Königs Erläuterungen und Materialien Band 455 Erläuterungen zu Franz Kafka Das Schloss von Martin Lowsky
Über den Autor der Erläuterung: Dr. Martin Lowsky, Studium der Romanistik, Mathematik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Tübingen und Heidelberg, Promotion 1975. Abhandlungen, auch Bücher, zur deutschen und französischen Literatur (Bloch, Fontane, May, Arno Schmidt, Storm, Valéry, Voltaire u. a.) und zur Pädagogik (Erich Fromm). Redaktionstätigkeit für das Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Husum) und die Forschungen zu Paul Valéry/Recherches Valéryennes (Universität Kiel). Unterrichtet an einem Gymnasium in Kiel. In der Reihe Königs Erläuterungen ist von Martin Lowsky zuletzt erschienen: Erläuterungen zu Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. 2. Aufl. 2006. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt oder gespeichert und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. 1. Auflage 2007 ISBN: 978-3-8044-1856-1 2007 by Bange Verlag, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten! Titelabbildung: Franz Kafka Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk
Inhalt Vorwort... 5... 6 1.1 Biografie... 6 1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund... 10 1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken... 14 2. Textanalyse und -interpretation... 16 2.1 Entstehung und Quellen... 16 2.2 Inhaltsangabe... 18 2.3 Aufbau... 32 2.3.1 Übersicht... 32 2.3.2 Örtlichkeit... 36 2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken... 37 2.4.1 Personen und ihre Beziehungen... 37 2.4.2 K., die Hauptperson... 38 2.4.3 Frieda... 42 2.4.4 Barnabas und seine Familie... 45 2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen... 47 2.6 Stil und Sprache... 52 2.6.1 Kafkas einfache Sprache: Scheu vor der Metapher... 53 2.6.2 Kafkas einfache Sprache: Die Freude am einzelnen Wort... 54 2.6.3 Der Name K.... 56 2.6.4 Erzählperspektive: Immer die Sicht des Helden K.... 57 2.6.5 Spannende Gespräche... 60 2.6.6 Der epische Zusammenhang: Ähnlichkeiten, Spiegelungen, ungewisse Vorausdeutungen... 63 2.6.7 Modernes Erzählen und der Humor... 66
2.7 Interpretationsansätze... 69 2.7.1 Das Schloss philosophisch: ein Roman des Existenzialismus... 71 2.7.2 Das Schloss philosophisch: ein Roman der Aufklärung... 73 2.7.3 Das Schloss poetisch: ein Abenteuerroman mit psychologischer Brisanz... 75 2.7.4 Das Schloss poetisch: ein sozialer Roman... 77 2.7.5 Schlussüberlegung: Grenzen des Interpretierens... 79 3. Themen und Aufgaben... 82 4. Rezeptionsgeschichte... 87 4.1 Das Schicksal des Schloss-Manuskriptes... 87 4.2 Faszinierte Leser, vielseitiges Forschen... 89 4.3 Kafka im 21. Jahrhundert... 93 5. Materialien... 95 5.1 Blicke in Franz Kafkas Werke... 95 5.2 Das Wort kafkaesk... 98 5.3 Wichtige Deutungen des Romans Das Schloss... 100 5.4 Der fehlende Schluss... 103 5.5 Behörden in totalitären Staaten wie in Kafkas Schloss... 105 5.6 Soziale Not... 108 Literatur... 110 4
Vorwort Vorwort Der Roman Das Schloss von Franz Kafka hat nur einen Schauplatz und umfasst nur sechs Tage. Seit seinem Erscheinen im Jahre 1926 hat er die Leser fasziniert, und er ist ein Lieblingsbuch von Philosophen und Ideologie-Forschern geworden. Dabei gibt es viele abenteuerliche und spannende Züge in dieser Schloss-Geschichte. Wir erleben da eine Welt, die trostlos ist und doch zum Lachen reizt. Es herrschen mächtige Beamte, die schließlich mit ihren Bergen von Akten nicht fertig werden. Im Mittelpunkt steht ein Held, der von ferne anreist und sich Arbeit, Lohn und menschliche Kontakte wünscht. Die Frauen freuen sich über seine Ankunft. Dieser Band von Königs Erläuterungen will den Leser durch Das Schloss führen, die Lektüre erleichtern und die verschiedenen Richtungen der Interpretation zeigen. Wir zitieren Das Schloss nach der Ausgabe des Verlages Reclam von 1996. Martin Lowsky Vorwort 5
1.1 Biografie 1.1 Biografie Jahr Ort Ereignis Alter 1883 Prag Franz Kafka wird am 3. Juli geboren. Seine Eltern sind der Kaufmann Hermann Kafka (Inhaber eines Schmuckwarengeschäfts) und seine Frau Julie, geb. Löwy. Sie sind jüdischer Herkunft. Mit Franz wachsen drei Schwestern auf: Gabriele ( Elli, geb. 1889), Valerie ( Valli, geb. 1890), Ottilie ( Ottla, geb. 1892). 1901 Prag Norderney Abitur am Staatsgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache Prag-Altstadt. Erste große Reise (mit einem Onkel). 1906 Prag Nach dem Studium an der Universität wird Kafka Dr. jur. (Doktor der Rechtswissenschaft). 1907 Prag Kafka tritt eine Stelle an bei den Assicurazioni Generali, einer italienischen Versicherung. 18 23 24
1.1 Biografie Jahr Ort Ereignis Alter 1908 Prag Erste Veröffentlichung: In der Münchner Zeitschrift Hyperion erscheinen acht Prosastücke. Sie und weitere Erzählungen bilden später (1912) den Band Betrachtung. Eintritt in die staatliche Arbeiter- Unfall-Versicherungs-Anstalt. Kafka ist zuerst Aushilfsbeamter und steigt später bis zum Obersekretär auf. 1909 Oberitalien Reise mit dem Freund Max Brod. 1910 Paris Reise mit Brod (bis 1912 weitere 1911 Friedland (tschech.: Frýdlant) in Nordböhmen 1913 Berlin Triest, Venedig Reisen mit ihm). Dienstreise: Verhandlungen mit Unternehmern über den Arbeitsschutz. (Weitere Dienstreisen nach Nordböhmen und Wien im Laufe des Berufslebens.) Kafka besucht Felice Bauer, die er 1912 in Prag kennengelernt hat. Erholungsreise. (In den folgenden Jahren weitere Reisen nach Zürich, Dänemark, Ungarn.) 1914 Berlin 1. Juni: Verlobung mit Felice; sechs Wochen später Entlobung. (Zweite Verlobung und Entlobung mit Felice 1917.) 25 26 27 28 30 30
1.1 Biografie Jahr Ort Ereignis Alter 1915 Prag Kafka wird für den Kriegsdienst tauglich befunden (Erster Weltkrieg), doch die Versicherungs- Anstalt erwirkt sein Verbleiben am Arbeitsplatz. Die Verwandlung erscheint. 1917 Prag Zürau (tschech.: Siřem), 75 km östlich von Prag 13. August: Kafka hat einen Blutsturz. Seine Lungentuberkulose bricht aus, die sich später auch zur Kehlkopftuberkulose entwickelt. Ab September 8 Monate wohnhaft bei seiner Schwester Ottla. Arbeit in der Landwirtschaft. 1919 Prag September: Verlobung mit Julie Wohryzek; im folgenden Jahr Entlobung. 1920 Prag März: Kafka lernt die tschechische Journalistin und Übersetzerin Milena Jesenská-Pollak kennen, in die er sich verliebt. Später Briefwechsel und gemeinsame Ausflüge. 1921 Matliary (Hohe Tatra) 8 Monate in einer Lungenheilstätte. (Weitere solche Aufenthalte vorher und danach.) 32 34 36 36 38
1.1 Biografie Jahr Ort Ereignis Alter 1922 Spindlermühle (tschech.: Špindlerův Mlýn) im Riesengebirge Prag Planá (Südböhmen) 1923 Müritz (heute Graal-Müritz) an der Ostsee Berlin 1924 Kierling bei Wien Ende Januar: Beginn der Arbeit an Das Schloss. Juni: Pensionierung wegen Krankheit. Juni September: Erholungsaufenthalt. Juli: Kafka lernt Dora Diamant kennen. Ab September: 6 Monate Zusammenleben mit Dora. Im Sanatorium. Kafka stirbt am 3. Juni. 38 39 40 40
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund 1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Böhmen und seine Hauptstadt Prag waren, als Kafka geboren wurde (1883), Teil der Monarchie Österreich-Ungarn Österreich-Ungarn. Die Bevölkerung Böhmens bestand aus Tschechen und einer großen deutschen und einer jüdischen Minderheit. Ähnlich wie im Deutschen Reich war die Zeit vor und um 1900 die Epoche des wirtschaftlichen Aufstiegs. Böhmen war der industrielle Hauptstandort von Österreich-Ungarn; es war führend in der Textil- und der Glasindustrie sowie in der Metallverarbeitung. Nur ein Drittel der Bevölkerung war in der Landwirtschaft tätig, während es in Österreich-Ungarn insgesamt 53 % waren. 1870 hatte sich die Sozialdemokratische Partei Böhmens gegründet, die für die Rechte der Arbeiter eintrat. Nach deutschem Vorbild wurde in Österreich-Ungarn eine Sozialgesetzgebung eingeführt, insbesondere 1889 eine Unfallversicherung für Arbeiter. Für diese staatliche Versicherung war Franz Kafka als Jurist tätig. Er bearbeitete die Forderungen von Unfallopfern und verhandelte mit Fabrikanten, die die Gefahren als gering angaben, um niedrige Versicherungsbeiträge zu bezahlen, und zu wenig für Arbeitsschutz sorgten. Es gab viele solche skrupellose Unternehmer. Der wirtschaftliche Aufschwung in Böhmen Böhmen um 1900 begünstigte das Nationalgefühl der Tschechen in kultureller und politischer Beziehung. Da in Österreich-Ungarn die Amtssprache deutsch war und da in Böhmen die Beamten oft der deutschen Minderheit angehörten, sahen sich die Tschechen unterdrückt. Sie erstrebten einen eigenen Staat. Dieser wurde 1918, am Ende des Ersten Weltkrieges, Wirklichkeit: Die Tschechoslowakei mit der Hauptstadt Prag wurde gegründet, Staatspräsident wurde 10
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund ein Philosoph, der Prager Professor Tomáš Garrigue Masaryk. Die Monarchie Österreich-Ungarn war in demselben Jahr untergegangen. Kafka, geboren als Österreicher, starb als tschechoslowakischer Staatsbürger (1924). Die Tuberkulose, eine Infektionskrankheit, die Kafka befiel, war damals unheilbar. Zu Kafkas Zeiten waren ein Zehntel aller Sterbefälle Tuberkulosekranke. Erst 1928 entdeckte der Brite Alexander Fleming die Antibiotika, was die Herstellung von Tuberkulose-Heilmitteln ermöglichte. 1905, als Kafka studierte, hatte Prag 450 000 Einwohner, davon waren 34 000, also knapp 8 %, deutsch sprechend. Jeder zweite dieser sich der deutschen Kultur Zurechnenden war Jude. Diese deutschen (einschließlich der jüdischen) Bevölkerungsteile waren das wohlhabende Bürgertum der Stadt. Sie konnten sich Dienstpersonal, zumeist tschechisches, leisten, so auch Kafkas Eltern. Ein Drittel der deutschen Bevölkerung gehörte allerdings der armen Unterschicht an. Es gab Antisemitismus in Prag und ganz Böhmen, er ging eher von den Tschechen als von den Deutschen aus. Der wirtschaftliche Aufschwung sorgte Aufblühen des Geisteslebens in Prag für ein Aufblühen des tschechischen und des deutschen Geisteslebens. Prag wurde eine internationale Theaterstadt, viele Stücke hatten hier ihre Premiere. Die Prager Universität war hochkarätig; als Student besuchte Kafka Vorlesungen bei dem großen Soziologen Alfred Weber, und 1911 hörte er einen Vortrag von Albert Einstein. Prag lag in der Mitte zwischen den Metropolen Berlin und Wien, die in sieben Stunden Bahnfahrt erreichbar waren. Passkontrollen gab es nicht, in Mittel- und Westeuropa galt in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg Reisefreiheit. Die Wiener Kaffeehaus-Atmosphäre mit ihrer intellektuellen Geselligkeit und ihren Dichtertreffs entwickelte sich auch in Prag, die 11