Zusammenhalt und Solidarität auf dem Prüfstand: Die Sicht der Kantone

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Transkript:

ES GILT DAS GESPROCHENE WORT Sprechnotiz Zusammenhalt und Solidarität auf dem Prüfstand: Die Sicht der Kantone Staatsratspräsident Jean-Michel Cina, Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen 4. Nationale Föderalismuskonferenz vom 27./28. November in Solothurn Sehr geehrte Frau Bundesrätin Sehr geehrter Herr Landammann, sehr geehrte Mitglieder der Regierung des Kantons Solothurn Sehr geehrter Herr Präsident der ch Stiftung Sehr geehrte Damen und Herren Liebe Teilnehmende der 4. Nationalen Föderalismuskonferenz In seinem Gastbeitrag für die Jubiläumsschrift 20 Jahre KdK hebt Karl-Heinz Lambertz, langjähriger Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, die Verträglichkeit von weitgehender Autonomie und Identität einerseits sowie einer starken Kohäsion, von Solidaritätsmechanismen und einer ausgeprägten eidgenössischen Identität andererseits als charakteristisches Merkmal der Schweiz hervor. Die Schweiz und namentlich die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA) zwischen Bund und Kantonen lehre Europa, so Lambertz, dass übergreifende Solidaritätsmechanismen nicht im Widerspruch stehen zu einem wirklich gelebten Konnexitätsprinzip. Sprich: Solidarität und ein ausgeprägter (fiskalischer) Föderalismus passen sehr wohl zusammen. Geschätzte Damen und Herren: Solidarität und ein ausgeprägter Föderalismus schliessen sich nicht nur nicht aus. Ich bin überzeugt, dass der Schweizerische Föderalismus den solidarischen Zusammenhalt unseres Landes überhaupt erst ermöglicht und stark macht! Föderalismus heisst nämlich, dass die Kantone eigenständige politische Schwerpunkte setzen können, die für die jeweilige Bevölkerung stimmen. Dass unterschiedliche lokale Lösungen möglich und akzeptiert sind, trägt massgeblich dazu bei, dass sich unterschiedliche Kulturen und Sprachgemeinschaften und städtische und ländliche Gebiete mit dem grossen Ganzen, mit dem Bundesstaat identifizieren können. Der Föderalismus schweizerischer Prägung stärkt die lokalen Identitäten, weil spezifische Lösungen für spezifische Herausforderungen möglich sind. Lokale Lösungen reflektieren die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger und stellen eine grössere Bürgernähe her, als dies in zentral regierten Staaten möglich ist. Die direkte Demokratie ist eine zentrale Voraussetzung für die Partizipation der Schweizerinnen und Schweizer am Staat niemand würde dieser Feststellung widersprechen. Unser Staatsmodell erwartet von seinen Bürgerinnen und Bürgern, dass sie aktiv Verantwortung übernehmen für sich selber und für die Gesellschaft. Mit der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1999 dem wichtigen, ersten Schritt der grundlegenden Staatsreform in neuerer Zeit wurde der Gedanke, dass jede Person Verantwortung für sich selber wahrnimmt und gleichzeitig nach S:\4_KdK\48_Projekte-KdK\482_Nationale-Foederalismuskonferenz\4822_Entwürfe\Ref-4822-20141127-RRCina.docx

ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft beitragen soll, ausdrücklich in der Bundesverfassung verankert (Art. 6 BV). Dieser Artikel 6 der Bundesverfassung unterstreicht nicht nur die Verantwortung des Individuums für die Gesellschaft. Er nimmt gewissermassen auch jenes zentrale Prinzip vorweg, das 2008 mit dem zweiten Schritt der Staatsreform, mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA) zwischen Bund und Kantonen, ebenfalls zum ersten Mal ganz explizit in der Bundesverfassung verankert wurde: Die Subsidiarität. Ich verstehe Artikel 6 nämlich so: Grundsätzlich sollen die Bürgerinnen und Bürger für sich selber und für das Gemeinwesen schauen. Die solidarische Verantwortung für Gesellschaft und Staat liegt zuallererst in den Händen von Privaten. Der Staat greift nur unterstützend ein, wo Private eine Aufgabe nicht mehr selber wahrnehmen können. Das Subsidiaritätsprinzip geht davon aus, dass die Aufgabenerfüllung so nahe wie möglich bei den Bürgerinnen und Bürgern erfolgen soll und diese so auf die Ausgestaltung der Politik eher Einfluss nehmen können. Mit der NFA wurde es als Grundsatz für die Erfüllung staatlicher Aufgaben in der Bundesverfassung verankert (Art. 5a). Aber das Subsidiaritätsprinzip prägt unsere Idee des Gemeinwesens und der solidarischen Verantwortung noch viel grundlegender, wie Artikel 6 BV zeigt. Der dritte wesentliche Baustein für die Mitgestaltung der Bevölkerung neben direkter Demokratie und Subsidiarität ist das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz. Dieses bedeutet ganz einfach wer von einer Leistung profitiert, soll dafür bezahlen, und wer zahlt, entscheidet. Auch damit ist garantiert, dass vor Ort Lösungen gefunden werden, die von der Bevölkerung mitgestaltet und getragen werden. Die NFA war ein dringend nötiges Reformprojekt zur Stärkung der föderalen Strukturen der Schweiz. Der Staat und das sind sehr häufig die Kantone kann seine Aufgaben bürgernah und wirkungsvoll wahrnehmen. Die Klärung und die verstärkte Übertragung von Aufgaben an die Kantone hat dazu geführt, dass Entscheide vermehrt vor Ort gefällt werden. Die finanzpolitischen Instrumente der NFA wiederum vergrössern die Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Kantonen und garantieren damit deren Handlungsautonomie. Die Kantone können ihre Aufgaben nur wahrnehmen und ihren Gestaltungsspielraum nur dann nutzen, wenn sie über ein Mindestmass an Mitteln verfügen. Das ist eine wichtige Voraussetzung, denn: Können die Kantone ihre Wohnung nicht in Ordnung halten, dann besteht die Gefahr, dass das ganze Haus des Bundesstaates zusammenfällt. Ich habe nun ausführlich dargelegt, auf welche Art und Weise und mit welchen Instrumenten der schweizerische Föderalismus unterschiedliche Lösungen ermöglicht und lokale Identitäten stärkt. Und wie garantiert dies nun den Zusammenhalt im Bundesstaat? Meine Damen und Herren, geschätzte Anwesende: Die Präambel der Bundesverfassung betont nicht umsonst den Willen von Schweizervolk und Kantonen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben. Die Schweiz ist kein Nationalstaat, wir bilden keine kulturelle Einheit. Unser Bundesstaat wird getragen vom Willen zur Gemeinsamkeit, vom Willen, gemeinsame Ziele zu erreichen. Und von der grundlegenden Überzeugung, dass die lange gewachsene kulturelle und sprachliche Vielfalt unseres Landes unbedingt zu erhalten ist. Der Föderalismus bildet sozusagen die Klammer, die den Bundesstaat zusammenhält. Er erlaubt eine gesamtstaatliche Einheit bei grösstmöglicher Autonomie der Kantone. Er belässt Eigenheiten und stiftet trotzdem Identität, weil die 26 Kantone grundsätzlich gemeinsame Interessen haben. Der Föderalismus ist ein Bekenntnis zum Schutz von Minderheiten und zur Bürgernähe. Die Bundesverfassung von 1848 ist quasi das Dach, unter dem sich die Kantone gefunden haben. Für einen Staat wie die Schweiz, mit unserer Geschichte, mit unterschiedlichen Regionen, Sprachen, Kulturen, Konfessionen und Lebensweisen, wäre ein Zentralstaat nicht vorstellbar. Die helvetische Republik (1798-1803), das erste und einzige Experiment mit zentralen Strukturen, ist denn auch bereits nach 5 Jahren kläglich gescheitert. Erst die Garantie, vor Ort weiterhin autonom die eigenen Lebensräume gestalten zu können also ein Staat im Bundesstaat zu bleiben, erlaubte es den Kantonen, Ja Seite 2 / 5

zu sagen zum modernen Bundesstaat von 1848. Und damit gleichzeitig Ja zu sagen zu einer engen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit und zu einer Vielfalt von Lösungsansätzen. Was also trägt der Schweizerische Föderalismus zum Zusammenhalt und zur Solidarität bei? Weil viele Kompetenzen bei den Kantonen sind, kann die Bevölkerung in den verschiedenen Regionen, können sprachliche und kulturelle Minderheiten ihr eigenes Umfeld so gestalten, wie es ihnen entspricht. Das urbane Genf kann ohne Probleme anerkennen, dass das ländliche Appenzell Innerrhoden einen anderen Weg wählt wenn es auf den eigenen Lebensraum keine Auswirkungen hat. Auf diese Weise leistet der Föderalismus einen zentralen Beitrag zum Zusammenhalt der Schweiz: verschiedene Lösungen sind möglich und akzeptiert, damit alle zufrieden sind. Der Föderalismus ermöglicht es, Verschiedenheit in der Einheit zu leben. Erlauben Sie mir hier folgenden Gedanken: Damit andere Wege und Lösungsansätze verstanden und akzeptiert werden, braucht es aber selbstverständlich auch die Fähigkeit, den anderen zu verstehen. Das Verständnis der anderen Landessprachen und Kulturen ist der erste Schritt zur Solidarität und zur Kompromissfähigkeit. So viel Respekt und Solidarität ist fast schon langweilig, werden Sie denken. Zum Glück gibt es noch eine weitere tragende Säule des Schweizerischen Föderalismus, die etwas Schwung in die Sache bringt : der Wettbewerb zwischen den Kantonen. Mit Wettbewerb ist nicht nur der Steuerwettbewerb gemeint der sicher wesentlich dazu beiträgt, dass die Steuern in der Schweiz im internationalen Vergleich tief sind und die Gemeinwesen effizient. Mindestens so wichtig ist der Wettbewerb der Ideen: Je grösser der Gestaltungsspielraum der Kantone, desto innovativer und bedarfsgerechter können diese auf neue Herausforderungen reagieren. Die Schweiz verfügt über 26 Labore verschiedene Lösungsansätze werden erprobt, und die beste Lösung setzt sich irgendwann durch. Die Innovationsleistung der Kantone ist nicht zu unterschätzen: Nicht wenige Errungenschaften der Bundespolitik wurden zuerst auf kantonaler Ebene erprobt und haben sich dann langsam auch auf nationaler Ebene durchgesetzt. Denken Sie nur an das Frauenstimmrecht. Oder an den Finanzausgleich: In den Kantonen gab es Ausgleichsmechanismen, lange bevor auf Bundesebene ein Finanzausgleich konstruiert wurde. Die NFA stützt sich auf wertvolle Erfahrungen mit Modellen der Solidarität und des Ausgleichs auf kantonaler und kommunaler Ebene. Ein Kanton lernt vom anderen das gilt auch im Falle von nicht-so-guten Antworten. Es gehört zu den vielen Vorteilen eines föderalistisch organisierten Staates, dass schlechte politische Lösungen selten flächendeckend eingeführt werden. Die Pionierkantone praktizieren hier quasi eine weniger angenehme Form der Solidarität: Sie probieren aus, scheitern mit ihrem Lösungsansatz und zeigen damit anderen Kantonen auf, dass besser ein anderer Weg gewählt wird. Im Wettbewerb mit anderen Ideen und Modellen in anderen Gemeinden, Regionen oder Kantonen besteht ein riesiges Lernpotential. Der Föderalismus vergrössert die Wettbewerbsfähigkeit und Problemlösungskapazität des ganzen Landes. Er fördert die Innovation. Deshalb ist neben der Solidarität auch der Wettbewerb ein tragendes Element des schweizerischen Modells und sicher mit verantwortlich für den (wirtschaftlichen) Erfolg der Schweiz. Natürlich hat jeder Kanton, hat jede Region ihre Partikularinteressen und verteidigt diese mitunter vehement. Wenn es darum geht, die Bundesmittel für Infrastrukturprojekte zu verteilen, dann weibelt jede Region für sich. Es herrscht Konkurrenz um internationale Unternehmen und um Forschungsgelder. So wurden z.b. auf Druck der Regionen mehrere Alpentransversalen gebaut. Auch beim Anschluss ans europäische Hochgeschwindigkeitsverkehrsnetz oder bei der Vergabe der Standorte für die Bundesgerichte wollte keine Region zu kurz kommen. Aktuell bewerben sich mehrere Kantone als Netzwerkstandort für den Nationalen Innovationspark. Auch bei der Spitzenmedizin findet ein intensiver Standortwettbewerb zwischen Kantonen statt. Viele Kantone haben deshalb auch eigene Interessenvertreter in Bern. Divergierende Interessen sind auch bei der Weiterentwicklung des Finanzausgleichs auszumachen. Die aktuelle Diskussion rund um den 2. NFA-Wirksamkeitsbericht bzw. die Botschaft zur Festlegung des Ressourcen- und Seite 3 / 5

Lastenausgleichs für die Beitragsperiode 2016-2019 zeigt auf, wie schwierig es ist, eine gemeinsame Position zu finden. Dass im bewährten System des Finanzausgleichs gewisse Anpassungen nötig wären, wird zwar von allen Kantonen erkannt. Was die Frage der Umverteilung der Mittel und die Ausgestaltung der einzelnen Ausgleichsgefässe angeht, unterscheiden sich die Standpunkte jedoch deutlich. Angesichts dieser Differenzen zwischen ressourcenstarken und ressourcenschwachen Kantonen, die dann noch medial befeuert werden, geht aber leicht vergessen, dass die Kantone bei der NFA auch übergeordnete gemeinsame Interessen verfolgen. Alle 26 Kantonsregierungen sind nämlich der Auffassung, dass verbleibende Verbundaufgaben wie z.b. die individuelle Prämienverbilligung in der Krankenversicherung, die Ergänzungsleistungen von AHV/IV oder der Regional- und Agglomerationsverkehr auf sinnvolle Entflechtungen hin überprüft werden sollte. Damit soll auch dem anhaltenden Trend einer Verwischung der Zuständigkeiten und Finanzierungsverantwortung von Bund und Kantonen begegnet werden. Mit einer weiteren Aufgabenentflechtung können das in der Verfassung verankerte Prinzip der fiskalischen Äquivalenz und die Handlungsfreiheit der Kantone insgesamt gestärkt werden. Weiter verlangen die Kantone im Hinblick auf den 3. Wirksamkeitsbericht eine Analyse der Entwicklung der Lasten- und Einnahmenverteilung zwischen Bund und Kantonen und der Belastungen der Kantone aus dem Vollzug von Bundesrecht. Bei den Diskussionen rund um die NFA steht also nicht nur die horizontale Solidarität unter den Kantonen auf dem Prüfstand. Auch das solidarische Zusammenwirken zwischen Bund und Kantonen erfordert regelmässige Standortbestimmungen und ist partnerschaftlich weiter zu entwickeln. Umso wichtiger ist eine Plattform wie die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), die sich im Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und Solidarität meist elegant zu bewegen versteht verstehen muss. Die KdK setzt sich dafür ein, dass gemeinsam Lösungen gefunden werden können, von denen alle profitieren. Das ist zugegebenermassen nicht immer einfach, und manchmal können wir uns nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. Trotzdem ist dieser Interessenausgleich unter den 26 Kantonen eine nicht zu unterschätzende Leistung für den Zusammenhalt der Schweiz. Zwist und Differenzen zwischen den Kantonen schaden ihren Gesamtinteressen und schaden dem Zusammenhalt im Bundesstaat. Ein erfolgreiches Wirken der KdK setzt auch die Bereitschaft der Kantonsregierungen voraus, zugunsten einer gemeinsamen politischen Linie partikulare Interessen zurückzustellen. Insofern ist die im Rahmen der KdK gelebte Konsensfähigkeit auch Ausdruck eines solidarischen Regierungsverständnisses. An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass die KdK kein institutioneller Akteur und keine neue staatliche (Zwischen-) Ebene ist, geschweige denn sein will. Sie ist ganz einfach ein Instrument für die Kantonsregierungen, sich besser untereinander zu organisieren. Eine Plattform, die die Meinungsbildung unter den Kantonsregierungen ermöglicht und diesen erlaubt, eine gemeinsame Stimme zu finden. Sie müssen aber nicht! Jeder Kanton ist frei, sich anders zu äussern, als das die Mehrheit der Kantone tut. Und es gibt viele Themen, in denen gemeinsame Positionen nicht möglich oder nötig sind. Eine gemeinsame Stimme der Kantone stärkt aber auf jeden Fall ihre Interessen gegenüber dem Bund. Sie stärkt aber auch die Zusammenarbeit mit dem Bund. Der Zusammenhalt im Bundesstaat hängt nämlich nicht nur von der Solidarität der Kantone untereinander ab, sondern setzt auch eine Solidarität der Kantone gegenüber dem Bund und umgekehrt voraus, wie dies Art. 44 der Bundesverfassung festhält. Die KdK ist ein wichtiges Scharnier in der Zusammenarbeit mit dem Bund. Sie ermöglicht eine effiziente, enge und partnerschaftliche Kooperation zwischen den staatlichen Ebenen. Das politische System der Schweiz funktioniert nur dann, wenn alle Staatsebenen zusammenarbeiten und aufeinander Rücksicht nehmen. Die Solidarität muss horizontal und vertikal gepflegt werden. Seite 4 / 5

Mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA) zwischen Bund und Kantonen wurde auch die Zusammenarbeit im Bundesstaat gestärkt. Einerseits, weil die Aufgaben von Bund und Kantonen weitgehend entflechtet und die Zuständigkeiten klar geregelt wurden. Andererseits, weil die interkantonale Zusammenarbeit ausgebaut wurde. Die Kantone arbeiten tendenziell immer mehr zusammen und nehmen bestimmte Aufgaben gemeinsam war. Ich denke hier unter anderem an Bereiche wie die Hochschulen, die Polizei oder die Spitzenmedizin, aber auch an gemeinsame getragene Kultureinrichtungen, Gefängnisse oder Strassenverkehrsämter. Die regionale oder sogar nationale Zusammenarbeit stärkt die Solidarität: Eine Abstimmung über mehrere Kantonsgrenzen hinweg bedeutet, dass auf unterschiedliche Interessen Rücksicht genommen werden muss. Dass eine intensivere Zusammenarbeit unter den Kantonen und damit verbunden der Abschluss von Konkordaten zu einer regionalen oder allenfalls gesamtschweizerischen Harmonisierung bzw. Standardisierung führen, ist völlig klar. Dies darf aber nicht mit einer Zentralisierung verwechselt werden. Auch mit einem Konkordat bleibt die Zuständigkeit staatsrechtlich betrachtet auf der Ebene der Kantone. Wenn schon eine regionale oder gesamtschweizerische Angleichung nötig ist und das ist sie in bestimmten Fragen wie z.b. im Schulwesen zweifellos, dann soll diese im Einflussbereich der Kantone bleiben. Die Kohärenz ist damit viel besser gewährleistet. Wenn aber der Bund in kantonalen Bereichen immer mehr punktuell Regeln vorschreibt, dann bleibt irgendwann nur noch ein unübersichtlicher Flickenteppich von Zuständigkeiten übrig. Wie lautet das Fazit? Der Erfolg des Schweizerischen Föderalismus basiert auf einer fein austarierten Balance zwischen Wettbewerb und Solidarität. Wenn Karl-Heinz Lambertz die Kompatibilität von kantonaler Autonomie und bundesstaatlicher Solidarität, wie eingangs zitiert, als Besonderheit der Schweiz hervorhebt, dann hat er nicht unrecht. Es ist der Wille zur Zusammenarbeit und der Wille, die Vielfalt zu wahren und zu respektieren, die unser Modell auszeichnen. Das Dach des Schweizerischen Bundesstaates bietet Platz für unterschiedliche Kulturen, Sprachen und Traditionen. Der massvolle Wettbewerb zwischen den Kantonen schafft Anreize für bedarfsgerechte Lösungen, was wiederum die Schweiz als ganzes stärkt. Und der Respekt vor der gegenseitigen Eigenheit festigt die Solidarität. Die NFA war eine bedeutende und dringend nötige Erneuerung und Stärkung des Schweizerischen Föderalismus: Sie hat die Verteilgerechtigkeit zwischen den Kantonen und die Handlungsautonomie der einzelnen Kantone vergrössert und die Zusammenarbeit im Bundesstaat gestärkt. Es darf nicht sein, dass diese Errungenschaften aufgrund von erlauben Sie, nebensächlichen Differenzen aufs Spiel gesetzt werden. Als Vertreter der Kantone appelliere ich an meine Kolleginnen und Kollegen in den Kantonsregierungen: Eine starke Rolle im Bundesstaat, wie sie die Kantone haben und beanspruchen, bringt auch eine grosse Verantwortung für das Funktionieren des Bundesstaates mit sich. Die Solidarität zwischen den Kantonen ist eine Grundvoraussetzung für den Zusammenhalt der Schweiz. Sie darf nicht auf dem Prüfstand stehen! Um nochmals auf das Bild des Hauses zurückzukommen: Unser Haus hat 26 bunte Fenster unter dem Dach der föderalistischen Bundesverfassung. 26 Fenster, deren unterschiedliche Lichter weit strahlen. Manchmal strahlt das eine stärker als das andere, im Sommer ist das grüne Fenster kräftiger, im Winter das weisse (oder braune). Vielleicht strahlt das orange Fenster plötzlich so stark, dass andere Fenster das Geheimnis dieser Stärke gerne kennenlernen möchten. Und einmal muss das violette Fenster seine Strahlkraft etwas drosseln, weil es kaum mehr Energie hat, und die anderen müssen widerwillig einen Teil ihrer eigenen Strahlkraft zu dessen Gunsten abgeben. Denn alle im Haus sind sich einig, dass es die 26 Fenster mit ihren 26 verschiedenen Lichtern braucht, damit das Haus bunt bleibt und weiterhin weit strahlt. Damit es künftige Generationen inspiriert und vielleicht sogar Europa Seite 5 / 5