Das größte Gebot Markus 12, 28-34 28 Und es trat zu ihm der Schriftgelehrten einer, der ihnen zugehört hatte, wie sie sich miteinander befragten, und sah, dass er ihnen fein geantwortet hatte, und fragte ihn: Welches ist das vornehmste Gebot vor allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das vornehmste Gebot vor allen Geboten ist das: "Höre Israel, der HERR, unser Gott, ist ein einiger Gott; 30 und du sollst Gott, deinen HERRN, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften." Das ist das vornehmste Gebot. 31 Und das andere ist ihm gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Es ist kein anderes Gebot größer denn diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrlich recht geredet; denn es ist ein Gott und ist kein anderer außer ihm. 33 Und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte, von ganzer Seele, und von allen Kräften, und lieben seinen Nächsten wie sich selbst, das ist mehr denn Brandopfer und alle Opfer. 34 Da Jesus aber sah, dass er vernünftig antwortete, sprach er zu ihm: "Du bist nicht ferne von dem Reich Gottes." Und es wagte ihn niemand weiter zu fragen. Wenn Sie die Menschen heute fragen, warum es im christlichen Glauben geht, werden Ihnen die meisten vermutlich antworten: Um die Nächstenliebe. Doch diese Aussage stimmt höchstens zu einem Drittel. Neben der Nächstenliebe steht in unserem Text eigenartiger weise..wie dich selbst. Wenn wir das ernst nehmen, haben wir es im christlichen Glauben in seinem Kern nicht nur mit einem Doppel, sondern sogar mit einem Dreifachgebot der Liebe zu tun. 1
1- erstens: Die Selbstliebe, Selbstliebe und Nächstenliebe sind für Jesus ganz offensichtlich keine Gegensätze, zumindest, wenn man sie richtig versteht. Es wäre keine Lösung und auch nicht christlich, wenn wir eines Tages zu Menschen würden, die alle anderen auf der Welt liebten, nur sich selbst nicht. Nächstenliebe muss nicht auf Kosten der Selbstliebe und Selbstliebe muss nicht auf Kosten der Nächstenliebe gehen, sondern beides kann und soll Jesus zu folge, nebeneinander bestehen. Das hat den einfachen Grund, dass Liebe grundsätzlich unteilbar ist. Man kann die Liebe zu anderen nicht vor Liebe zu sich selbst trennen. Selbstliebe und Liebe zum anderen bedingen sich gegenseitig. Aber wir müssen differenzieren zwischen Selbstliebe und Selbstsucht. Die Selbstsucht ist ein Zeichen, dass jemand noch nach sich selbst sucht. Die Maßlosigkeit, mit der manch einer dies tut, ist ein klarer Hinweis dafür, dass er sich noch nicht selbst gefunden und darum auch noch nicht wirklich lieb gewonnen hat. Es ist ein größer Unterschied zwischen Selbstliebe und Selbstsucht. Ja, Man muss sogar sagen: Selbstsucht ist geradezu eine Folge davon, dass ein Mensch sich selbst nicht wirklich liebt. Er hat sich selbst nicht gefunden und angenommen und ist darum weiter auf der verzweifelten Suche nach sich selbst. Wenn wir unter Liebe folgendes verstehen: annehmen, zur Entfaltung bringen, behutsam mit jemandem umgehen, dann haben wir nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, uns selbst zu lieben. Wer sich selbst nicht mag sondern nur andere lieben kann, der liebt sie nicht. Darum ist es richtig und gut, dass das biblische Gebot die Nächstenliebe an die Selbstliebe koppelt ist. Wir alle wissen, wie schrecklich eine Selbstliebe ohne Nächstenliebe ist. Nächstenliebe ohne Selbstliebe ist aber nicht minder verhängnisvoll, weil diese Art von Liebe weder uns selbst noch dem anderen gerecht wird. Wir können uns erst dann wirklich hingeben, wenn wir uns selbst gefunden haben und uns selbst annehmen und bejahen, so wie sind. (Und so wie Gott es tut.) 2
2- Zweitens: Nächstenliebe, Nicht nur die Gegenüberstellung von Selbst-und Nächstenliebe ist eine Scheinalternative, sondern auch der vermeintliche Gegensatz von Nächsten und Gottesliebe. Das Gebot, Gott über alle zu lieben, ist die zentrale Forderung des Alten Testaments. Das Gebot der Nächstenliebe findet sich ebenfalls unter den 613 Einzelgeboten des Alten Testaments. Das Gebot der Nächstenliebe ist nicht eins unter vielen, sondern eignet sich ziemlich gut als Zusammenfassung aller moralische Gebote des Alten Testaments. Der Schriftgelehrte, der hier mit Jesus diskutiert, sieht die Dinge jedenfalls ganz ähnlich. Trotzdem war es von Jesus ziemlich revolutionär, die Nächstenliebe mit der Gottesliebe auf eine Stufe zu stellen. Und auf den ersten Blick klingt es auch nicht logisch. Das eine Gebot ist das höchste - doch das andere soll ihm gleich sein. Das klingt ein bisschen so, wie ein Kind sagt: Pizza ist mein Lieblingsessen, um dann sofort hinzuzufügen: Hamburger aber auch. Diese Gleichstellung des höchsten Gebotes der Gottesliebe mit demjenigen der Nächstenliebe macht nur Sinn, wenn wir es recht verstehen. Schließlich ist der Nächste, den es zu lieben gilt, ein Kind Gottes. Darum kann man nicht Gott lieben und gleichzeitig Gottes geliebten Kinder Schaden zufügen wollen, sie missachten oder gering schätzen. Der 1. Johannesbrief bringt das sehr schön auf den Punkt: Wenn jemand spricht, Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist Lügner (4, 20). und wie wir eben gesungen haben. Darum ist das Gebot der Nächstenliebe dem der Gottesliebe gleich: nicht weil der andere gleichrangig mit Gott wäre, sondern weil er ein geliebtes Kind Gottes ist - so 3
wie wir selbst. Ja, wir alle sind Kinder Gottes, darum tun wir gut daran, einander zu lieben. Der andere ist wie wir ein geliebtes Kind Gottes und hat daher genau wie wir das Recht, zu leben, zu lieben und zu geliebt zu werden, sein Gaben zu entfallen und sein Leben in Freiheit, Sicherheit und Frieden zu führen. Wie aber sollen wir den anderen lieben, der ja eben nicht nur so ist wie wir, sondern in vielerlei Hinsicht auch völlig anders: der manchmal eine geradezu schmerzhaft andere Sicht der Dinge hat, der andere Prioritäten setzt und andere Werte und vor allem oft auch einen völlig anderen Charakter besitzt? Das ist nicht einfach! Doch wie wichtig das ist habe ich im Sommer 2013 selbst erlebt, als unsere Kirchen in Ägypten brannten. Die Kirche hat beschlossen, wir wollen in all dem Schmerz genau mit dem Antworten, was den Kern und die Erfahrung unseres Glaubens ausmacht, so wie es dieses Gebot sagt: Mit Liebe. Wir haben in unsere Asche der verbrannten Kirchen Schilder der Vergebung gestellt, rufen zu Verständigung auf, praktizieren die Liebe indem wir nach wie vor unsere, in diesen Zeiten so wichtigen diakonischen Angebote, ALLEN und bedingungslos zukommen lassen. Und es hat gewirkt, diese Liebe der Christen hat die Leute berührt, sie hat es auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft und es hat gezeigt, dass es dass ist was die Menschen brauchen und das dies die einzige Lösung für Frieden ist: Liebe zu leben und zu praktizieren! Und ich Denke, auch die Sorgen um die Flüchtlinge hier in Deutschland kann nur mit gelebter Liebe einen Weg finden: in praktischer Hilfestellung, aber auch in der Bereitschaft zu Nähe und Gemeinschaft mit ihnen und der Bereitstellung von echten Chancen um hier anzukommen, Fuß zu fassen und Heimat zu finden. 4
3- Drittens, Gottesliebe. Das Gebot, Gott über alles zu lieben, schließt die Selbst und Nächstenliebe keineswegs aus, sondern grade ein. Die Liebe zu Gott ist Jesus zufolge zwar das höchste Gebot, als solches ist sie aber nicht exklusiv, sondern inklusiv zu verstehen. Wer Gott über alles liebt, nimmt seinem Nächsten und auch sich selbst nichts weg. Wir können unseren Nächsten wie auch uns selbst nie zu viel, sondern immer nur zu wenig lieben. Gott sieht es darum mit allergrößtem Wohlgefallen, wenn wir nicht nur ihn lieben, sondern auch unsere Mitmenschen und uns selbst. Wer mich liebt, soll auch die lieben, die ich liebe, scheint Gott zu sagen. Die Liebe zu Gott ist eine wichtige Hilfe, das unsere Selbst und Nächstenliebe in einer gute Waage bleiben. Zwar nimmt die Liebe zu Gott der Selbst und Nächstenliebe nichts weg, aber sie greift durchaus korrigierend in sie ein. Denn sowohl unsere Selbst als auch unsere Nächstenliebe haben die Tendenz, maßlos zu werden. So ich glaube, dass eine Liebe zu Gott, die auf Kosten der Selbst und Nächstenliebe geht, keine Gottesliebe ist. Im Mittelalter haben Menschen behauptet, Gott über alles zu lieben und deswegen Kreuzzüge vom Zaun gebrochen. Andere meinten, sich selbst deswegen peitschen und kasteien zu müssen. Das sind vielleicht extreme Beispiele, aber sie wiederholen sich in abgeschwächter Form bis in unsere Zeit hinein und zeigen uns, dass es sehr wohl eine falsch verstandene Gottesliebe gibt. Noch einmal sei darum auf Johannes verweisen: Wer behauptet, dass er Gott liebt, aber seinen Nächsten hasst, belügt sich selbst und andere. Liebe Gemeinde, wenn wir wissen wollen, wie man gleichzeitig Gott, den Nächsten und sich selbst lieben kann, sehen wir das bei niemandem besser als bei Jesus. Bei Jesus können wir lernen, wie sie aussieht. Er liebte seinem himmlischen 5
Vater, wie kein anderer Mensch das jemals getan hat. Gleichzeitig aber wandte er sich seinen Mitmenschen in einer Weise zu, die ihn über alle Zeit hinweg geradezu zum Inbegriff praktizierter Nächstenliebe werden ließ, obwohl er durchaus auch auf sich selbst achtete und Gott über alles stellte. Wenn wir also lernen wollen, wie das mit der Einheit der Liebe praktisch aussehen kann, schauen wir am besten gezielt in den Evangelien nach, indem wir sie mit dem Gebet auf den Lippen lesen: Herr, ich möchte Liebe von dir lernen. Amen 6