Mit den Augen hören mit den Händen sprechen In meinem Raum, da gibt es keine Wände, Es leben darin nur die Hände, Durch sie erstehen weltenweit, Das Wort, das Leben und die Zeit. (Anonym) I c h eri nnere m i c h n och ganz genau an den ersten Tag i n m e i ner G e h örl osen klasse. I c h betrat den K l assenrau m u n d acht K i n der ka m en w i l d gesti k u l ierend auf m i c h zu gerannt. N e u g ieri g w o l lten sie tausend D i n ge v o n m i r w i ssen. D e r G e bärdensprache nicht m ächti g, verstand ich n ur B a h n o f. I c h k o n nte n ur u nsicher lächeln u n d h o f fte, dass ich d iese Sprach barriere so schnell w i e m ö g l ich ü ber w i n den w ü r de. I c h begann, die ersten G e bär den zu ler nen u n d k o n nte m e i ne K i n der n u n i m m er besser verstehen. U n d d oc h ka m es v o r alle m i n den ersten W o c hen i m m er w i e der zu M i ss verständ nissen: W e n n ich zu m B e ispiel anstatt B rauchst D u W asser? B rauchst D u eine blaue M u t ter? f ragte u n d m i c h alle K i n der auslachten; o der ich ein m al v ö l l i g entsetzt zu m e i ner L e hreri n l ief, w e i l ich verstanden hatte, dass ein K i n d v o m B a u m gestürzt sei u n d n u n tot auf de m B o den l iege (es w a r glüc k l icher weise n ur ein V o gel, der aus seine m N est gefallen w ar...).
I n den f o l genden M o n aten bereitete m i r die Verständi gung i m m er w e n i ger Proble m e. M i t den H ä n den zu sprechen w u r de f ür m i c h das N o r m alste der W e lt. I c h nah m die B e h i n deru ng m e i ner K i n der kau m n och w a hr. A b er genau dari n lag m a n ch m al das Proble m. I c h vergaß i m A l l tag v ö l l i g, dass sie eben d och k ö r perlich beeinträchti g sind. So m iss verstand ich m a nch m al i hr Verhalten u n d i hre R ea kti o nen. A n f a n gs w u n derte ich m i c h o ft, w i e scheinbar grob u n d u n h ö f l ich die K i n der m i tei nander u m g i n gen. W ä h ren d ein H ö render es ge w o h nt ist, jede Frage i n u m ständliche u n d nichtssagende H ö f l i chs keitsfl os kel n zu verpac ken: K ö n ntest D u m i r v iel leicht einen B l eisti ft ausleihen?, sagten m e i ne K i n der: G i b den B l eisti ft her! u n d rissen de m anderen den Sti ft schon aus der H a n d. G e h örl ose k o m m e n gleich auf den Pun kt, w e n n sie et was sagen m ö c hten. D i es hat w e n i g m i t U n h ö f l i ch keit zu tun, sondern v iel m e hr m i t der Tatsache, dass die einzelnen G e bär den f ür all die H ö f l i c h keiten i m G espräch v iel zu v iel Z e it einneh m en w ü r den. I n dieser u n d i n v ielen anderen Sit uationen stellte ich i m m er w i e der fest, w i e sch w ieri g es ist, sich als H ö render i n die Situati on eines h örgeschädi gten M e nschen hi nei nzu f ü h len. K l ar, m a n kann sich m a l k u rz die O h ren zustöpseln, den T o n bei m Fernsehen w e gschalten o der sich m i t G e bärden verständigen. A b er w i r k l i ch v o rstellen, w i e es ist, gehörl os zu sein, das kann m a n nicht. V i el zu tief sind w i r i n die W e lt der G eräusche ver w u r zelt. T ä glich gehen w i r ans Telefon, w e n n dieses k l i n gelt,be mer ken i m Straßen ver kehr das herannahende A u t o u n d blei ben auf de m B ü r gerstei g stehen u n d m o r gens bei m Frühstüc k h ören w i r ganz u n be w usst die akt uellen N a c hrichten u n d verar beiten diese i m G e hirn. D e m G e h örl osen h i n gegen entgehen i m L a u fe dieser Z eit tausende I n f or m ati onen. I c h w a r i m m er w i e der ü berrascht, w i e w e n i g m e i ne K i n der w issen. V or alle m bei m sogenannten A l l ge m ei n w issen, eben de m W i ssen, w e l c hes m a n m e ist nebenbei au fschnappt u n d das nicht explizit i n der Schule gelehrt w i r d, w i esen sie riesige L ü c ken auf. D e n n die K i n der k ö n nen eben n ur die I n f or m ati o nen au f neh m e n u n d verstehen, die i hnen sehbar m i t geteilt u n d er klärt w e r den.
V or alle m abstrakte D i n ge sind f ür sie w a h nsinnig sch w ieri g zu begrei fen. W i e er klärt m a n eine m gehörlosen K i n d, w as B u c hstaben sind, w e n n es kei ne A h n u n g hat, w as S prache ist u n d dass m a n m i t B u c hstaben W o rte bildet? W as sind W o rte u n d w a r u m m uss m a n m a nche W o rte auch n och k o nj u g ieren, u m Sätze zu bilden... So v iele B e g r i f fe, m i t denen sie nichts anfangen k ö n nen! V or der H e rausforderu ng, eben diese B e griffe zu er klären, stehen die L e hrer i n den G e h örlosen k lassen jeden Tag. A u c h ich m usste m i c h bal d dieser A u f gabe stellen, als ich begann, m i c h i ntensi v m i t A n s hela zu beschäfti gen. Anshela war ein achtjähriges Mädchen aus meiner Klasse, das immer sehr große Konzentrationssprobleme hatte. Am Anfang des Schuljahres beherrschte sie kaum Gebärden, o b w o h l sie schon längere Z e it die B e h i n dertenschule besuchte. Es w a r sehr sch w ieri g, sich m i t i hr zu verständigen u n d v o m U n terricht verstand sie nichts. M e ist saß sie den ganzen Tag an i hre m T isch, starrte auf den B o den u n d w e i nte. I hre Fa m i le hatte große Sch w ieri g keiten, i hre B e h i n deru ng nachzu v ollziehen u n d gab sich deshalb kau m M ü he, sie i n den A l l tag einzubeziehen. A n s helas M u t ter m e i nte eines Tages sogar zu m i r, dass i hre T ochter w o h l auch geisti g behindert sei, da sie sich i m m er so begri f fsstutzi g v erhalte. Es ist eben u n g laublich sch w ieri g, sich i n die L a ge eines gehörl osen K i n des hi nei nzu versetzen. Einen Großteil des vergangenen Jahres verbrachte ich damit, Anshela ein paar elementare Dinge beizubringen; zum Beispiel ihren Namen, das Alphabet in Schrift- und Gebärdensprache und die Zahlen von eins bis fünf.
A l l ei n et wa v ier M o nate lang lernten w i r die Z a hlen. D as M ä d c hen k o n nte nie verstehen, dass es f ü r einen einzigen B e gri f f so v iele verschiedene Z eichen gibt. Z u m B e ispiel f ür d ie Z a h l V ier m usste sie das S y m b o l 4, das ausgeschriebene W o rt, d ie G e bär de, das i n G e bär den b uchstabierte W o r t u n d die Z a h len m enge lernen. E i n m al i n i hre L a ge versetzt, w a r auch ich erst mal v ö l l i g ver w i r rt u n d k o n nte i hre Sch w ieri g keiten absol ut nach v o l l ziehen. U m die K i n der nicht zu u nterschätzen o der sie gar f ür d u m m zu halten, m uss m a n sich i m m er w i e der i hre W a hrneh m u n g v erdeutlichen u n d sich täglich neue W e ge u n d M i t tel ü berlegen, u m i hnen die W e lt verständl ich zu m a c hen. D ass m e i ne L e h reri n diese H e rausforder ungen jeden Tag aufs N e ue be wälti gte u n d dabei stets m i t so gr oßer M o t i vati on n u n d Z u versicht an i hre A r beit gi n g, f i n de ich w a h nsinnig be w u n der ns wert. I c h habe u n glaublich v iel v o n i hr u n d v o r alle m v o n den K i n dern gelernt.
W e n n ich A n s hela i n den letzten W o c her n beobachtete, w i e sie glüc k l ich i n der K l asse saß u n d stolz v o r allen anderen K i n der n das W o rt V ier b uchstabierte, w usste ich, dass dieses Jahr et was gebracht hat. Im Laufe des Jahres war ich oft enttäuscht, da ich immer wieder merkte, wie wenig man in einer solch kurzen Zeit bewirken kann. D o c h ich habe gelernt,dass auch k lei ne Verbesserungen i m L e ben m e i ner K i n der riesige F ortschritte sind u n d ich m i t m e i ner A r beit ein bisschen dazu beitragen k o n nte. M a n kann i n eine m Jahr nichts großartig veränder n. A b er ein k lei nes b isschen eben d och. U n d darauf k o m m t es an.