb des Islams...8 2.2 Verschiedene Richtungen innerhalb des Islams in der Schweiz...9 2.2.1 Geografische Herkunft...9 2.3 Zum Begriff des Fundamentalismus...9 2.3.1 Der allgemeine religiöse Fundamentalismus...9 2.3.2. Der Islamische Fundamentalismus...10 2.4 Theorien der religiösen Konversion im Islam...11 3. Methode... 13 3.1 Entwicklung einer offenen Forschungsfrage...13 3.2 Bestimmen der Untersuchungseinheit...13 3.3 Beschaffung der Informationen...14 3.3.1 Literatur...14 3.3.2 Gespräch mit Fachpersonen...14 3.4 Auswerten und Analysieren der Ergebnisse...16 3.5 Festhalten meiner gewonnenen Erkenntnisse...16 4. Darstellung der Ergebnisse... 17 4.1 Der/Die richtige/r Muslim/in verschiedene Anschauungen dazu...17 4.2 Die Attraktivität des Islams für junge Menschen...17 4.3 Konversion oder Bekennung zum Islam...18 4.3.1 Gründe für die Konversion oder Bekennung zum Islam bei Jugendlichen...18 4.3.2 Die Rolle des Milieus der betroffenen Person bei der Konversionsfrage...22 4

4.4 Islamischer Fundamentalismus in der Schweiz...22 4.4.1 Individuelle Sichtweisen des Fundamentalismus in der Schweiz...22 4.4.2 Gefahren bei Jugendlichen, die unter der Beeinflussung des Islamischen Fundamentalismus stehen...23 5. Diskussion der Ergebnisse... 24 5.1 Der richtige Muslim eine Utopie...24 5.2 Vergleich der Gründe der Konversion oder Bekennung zum Islam mit den Theorien wieso wird man streng religiös?...24 5.3 Gibt es Milieus, die mehr zu fundamentalistischen oder liberalen Einstellungen neigen?...26 5.4 Auslebung des Islams in der Schweiz...27 5.4.1 Kann man den Islam in der Schweiz überhaupt ausleben?...27 5.4.2 Wie geht man mit dem Phänomen des Fundamentalismus um?...28 5.4.3 Wie soll man sich verhalten, um Personen aus dem System des Fundamentalismus herauszuholen?...29 6. Schlussfolgerungen... 30 7. Reflexion der Arbeitsweise... 31 8. Zusammenfassung... 32 9. Literaturverzeichnis... 34 5

1. Einleitung Als Tochter eines muslimischen Vaters und einer christlichen Mutter war ich schon früh mit der isla- misch- arabischen Kultur vertraut. Obwohl in unserer Familie der Islam nicht praktiziert wird, prägen einige islamische Wertvorstellungen unser Zusammenleben und es finden viele kritische Auseinan- dersetzungen mit dem Islam statt. Auslöser, diese Arbeit zu schreiben, war ein Wiedersehen mit Nadia Al- Chalid, einer guten Bekannten unserer Familie, die sich in der Zwischenzeit intensiv dem Islam zuwandte. Dieses Wiedersehen beschäftigte mich sehr und ich fragte mich, was ich denn tun könnte, um sie aus dieser meiner damaligen Ansicht nach strengen Praxis des Islams herauszuho- len. In den Medien erschienen immer mehr negative Berichte über den Islamischen Zentralrat Schweiz und ich begann mich dafür zu interessieren, wieso junge Menschen zum Islam konvertieren oder streng religiös werden. Ich wollte mich mit meiner relativ neutralen Haltung, aber mit einem kritischen Auge, auf die Suche machen und wünschte intensive Gespräche mit betroffenen jungen Menschen machen zu können, um sie von innen heraus zu verstehen. Ich entschied mich deshalb, Interviews mit unterschiedlichen Menschen zu führen, um das Phänomen der Konversion oder Be- kennung zum Islam von verschiedenen Seiten her zu betrachten und so verschiedene Meinungen und Ansichten kennenzulernen. Daraufhin entwickelte ich meine Leitfrage, auf welche die ganze Arbeit aufbaute: Was sind die Umstände, die dazu führen, dass junge Menschen zum Islam konvertieren oder wenn sie schon Muslime sind, plötzlich streng religiös werden? Um meine Leitfrage beantworten zu können, stellte ich weitere Teilfragen: 1. Wodurch zeichnet sich der Islam aus? Was ist ein richtiger Muslim? Was macht den Islam für Menschen attraktiv? 2. Wie zeigt sich islamischer Fundamentalismus in der Schweiz? Welche Gefahren für junge Menschen verbergen sich bei der Beeinflussung des islamischen Fundamentalismus? 3. Wie geht man mit dem Phänomen des Fundamentalismus um? Wie verhält man sich sinnvoll gegenüber Personen, die zum Fundamentalismus neigen? 4. Konversionsfrage: In welchem Milieu leben die interviewten Menschen vor und nach der Konversion? Gibt es Milieus, die mehr zu fundamentalistischen oder liberalen Einstellungen neigen? Was spielt das Milieu der betroffenen Personen bei der Konversionsfrage für eine Rolle? 5. Kann man den Islam in der Schweiz überhaupt ausleben? 6

2. Theorieteil 2.1 Die Grundzüge des Islams Der Islam gilt mit seinen ca. 1,5 Milliarden Anhängern/Anhängerinnen (Kessler, Bühler, Bühlmann, 2009, S. 239) als zweitgrösste Religionsgemeinschaft der Welt. Seinen Ursprung hat der Islam auf der arabischen Halbinsel, im Gebiet des heutigen Saudi- Arabiens. Heute leben jedoch die grössten mus- limischen Bevölkerungsgruppen, also rund zwei Drittel der muslimischen Weltbevölkerung, in Indo- nesien und auf dem indischen Subkontinent. Die restlichen ca. 400 Millionen Muslime befinden sich auf dem afrikanischen Kontinent, im Nahen und Mittleren Osten, Zentralasien sowie in etwa 100 weiteren Ländern. Infolge von wirtschaftlich und politisch bedingten Migrationsströmen haben sich seit einigen Jahrzehnten immer mehr Muslime im Westen niedergelassen (vgl. Behloul, Lathion, 2007, S. 194). Der arabische Begriff Islam bedeutet Ergebung, Hingabe (an Gott). Muslime verstehen darin also die vertrauensvolle Hingabe an den Willen Gottes (vgl. Behloul, Lathion, 2007, S. 195). Für die Mus- lime gilt der Islam als Urreligion der Menschheit und ist für sie somit die endgültige Form des Mo- notheismus (vgl. Kessler et al., 2009, S. 250). Der Islam bildet keine homogene Gruppe und wird je nach Herkunftsland unterschiedlich gelebt, jedoch fühlen sich alle Muslime der weltweiten Solidargemeinschaft, der Umma zugehörig. Der Lebensweg des Propheten Mohammed, welcher um 570.n.Chr geboren wurde, gilt allen Muslimen als vorbildlich (vgl. Kessler et al., 2009, S. 239). 2.1.1 Der Prophet Mohammed Der Prophet Mohammed wurde in Mekka, im heutigen Saudi- Arabien geboren. Ab seinem 40. Le- bensjahr bis zu seinem Tod erhielt er laut islamischer Überlieferung mehrere Offenbarungen von Gott, welche sich später im Koran wiederfanden. Für die Muslime ist er der Überlieferer des Wortes Gottes und der letzte Prophet (vgl. Behloul, Lathion, 2007, S. 196). 2.1.2 Quellen des Islams Der Koran (wörtlich: Rezitation) gilt für gläubige Muslime als das unmittelbare, direkt von Gott of- fenbarte Wort. Der Koran ist weder chronologisch noch thematisch aufgebaut. Darin zu finden sind unter anderem Warnungen vor dem Jüngsten Gericht, Propheten- und Straflegenden, Empfehlungen ethisch- moralischen Charakters und Vorschriften zum Ehe-, Familien- und Erbrecht (vgl. Kessler et al., 2009, S. 244). Die Sunna (wörtlich: Brauch/überkommene Norm) ist die zweite Hauptquelle. Sie meint die vorbild- lich angesehene Lebenspraxis des Propheten Mohammeds, welche für alle Muslime als Verhaltens- 7

norm gilt. Diese sind in den Ahadith (arab. Berichte, Erzählungen) zu finden. Es ist nicht festgelegt, welcher Hadîth wahr ist und welcher nicht, da diese über Generationen mündlich überliefert wurden. Es ist die Aufgabe der islamischen Wissenschaft die Glaubwürdigkeit der Person, die den Hadîth überliefert hat, zu überprüfen (vgl. Kessler et al., 2009, S. 244). Die Scharia (arab. gebahnter Weg ), also das islamische Gesetz beruht auf den beiden Hauptquel- len, dem Koran und der Sunna und ist somit göttlichen Ursprungs. Sie umfasst alle Bereiche des Le- bens, die gesamte Rechts- und Werteordnung des Lebens eines Muslims (vgl. Kessler et al., 2009, S. 246). 2.1.3 Glaubensinhalte und die fünf Säulen des Islams Die Glaubensinhalte des Islams beinhalten den Glauben an: 1) die Einheit Gottes, 2) die Propheten, 3) das Jüngste Gericht und 4) die Engel (vgl. Kessler et al., 2009, S. 252). Ein/e gläubige/r Muslim/in sollte die fünf Säulen des Islams erfüllen. Diese sind: 1. das Glaubensbekenntnis (shahada) 2. das rituelle Pflichtgebet, fünfmal täglich zu verrichten (salat) 3. das Fasten im Monat Ramadan (saum) 4. die Pflichtabgabe für die Armen (zakat) 5. die Wallfahrt nach Mekka (wenigstens einmal im Leben) (hadsch) (vgl. Kessler et al.. 2009, S. 252, 259; Behloul, Lathion, 2007, S. 194) 2.1.4 Hauptrichtung innerhalb des Islams Die Mehrheit der Muslime (ca. 85-90%) gehören den Sunniten (arab.: sunna: die verbindliche Norm oder Tradition des Propheten Mohammed) an. Die zweite Gruppe wird durch die Schiiten (shiat Ali: die Partei Alis) (ca.10-15%) gebildet (vgl. Kessler et al., 2009, S. 273). Aufgrund der Uneinigkeit inner- halb des Islams über den politischen Führer nach dem Tode Mohammeds im Jahre 632, spalteten sich die Muslime (vgl. Behloul, Lathion, 2007, S. 194). Die Richtung der Aleviten (türk. Alevi: Anhänger von Ali ) ist im 13-16. Jh. in Anatolien entstanden. Sie verehren Ali ibn Talib, den Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammeds. Wie auch die Sunniten und Schiiten glauben sie an die Einheit und Schöpferkraft Gottes. Jedoch haben sie ein an- deres Verständnis von Gott, dem Koran und von Gesetzen. Beispielsweise lehnen sie die Scharia ab (vgl. Kessler et al., 2009, S. 271-272). Der Sufismus ist die mystische Form des Islams. Sie ist im 7. Und 8. Jahrhundert mit dem Auftreten von Asketen entstanden, welche sich von der Welt abwandten, um sich ganz Gott hinzugeben. Das 8

wichtigste Ziel eines Sufis ist die Verinnerlichung des Eingott- Glaubens bis hin zur völligen Vereini- gung mit Gott (unio mystica). Hierfür verwenden sie oft die Ekstasetechniken wie Meditation und Gesang (vgl. Kessler et al., 2009, S. 272). 2.2 Verschiedene Richtungen innerhalb des Islams in der Schweiz Aufgrund von wirtschaftlichen (als Arbeitskräfte geholt) und politischen (Flüchtlinge und Asylsuchen- de) Gründen gab es in den letzten 30 Jahren eine Zunahme der islamischen Bevölkerung in der Schweiz. Während 1970 16 300 Muslime in der Schweiz lebten, stieg die Zahl im Jahre 2000 auf ca. 311 000 Muslime. Der Islam gilt mit ihren 4,3% als stärkste nicht- christliche Religionsgemeinschaft in der Schweiz. Zu erwähnen ist, dass die Hälfte der hier lebenden Muslime unter 25 Jahre alt ist (vgl. Behloul, Lathion, 2007, S. 197-198). 2.2.1 Geografische Herkunft Die Muslime in der Schweiz kommen aus verschiedenen Ländern und Kulturen und bilden keine Ein- heit. Mehr als 90% der hier lebenden Muslimen kommen aus dem europäischen Raum (Ex- Jugoslawien, Türkei) und praktizieren laut Baumann & Stolz einen gemässigten Islam. In ihren Her- kunftsländern waren Staat und Religion seit langer Zeit getrennt. Eine Minderheit kommt aus der Schweiz, Schwarzafrika, Asien, Maghreb- Staaten oder aus dem Nahen Osten (vgl. Behloul, Lathion, 2007, S. 198). Auch hat die Mehrheit der Muslime ein sehr individuelles Verhältnis gegenüber der eigenen Religion. Wichtig ist, dass nur Einzelpersonen und kleinere Gruppen unter den Muslimen in der Schweiz Verbindungen zu islamistischen Bewegungen haben und radikale Ansichten vertreten (vgl. Behloul, Lathion, 2007, S. 204-205). 2.3 Zum Begriff des Fundamentalismus Der Begriff Fundamentalismus hat den Ursprung im 19. Jahrhundert in einer religiösen Bewegung aus den USA. Sie entstand damals aus Bibelkonferenzen von protestantischen Kirchen, die den Bibel- glauben durch die Moderne bedroht sahen (vgl. Pfürtner, 1991, S. 47-48). Heute kann man den Be- griff Fundamentalismus so beschreiben, dass es sich um eine radikale Rückbesinnung zu den Wur- zeln handelt, man auf ein Fundament zurückgreift und unter Auslassung des zeitlichen Kontextes der angesehenen Wahrheit nach leben möchte. 2.3.1 Der allgemeine religiöse Fundamentalismus Der religiöse Fundamentalismus wird in der Literatur je nach Autor verschieden und mit anderen Schwerpunkten definiert. Nach Jäggi stellt der Fundamentalismus einen letztlich erfolglosen weil immer abwehrenden und damit gewaltsamen Versuch rückwärts gerichteter Rebellion gegen soziale Entfremdung, ethnisch- 9

kulturelle Entwurzelung, weltanschauliche Heimatlosigkeit und gesellschaftlichen Wertezerfall der Moderne und der Postmoderne dar (Jäggi, 1991, S. 15-16). Auch werden nach Jäggi Religionen dann fundamentalistisch, wenn sie zu Ideologien kristallisieren und damit Ausschliesslichkeit oder sogar Absolutheitscharakter beanspruchen. Diese würden dann fundamentalistisch, wenn deren religiöse oder nicht- religiöse Weltbilder, nicht oder nicht mehr reflektiert werden (Jäggi, 1991, S. 16). Stephan Pfürtner versteht unter Fundamentalismus ein Versuch, Menschen in ihrer Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit das Wagnis des Glaubens abzunehmen und ihnen dafür die Schein- Sicherheit eines festen, unveränderlichen oder autoritativ geschützten Lebensraumes anzubieten (KIPA vom 09.02.1989) (Jäggi, 1991, S. 25-26). Der religiöse Fundamentalismus ist also etwas, was aus der Perspektive des Fundamentalisten auf die einzige Wahrheit des göttlichen Wortes zurückgreift und diese unverändert durchzusetzen versucht. Diese Weltanschauung wird zu einer Ideologie, die laut Jäggi nicht mehr reflektiert wird und etwas Rückwärtiges hat, weil es nicht in die zeitliche Moderne hinein passt. Der Fundamentalis- mus gibt eine Art Lebenssicherheit, was aber eigentlich nur Schein ist. Ob es wie Jäggi meint ein gewaltsamem Versuch (Jäggi, 1991, S. 15-16) ist, sei dahingestellt. Wie Nicolas Blancho bemerkt, besteht die Gefahr darin, den Fundamentalismus mit Extremismus gleichzusetzen. Für ihn und Susanne Leuenberger ist Fundamentalismus nicht per se etwas schlech- tes (vgl. A3 Blancho, S. 78; A6 Leuenberger, S. 146). Extremismus hingegen ist wenn man sich auf etwas fanatisch fixiert und nichts anderes toleriert, respektiert und nicht mehr überlegen kann (A3 Blancho, S. 78). Der Fundamentalismus mündet in Extremismus, wenn es eine Radikalisierung gibt, man sein Ideal mit allen Mitteln durchzusetzen und das Andere sogar bekämpfen will. 2.3.2. Der Islamische Fundamentalismus Der Ursprung des islamischen Fundamentalismus liegt laut Christian Rudolp in der Gründung der Muslim- Bruderschaft (Jam îyat al- Ikhwân al- Muslimûn) in Ägypten im Jahre 1928 (vgl. Jäggi, 1991, S. 107-108). Zunächst meint der Begriff Fundamentalismus eine bestimmte Fachrichtung der Islam- wissenschaft (usuliyun), die sich auf ihre Urquellen und Fundament (usul), also auf den Koran und auf die Sunna berufen (vgl. Kienzler, 2007, S. 15). Usuliyun stellt hiermit die Zeit der Gemeinde Moham- med als Idealbild dar, das in der heutigen Zeit ohne Änderung umzusetzen wäre. Laut Schmid gilt der Islam als weltanschauliches System, das im Grunde alle Fragen und alle Probleme löst. Die Einheit von Politik und Religion, gilt demnach als Grundlage der politischen Anstrengung der usuliyun (vgl. Schmid, 1998). Der islamische Fundamentalismus meint also die Rückbesinnung zu den Wurzeln, zum Koran und der Sunna. Alles soll genau wie damals in die heutige Zeit übertragen werden. 10

2.4 Theorien der religiösen Konversion im Islam Monika Wohlrab- Sahr, Professorin für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig, stellt in ihrer Habilitationsschrift von 1998 drei Typen der Konversion zum Islam in Deutschland und den USA vor. Nach Wohlrab- Sahr ist die Konversion zum Islam eine sehr unwahrscheinliche Option. Wie in der Schweiz sind Konvertiten/Konvertitinnen in Deutschland eine kleine Minderheit unter den muslimischen Menschen. Auch würden laut Wohlrab- Sahr selbst Frauen, die mit Muslimen verheira- tet sind, nicht unbedingt zum Islam konvertieren. Sie versteht die Konversion zum Islam als eine Pro- blemlösung angesichts krisenhafter biographischer Erfahrungen bei der die drei verschiedenen Erfah- rungstypen durch die Konversion spezifische Lösungen finden (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 355). I Implementation von Geschlechtsehre: Hier geht es um das Problem der Sexualität und des Ge- schlechterverhältnisses. Laut Wohlrab- Sahr besteht der Erfahrungstypus einerseits in der Erfahrung persönlicher Herabsetzung wegen des Verstosses gegen Normierungen und Grenzziehungen im Bereich der Sexualität und des Geschlechtsverhältnisses und andererseits in der Erfahrung persönli- cher Verunsicherung aufgrund der Auflösung bestehender Geschlechterordnung. Die Konversion zum Islam ermöglicht eine Problemlösung, indem neue Grenzen, Regeln und Interpretationen einge- führt werden, die eine neue Ordnung im Bereich der Sexualität des Geschlechterverhältnisses ermög- licht, so dass der Wert der Person nach deren Ansicht wieder gesteigert wird (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 356). Der Islam bietet sich als Religion der Moral an (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 217-223). Ein Beispiel: Brigitte Haltun hat mit 31 Jahren eine Geschichte privaten und beruflichen Scheiterns hinter sich. Sie hatte eine schwierige Kindheit, ihr familiärer Hintergrund ist gekennzeichnet durch exzessiven Alkoholkonsum und Gewalt zwischen den Eltern. Sie erlebt immer wieder problematische Intimbeziehungen und fühlt sich materiell und sexuell ausgenützt. Schon im jungen Alter bekommt sie ein uneheliches Kind und hat insgesamt vier Abtreibungen hinter sich. Sie selbst verspürt eigene Verachtung. Sie heiratet einen 30 Jahre älteren Syrier und konvertiert später zum Islam. Nach einiger Zeit trägt sie ein Kopftuch. Als Muslimin geht sie davon aus, dass ihre offenen Haare auch dazu beige- tragen haben, dass sie in Affären verstrickt war. Durch die religiöse Begründung, ihr offen getragenes Haar sei als Sexsymbol Ursache der Affären, wird das Problem von der persönlichen Ebene auf eine allgemeine Ebene geschlechtstypischer Merkmale transformiert. Nicht sie persönlich ist das Pro- blem, sondern das Frauenhaar. Diese Ordnung entlastet Brigitte, indem die alten Erfahrungen neu interpretiert werden. Auch gibt es in ihrer neuen Ordnung eine Gegengabe : sie gibt ihre Sexualität preis, erhält dafür aber eine partnerschaftliche Bindung mit Familiencharakter. Wenn dies ausbleibt, wird die Sexualität zur Ware, was schlussendlich die Frau selbst entwertet. Die Konversion kann also zur Regenerierung der verletzten Ehre dienen (vgl. Wohlrab- Sahr, 1998, S. 132-135). 11

II Methodisierung der Lebensführung: Durch die Konversion kommt es zu einer symbolischen Um- wandlung, bei der das Verfolgen oder die Stabilisierung beruflicher Laufbahnen mit dem religiösem Engagement unmittelbar verbunden ist. Dies erfolgt laut Wohlrab- Sahr zum Teil wieder durch einen Anschluss an gewohnte Laufbahnen oder durch die Einspurung in eine Alternativkarriere (vgl. Wohl- rab- Sahr, 1999, S. 227). Wohlrab- Sahr fällt bei ihren Interviews auf, dass viele Konverti- ten/konvertitinnen sich dem Islam zu einem Zeitpunkt hinwenden, an dem ihre Bildungs- und Be- rufsverläufe destabilisiert sind und sie Misserfolge erleben. Viele würden dann im Zuge der Konversi- on diese Phase der Destabilisierung beenden oder neue Bildungs- und Berufslaufbahnen einschlagen und beispielsweise das Abitur nachholen oder eine Berufsausbildung abschliessen. Ausgenommen sind die muslimischen Konvertiten/Konvertitinnen im Bereich des Sufismus (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 224-225). Dort hat sie eher Tendenzen der Abkehr von Bildung und Beschäftigung gesehen. Dieser zweite Typus ist auch beim Scheitern/der Gefährdung von persönlichen/familiären Aufstiegsversu- chen und dem damit verbundenen Verlust der Anerkennung zu beobachten (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 356). Der Islam gilt als Religion der Disziplin (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 286-290). III Symbolische Emigration/Symbolischer Kampf: Ähnlich wie bei Zivilisationsflüchtlingen oder kulturellen Überläufern, die aus europäischen Raum kommen und sich in aussereuropäischen Län- dern niederliessen, da sie dort den Inbegriff des Anderen oder der Freiheit verstanden, funktioniert die symbolische Emigration. Die Konversion zum Islam ist teilweise mit realen Emigrationen verbun- den oder mit der Symbolischen. Laut Wohlrab- Sahr tritt sie über die Konversion zum Islam im ersten Fall als Möglichkeit auf, den konflikthaften symbolischen Rahmen zu verlassen. Im zweiten Fall reprä- sentiert sie die Abgrenzung vom gegebenen Kontext und einen Anknüpfungspunkt für eine ideelle Gemeinschaft (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 291-292). Die Person kann sich der zugeschriebenen kol- lektiven Identität nicht hingeben, was sozialer Ausschluss bedeutet. Andererseits kann es sein, dass alte Formen von Zuordnung nicht mehr in dem veränderten Kontext passen, so dass neue, globalere Abgrenzungsformen dazukommen, was dann eine symbolische Emigration meint (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 356). Ein Beispiel wäre eine ostdeutsche Frau in der Zeit der DDR: Sie soll die zugeschriebene Identität Helden des Widerstands übernehmen. Sie kann diese Identität aber nicht annehmen und hat keine Möglichkeit dem zu entrinnen. Mit der Konversion hat sie die Möglichkeit den konflikthaf- ten symbolischen Rahmen zu verlassen und sich abzugrenzen (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 292). Symbolischer Kampf würde hier meinen, den Islam als göttliche Gerechtigkeit anzusehen und den Gedanken/Wunsch zu haben, das andere, zum Beispiel das amerikanische Unrechtsregime zu be- kämpfen (vgl. Wohlrab- Sahr, 1999, S. 293-294). 12

3. Methode In diesem Kapitel werden meine Methoden und die verschiedenen Arbeitsschritte aufgezeigt und erläutert. Der Arbeitsprozess lässt sich grundsätzlich in fünf Gruppen einteilen: Entwickeln einer offenen Forschungsfrage und bestimmen der Untersuchungseinheit Sammeln der Informationen Auswerten und Analysieren der Ergebnisse Festhalten meiner gewonnenen Erkenntnisse 3.1 Entwicklung einer offenen Forschungsfrage Zu Beginn der Arbeit stellte ich mir folgende Leitfrage: Was sind die Umstände, die dazu führen, dass junge Menschen zum Islam konvertieren oder wenn sie schon Muslime sind plötzlich streng religiös werden? Bei der Leitfrage wollte ich mich einerseits mit dem Phänomen der Konversion, andererseits mit dem Phänomen der Bekennung zum Islam beschäftigen. Zusätzlich schränkte ich mein Untersuchungsge- biet auf Jugendliche ein, da mehr als die Hälfte der hier lebenden muslimischen Menschen unter 25 Jahre sind und es mir interessant erschien, weshalb junge Leute zum Islam konvertieren oder streng religiös werden. Zusätzlich kamen weitere Teilfragen hinzu, die meine Leitfrage unterstützen sollten. Meine Teilfragen sind zugleich meine Titel der Darstellung und Diskussion meiner Ergebnisse. Um die Leitfrage beant- worten zu können, schien es mir wichtig, zum einen die Frage der Konversion und zum anderen die Frage des Fundamentalismus untersuchen zu können. 3.2 Bestimmen der Untersuchungseinheit Meine Untersuchungseinheit bestand aus sechs Einzelfällen, die das Phänomen des Fundamentalis- mus und der Konversion/Bekennung zum Islam aus verschiedenen Perspektiven beleuchten sollten. Zudem wollte ich in meiner Arbeit einen Theoriebezug herstellen, um herauszufinden, ob Erkenntnis- se einer bestehenden Studie vergleichbar mit Ergebnissen meiner Arbeit sind oder ob sich noch zu- sätzliche Ergebnisse feststellen lassen. 13

3.3 Beschaffung der Informationen 3.3.1 Literatur Wie im Literaturverzeichnis festgehalten, beschränkte ich mich auf sieben Werke. Dank Empfehlun- gen von meinem Betreuer Herrn Zürcher und eigener Recherche fand ich gute Bücher, welche ich für meine Arbeit brauchen konnte. Als erstes beschäftigte ich mich mit dem Werk von Jasmin El- Sonbati. Die weitere Literatur verwendete ich vor allem für den Theorieteil. Für die Definition von Fundamen- talismus stützte ich mich auf die Quellen von Pfürtner, Kienzler und Jäggi. Um im Theorieteil allge- mein über den Islam und den Islam in der Schweiz zu schreiben, befasste ich mich mit dem Sachbuch Religionen von Kessler, Bühler und Bühlmann und dem Text zur religiösen Vielfalt in der Schweiz von Behloul und Lathion. Um meine Ergebnisse mit einer Theorie zu vergleichen, beschäftigte ich mich mit der Forschungsarbeit zur Konversion zum Islam in Deutschland und den USA von Wohlrab- Sahr. Zu erwähnen ist, dass ich praktisch keine Quellen zu den Gründen einer Konversion fand. Das Thema ist heute aber sehr aktuell und deshalb nehme ich an, dass in nächster Zeit mehr Forschungsarbeiten zu diesem Thema gemacht werden. Ursprünglich wollte ich zusätzlich noch den Koran als Quelle hin- zuziehen und herausfinden, was zu den einzelnen Themen wie zum Beispiel dem Kopftuch geschrie- ben steht, um Vergleiche ziehen zu können. Da es jedoch intensiver Koranstudien bedarf, um diesen als Quelle zu benutzen, habe ich darauf verzichtet. 3.3.2 Gespräch mit Fachpersonen Um meine Leitfrage und Teilfragen beantworten zu können, bediente ich mich der Methode der mündlichen Befragungen mit Interview, die ich an sechs Fällen anwandte. Ursprünglich wollte ich noch die Methode der teilnehmenden Beobachtung miteinbeziehen, jedoch hätte dies den zeitlichen Rahmen gesprengt. Um verschiedene Sichtweisen zum Thema Islam zu erhalten, suchte ich nach sechs verschiedene Menschen, die alle irgendwie mit dem Islam in Verbindung stehen. Ich be- schränkte mich auf muslimische Menschen aus dem nahen Osten, da es mich interessierte, ob ande- re arabische Muslime auch einen eher strengen Islam praktizieren wie Nadia Al- Chalid, die mich zu dieser Arbeit bewog. Zusätzlich nahm es mich Wunder, was arabische Muslime vom Islamischen Zen- tralrat halten und ob dieser wirklich so extrem ist, wie er in den Medien dargestellt wird. Glückli- cherweise haben sich alle sechs Personen nach einer telefonischen Anfrage oder nach einem Mail zu einem ca. zwei, in einigen Fällen sogar drei- bis vierstündigem Interview bereit erklärt. Die Interviews sind für meine Arbeit von grosser Bedeutung, weil die ganze Arbeit auf ihnen aufbaut. Ich habe des- halb für jede/n Interviewpartner/in individuelle Interviewfragen vorbereitet. Jedoch lagen alle in den gleichen Themenbereichen, wie Gründe der Konversion oder Bekennung zum Islam, Veränderungen der Einstellungen vor oder nach der Konversion/Bekennung, Stellung der Frau, islamischer Funda- mentalismus und über den Islamischen Zentralrat Schweiz. Die individuellen Fragen beinhalteten 14

persönlichen Ansichten über die eigene Lebensgeschichte oder über die Ausbildung. Im Folgenden werde ich meine Interviewpartner/innen kurz vorstellen: Nadia Al- Chalid (Name geändert) ist eine 24 jährige Frau, welche einen muslimischen Vater und eine christliche Mutter hat. Nadia Al- Chalid ist eine gute Bekannte unserer Familie und hatte mich inspi- riert, diese Arbeit zu schreiben. Sie wuchs als Muslimin auf, war aber nicht wirklich praktizierend. Nachdem sie arbeitslos wurde, beschäftigte sie sich immer mehr mit dem Islam und bekannte sich dann vor ca. vier Jahren definitiv zum Islam und ist heute sehr glücklich über ihre Entscheidung und fühlt sich viel freier. Claudia Al- Chalid (Name geändert) ist 47 Jahre alt und die Mutter von Nadia Al- Chalid. Sie ist Chri- stin und mit einem muslimischen Mann verheiratet. Sie erlebte den Wandel ihrer Tochter mit und hatte Anfangs sehr Mühe mit deren Entscheidung und fand sie eine Zeit lang ziemlich fundamentali- stisch. Heute hat sie die Entscheidung ihrer Tochter akzeptiert, auch wenn sie nicht immer ganz glücklich darüber ist. Nicolas Blancho ist 27 Jahre alt und stammt aus einer nicht sehr religiösen Familie. Mit 16 Jahren konvertierte er zum Islam und ist heute Präsident des Islamischen Zentralrats Schweiz. Der Verein wird von den Medien und im öffentlichen Raum oft als zu fundamentalistisch kritisiert. Mit dem Verein kämpft er für eine öffentlich- rechtliche Anerkennung des Islams in der Schweiz. Jasmin El- Sonbati ist 51 Jahre alt und hat einen ägyptischen Vater und eine österreichische Mutter. Im Alter von fünf Jahren zog sie mit der Familie von Österreich nach Ägypten und verbrachte dort ihre Kindheit. Im Alter von 11 Jahren zog sie mit ihrer Familie weiter in die Schweiz und lebt seitdem in der Schweiz. In ihrer Jugend erlebte sie viele Krisen und erhoffte sich durch die intensive Beschäf- tigung mit dem Islam, ihre Eltern mit den eigenen Waffen schlagen zu können und so mehr Freihei- ten zu erhalten. Heute ist sie eine kritische, fast abtrünnige Muslimin. 2010 veröffentlichte sie ihr erstes Buch Moscheen ohne Minarett, indem sie ihre persönliche Geschichte mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Islam schildert. Achmed Tuab (Name geändert) ist 60 Jahre alt und stammt aus Ägypten. Vor mehr als 40 Jahren zog er in die Schweiz, um zu studieren. Konfrontiert mit einer Gesellschaft, in der ihm Gut und Böse gleich schien, wendete er sich vermehrt dem Islam zu und wollte die Wahrheit herausfinden. Er ist mit einer Schweizerin verheiratet, welche auch zum Islam konvertiert ist. Achmed Tuab ist Imam und hilft immer wieder in verschiedenen Moscheen aus. Auch ist er im Stiftungsrat der DIGO (Dachver- band islamischer Gemeinden der Ostschweiz und des Fürstentums Lichtenstein) aktiv tätig. Susanne Leuenberger ist Doktorandin an der Universität Bern, Institut für Religionswissenschaft. Seit 2009 beschäftigt sie sich mit dem Dissertationsprojekt Halbmond und Schweizerkreuz: eine Studie 15

zu Schweizerinnen und Schweizer, die zum Islam konvertieren/konvertiert sind und wird es 2012 abschliessen. 3.4 Auswerten und Analysieren der Ergebnisse Mein Ziel war es, alle Interviews bis zu den Sommerferien zu organisieren und die ersten zwei Wo- chen dazu zu nutzen, die Interviews zu machen. Tatsächlich gelang es mir drei Interviews vor den Sommerferien und zwei in den Sommerferien durchzuführen. Da ich noch einen Imam suchen muss- te, verzögerte sich das Interview mit Achmed Tuab auf die erste Woche nach den Sommerferien. Gleichzeitig informierte ich mich über die Interviewpartner/innen, las mich in die Materie ein und begann Interviewbögen mit offenen Fragen zu schreiben. Da ich wusste, dass diese Interviews auch nachträglich relativ viel Zeit beanspruchen, verzichtete ich auf die vertiefte Einlesung in die Literatur und beschloss, den Theorieteil nach den Sommerferien zu schreiben. Entgegen meinen Vorstellungen beanspruchte die Transkription der Interviews aber enorm viel Zeit, so dass sich meine eigentliche Auswertung der Ergebnisse auf die Herbstferien verlegte. Da es sich einfacher gestaltet, Zitate und Aussagen direkt vom Blatt zu nehmen und so auch systematischer zu arbeiten, transkribierte ich alle Interviews. Mein Ziel war es, bei der Auswertung und Analyse meiner Ergebnisse alle Informationen der jeweili- gen Interviews, meinen Teilfragen systematisch zu zuordnen und so unterschiedliche Aussagen und Meinungen zu den verschiedenen Themen zu haben. In einem zweiten Schritt studierte ich die Aus- sagen genau und versuchte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Perso- nen herauszufiltrieren. Als nächstes zog ich teilweise noch den Theorieteil hinzu und versuchte Ge- meinsamkeiten und Unterschiede zu studieren und das ganze auch kritisch zu überdenken. 3.5 Festhalten meiner gewonnenen Erkenntnisse Meine neu gewonnenen Informationen fasste ich dann in einem Fliesstext zusammen und zitierte immer wieder Aussagen der Interviewpartner/innen. Die Erkenntnisse, die ich beim studieren der Literatur machte, hielt ich im Theorieteil fest. Dieser dient zur Unterstützung der Verständlichkeit meiner Arbeit. Im Diskussionsteil machte ich einen Bezug zu diesem und gab dort auch meine per- sönliche Interpretation preis. 16

4. Darstellung der Ergebnisse 4.1 Der/Die richtige/r Muslim/in verschiedene Anschauungen dazu Aus den sechs Interviews ergaben sich verschiedene Anschauungen dazu, was ein/e richtige/r Mus- lim/in ist. Aus objektiver Sicht und aus einem nicht- muslimischen Kontext meint Susanne Leunberger, dass es verschiedene Arten gibt, den Islam zu praktizieren und damit umzugehen. Laut Leuenberger ist die eigene Bezeichnung eines Individuums als Muslim/in genau gleichwertig, egal ob es der Su- per- Konvertit Nicolas Blancho oder jemand anders ist (vgl. A6 Leuenberger, S. 142). Für Nicolas Blancho ist ein/e richtige/r Muslim/in jemand der sich seiner eigenen Religion loyal zeigt, (...) sich mit dieser Religion identifiziert und diese Religion respektiert (vgl. A3 Blancho, S. 59). Blancho ist der Meinung, dass es ein breites Spektrum des Muslim- Seins gibt, aber ein Konsens über die fünf Säulen des Islams herrscht (vgl. A3 Blancho, S. 60). Demnach sollte sich ein/e Muslim/in die- se fünf Pflichten zu Eigen machen und versuchen, das Leben danach zu richten. Er/Sie muss nicht alles praktizieren, aber er/sie sollte wissen, dass es eigentlich gut wäre und es tun sollte. Die wichtig- sten Punkte sind laut Blancho, dass ein Muslim die Pflichten und Rechtslage des Islams als seine Massstäbe und schliesslich den Prophet Mohammed als Vorbild akzeptiert (vgl. A3 Blancho, S. 60). Nach Achmed Tuab kann man nicht definieren, was ein richtiger oder falscher Muslim ist. Gleich- zeitig ist laut Tuab jemand ein Muslim, wenn er die drei Blöcke des Islams erfüllt: 1. Die fünf Säulen des Islams, 2. Die sechs Glaubensgrundlagen und 3. Den Monotheismus und die Vereinigung der Namen und Eigenschaften Gottes und Gnade und Dienstlichkeit (vgl. A5 Tuab, S. 120). Jasmin El- Sonbati hat eine ganz andere Vorstellung vom richtigen Muslim. Für sie gibt es den Mus- lim oder die Muslimin nicht, (vgl. A4 El- Sonbati, S. 91) denn für sie ist der Islam ein Gebilde, das ab- soluten Pluralismus zulässt und wo alles möglich ist (vgl. A4 El- Sonbati, S. 84). Für sie steht nur die spirituelle Ebene des Islams im Vordergrund wie z.b. die Idee der Gemeinschaft und das Füreinander- Dasein (vgl. A4 El- Sonbati, S. 90). Sie lehnt alles ab, was totalitär ist oder Menschen, die sich religiös etikettieren. Ausserdem plädiert sie für eine persönliche Auseinandersetzung mit der Religion (vgl. A4 El- Sonbati, S. 91). 4.2 Die Attraktivität des Islams für junge Menschen Aus den Interviews ergaben sich zwei verschiedene Perspektiven, die subjektive Perspektive der Muslimen selbst und die objektiven Erklärungsversuche. Aus der subjektiven Perspektive werden mehrmals die Logik und die Einfachheit des Islams betont (vgl. A3 Blancho, S. 54; A1 Al- Chalid, N., S. 5). Daneben betonen alle interviewten Personen die Idee der Gemeinschaft, der Umma, das Da- sein füreinander, das Geben und die Ausrichtung der Religion auf die Gesellschaft, indem versucht 17

wird für die Gesellschaft und für jeden einzelnen Menschen ein Umfeld zu schaffen, indem es sich am Besten und am Weitesten entwickeln kann (vgl. A3 Blancho, S. 64; A1 Al- Chalid, N., S. 14; A4 El- Sonbati, S. 84,90). Für Nadia Al- Chalid und Nicolas Blancho ist das Familienbild etwas sehr attraktives und wichtiges, es bildet die Gesellschaft und es werden Vorsichtsmassnahmen getroffen, damit diese funktioniert (vgl. A1 Al- Chalid, N., S. 14, A3 Blancho, S. 63). Des Weiteren nennt Blancho die stärkere Moral (Gute Din- ge bleiben gut und schlechte Dinge bleiben schlecht), die klaren Normen, der Glaube an sich selber, das Bruderschaftsprinzip, die Gastfreundschaft, das frei sein (sich befreien von eigenen Begierden und weltlichen Verführungen) und dass obwohl es verschiedene Richtungen gibt, in den meisten Fällen einen Konsens herrscht, als etwas sehr attraktives (vgl. A3 Blancho, S. 64-65). Im Islam ist Gott absolut und es gibt keinen Menschenkult und keine Lehre der Dreifältigkeit. Attraktiv am Islam findet Nadia Al- Chalid, dass sie auf jede Frage eine logische Antwort erhält, niemand sie mehr liebt als Gott, sie als Mensch der Umwelt und den Mitmenschen etwas nützt, sie sich selbst sein kann und sie als Frau im Islam frei ist und Frauen wie Perlen beschützt werden müssen (vgl. A1 Al- Chalid, N., S. 4, 5, 9, 15). Jasmin El- Sonbati findet am Islam das schön und wichtig, was den Nächsten zum Ziel hat z.b. die Idee, dass der Reichere für den Ärmeren zu sorgen hat und die Idee der Gerechtigkeit (vgl. A4 El- Sonbati, S. 84, 90). Aus der objektiven Beobachterinperspektive betont sie das klare Regelwerk, also dass für Personen die Regeln wollen, im Koran alles geklärt ist, dass es viele Rituale gibt (für Men- schen, für die das spirituelle, die Anbetung wichtig ist), dass Arabisch eine schöne Sprache mit viel Inspiration ist und dass es für einige sicherlich ein Konzept für die Moderne ist (vgl. A4 El- Sonbati, S.92). Auch Susanne Leuenberger unterstreicht dies, in dem sie sagt, dass die religiösen Pflichten, welche mit dem Islam verbunden sind, den Tag strukturieren und den Menschen sagen, was sie zu tun haben. Bei uns in der Moderne ist vieles uns überlassen und wir müssen enorm viele Entschei- dungen selbst fällen (vgl. A6 Leuenberger, S. 138). 4.3 Konversion oder Bekennung zum Islam 4.3.1 Gründe für die Konversion oder Bekennung zum Islam bei Jugendlichen Im Folgenden werde ich die aus den Interviews hervorgegangenen Gründe erläutern. Aus den Unter- suchungen hat sich ergeben, dass es sowohl für die Konversion als auch für die Bekennung ähnliche oder gleiche Gründe gibt. Zusätzlich zu beachten ist das Kapitel die Attraktivität des Islams für junge Menschen. Konversion aus familiären Gründen: Susanne Leuenberger betont, dass die meisten Konversionen aus familiären Gründen stattfinden. So verliebt sich beispielsweise eine Frau in einen muslimischen 18

Nordafrikaner und begegnet dem Islam so zum ersten Mal (vgl. A6 Leuenberger, S. 138). Dies bestä- tigt auch Jasmin El- Sonbati. Ihre Mutter konvertierte im Laufe der Ehe schlicht aus dem Grund zum Islam, weil sie nach der Pensionierung nach Ägypten umziehen wollten und es so keine Probleme wegen den Erbschaftsgesetzen (als nichtmuslimische Frau hätte sie in Ägypten nichts geerbt) geben sollte (vgl. A4 El- Sonbati, S. 95). Hinwendung zur Religion durch eine Lebenskrise: Eine Krise, eine schwierige Situation wie bei- spielsweise Arbeitslosigkeit, die Pubertät oder eine Phase der Verunsicherung kann ausschlaggebend sein für eine Konversion oder Bekennung zum Islam. Eine solche Krise veranlasst laut Leuenberger überhaupt erst dazu, sich neu auszurichten oder eine Orientierungshilfe zu suchen. Das Bedürfnis nach Religion kann dann verstärkt werden, wenn es grosse Fragen gibt und man Halt sucht. Dieser Prozess erstreckt sich über einen langen Zeitraum. Man konvertiert nicht von einem Tag auf den anderen, sondern sucht in dieser Phase der Neuorientierung oder Neufindung nach verschiedenen Möglichkeiten (vgl. A6 Leuenberger, S. 139). Als Nadia Al- Chalid arbeitslos wurde, hatte sie viel Zeit und begann Bücher, vor allem über den Islam, zu lesen. Sie hatte viele Fragen und fand die für sie logischsten Antworten im Islam. In dieser Zeit machte sie sich viele Überlegungen zum Sinn des Le- bens und bezeichnet ihre Lebenskrise als immer auf der Suche nach dem Weg, wer ich sein will und was ich machen will. Sie suchte den Sinn im Glauben und fühlte sich immer mehr dem Islam zuge- hörig. Nun weiss sie, wofür sie jeden Morgen aufsteht, für was das sie sich bemüht oder auch einmal Rückschläge erträgt (vgl. A1 Al- Chali, N., S. 4, 5, 8). Ihre Mutter Claudia Al- Chalid betonte, dass ihre Tochter nach erneuter Arbeitslosigkeit noch extremer wurde, sich noch mehr in die Religion vertiefte (vgl. A2 Al- Chalid, C., S. 44). Nadia Al- Chalid war auf der Suche nach sich selbst und zog dann mit 21 Jahren, also etwa drei Jahre später, das Kopftuch an. Seither fühlt sie sich viel freier und selbstbe- wusster (vgl. A1 Al- Chalid, N., S. 12, 13). Susanne Leuenberger weist darauf hin, dass man die subjek- tive Beschreibung Ich fühle mich freier, wohler ernst nehmen muss, auch wenn wir in unserer Ge- sellschaft mit dem Islam kein Konzept der Freiheit verbinden. Eine kopftuchtragende Muslimin hat vielleicht ein anderes Verständnis von Freiheit. Wenn wir sagen: frei ist, wenn ich tun kann was ich will, sagt sie vielleicht: frei ist, wenn ich ein Kopftuch tragen kann und ich nicht belästigt werde (vgl. A6 Leuenberger, S. 138). Eine Hinwendung zur Religion durch eine Lebenskrise zeigt auch das Beispiel von Blancho. Er war ein rebellischer Junge, kannte keine Grenzen, hatte keine Ziele und hat- te irgendeinmal genug davon. Er suchte Antworten auf Fragen wie Wie kann ich das Leben erklä- ren? oder Ist das das, was ich aus meinem Leben machen sollte?. Durch den Kontakt zu einem Wandelprediger kam er zum Islam. Nach der Konversion hatte er plötzlich einen Drang nach Wissen, holte die Matura nach, begann zu studieren und hat heute eine andere Auffassung der Dinge und auch die Beziehung zu seiner Familie wurde viel besser (vgl. A3 Blancho, S. 55-58). 19

Eine Orientierungshilfe: Die Konversion oder Bekennung zum Islam kann auch ihre Ursache in der Moderne haben. Wir leben in einem säkularen Umfeld und werden vor viele Entscheidungen gestellt. Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe und insbesondere zum Islam, mit den vielen Regeln, gibt dem gewisse Grenzen und erleichtert somit für viele Menschen das Zurechtfinden in dieser Unordnung. Der Islam sagt den Menschen, was sie tun sollen, wie sie beten sollen, wie eine Familie aussehen soll und strukturiert somit den Tag der Person (vgl. A6 Leuenberger, S. 138). Das total narzisstisch freiheitliche und säkulare Umfeld der westlichen Gesellschaft, wo die Familie schon fast auseinanderfällt gibt dem Jugendlichen den Wunsch nach klaren Regeln und Halt in einer Gemein- schaft (vgl. A4 El- Sonbati, S. 83). Die religiöse Gruppierung bietet hier einen grossen Stützpunkt. Auf- gewachsen mit viel Freiheiten und Eltern, die nicht speziell religiös sind, rebellierte und machte Blan- cho in seiner Kindheit und Jugend alles, was er machen wollte, ohne jegliches Ziel zu haben. Der Is- lam strukturierte sein Leben und gab ihm Halt, so dass seine Auffassung der Dinge und seine Zielset- zungen sich veränderten (vgl. A3 Blancho, S. 55, 57). Konversion als eine Art Befreiung aus streng religiösen Kreisen: Jasmin El- Sonbati erwähnt ihre Be- obachtung, dass mehrheitlich Frauen aus einem sehr streng religiösen zum Islam konvertieren. Ein Mensch durchlebt eine Entwicklung, wächst auf, pubertiert, befreit sich von gewissen Dingen und wählt seinen individuellen Weg. Für Menschen, die aus einem sehr strengen Regelwerk kommen, kann die Aneignung eines anderen Regelwerks eine Art Befreiung sein, was sie aber laut El- Sonbati letztlich nicht ist. Jemand, der sich aus einem solchen Regelwerk befreit, wird wahrscheinlich ohne dieses gar nicht leben können, da er/sie den Halt verlieren würde. Deshalb sucht er/sie sich ein ande- res strenges Regelwerk, um sich zwar vom Alten befreien zu können, aber trotzdem den Halt nicht zu verlieren (vgl. A4 El- Sonbati, S. 83). Sich öffnen für etwas Neues: Wie aus den Medien und aus dem Volksmunde oft zu hören ist, wirft man den Konvertiten/innen oft vor, sie hätten Persönlichkeitsprobleme oder sonst irgendwelche Defizite und konvertieren deshalb zum Islam. Susanne Leuenberger sieht dies durch ihre Forschung aber nicht bestätigt. Man kann das Ganze auch anders betrachten. In den meisten Fällen handelt es sich um ein sich einlassen auf etwas Neues. Es braucht ein gewisses Interesse und eine gewisse Bereitschaft dazu, sich auf etwas Neues einzulassen und das Alte zu verlassen (vgl. A6 Leuenberger, S. 140). Dies ist sicherlich bei Nicoas Blancho der Fall, weil der Islam für ihn etwas Neues was, das ihn faszinierte. Auch Claudia Al- Chalid wurde durch die Heirat mit einem Muslim mit etwas Neuem kon- frontiert und versuchte sich auf den Islam einzulassen. Sie ist aber doch nicht zum Islam konvertiert, weil sie mit gewissen Dingen nicht einverstanden war (vgl. A2 Al- Chalid, C., S. 48). 20