Rolf Theobold Christentum ist Barmherzigkeit Predigt über Mt. 18, 21-35 1. Nov. 2015, 9.30 Lukaskirche, 11.00 Uhr Pauluskirche Liebe Gemeinde! Mouhanad Khorchide, der Münsteraner Professor für Islamische Religionspädagogik titelt sein bundesweit bekannt gewordenes Buch mit Islam ist Barmherzigkeit. - Islam ist Barmherzigkeit ist zugleich die kompakte Kernaussage seines Buches. Khorchide begründet seine These u.a. damit, dass Barmherzigkeit diejenige Eigenschaft sei, die Gott im Koran am häufigsten zugerechnet wird. 1 Und er ergänzt das um den interessanten sprachwissenschaftlichen Hinweis, dass das arabische Wort rahma 2 für Barmherzigkeit, sich von rahim für Mutterleib ableitet, was bedeuten würde, dass Barmherzigkeit den Aspekt von mütterlicher Liebe hat. Islam ist Barmherzigkeit. Könnte man das auch für das Christentum sagen: Christentum ist Barmherzigkeit? Oder gäbe es für das Christentum andere und zutreffendere Kurzdefinitionen? Etwa Christentum ist Nächstenliebe? Christentum ist Gerechtigkeit? Christentum ist Moral? Christentum ist Anständigkeit? Und wie es mit Gott? Wird auch im christlichen Glauben oder in der Bibel Gott vor allem als der Barmherzige verstanden? Hören Sie dazu folgende Geschichte aus der Bibel (Mt 18, 21-35), die unser heutiger Predigttext ist: 1 Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Freiburg 2012. S. 31f. 2 Eine völlig korrekte Umschrift ist mit meinem Zeichensatz leider nicht möglich. Ersatzweise ist das "h" unterstrichen, um anzudeuten, dass es wie "ch" ausgesprochen wird. Erstellt von Rolf Theobold 151101Pr.(Christentum ist Barmherzigkeit, Mt 18, 21-35) Seite 1 von 6
Von der Vergebung (»Der Schalksknecht«) 21 Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal? 22 Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. 23 Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. 24 Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig. 25 Da er's nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen. 26 Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir's alles bezahlen. 27 Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch. 28 Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist! 29 Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir's bezahlen. 30 Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war. 31 Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte. 32 Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; 33 hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? 34 Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war. 35 So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder. Das Himmelreich gleicht einem König, der Erbarmen hat. Mit diesem Gleichnis sagt Jesus etwas ganz grundsätzliches über die Wirklichkeit Gottes. Und es ist unschwer zu erkennen, dass Erbarmen dabei zum Schlüsselbegriff wird. Allgemein formuliert könnte man sagen: Die Wirklichkeit Gottes wird darin erfahren, dass uns ein geradezu unglaubliches Erbarmen widerfährt, ein Erbarmen, das uns nun eigentlich wie selbstverständlich dazu verpflich- Erstellt von Rolf Theobold 151101Pr.(Christentum ist Barmherzigkeit, Mt 18, 21-35) Seite 2 von 6
tet, auch unseren Mitmenschen gegenüber Erbarmen zu zeigen. Erbarmen ist also das Schlüsselwort. Und Erbarmen und Barmherzigkeit hängen zusammen, das erste ist sozusagen der Vorgang, das zweite die Grundeinstellung. Insofern könnte man nun nach diesem Gleichnis sagen: Das Reich Gottes ist Barmherzigkeit. Und Sie liegen nicht falsch, wenn Ihnen dazu weitere biblische Gleichnisse einfallen. So z.b. der sich erbarmende Vater im Gleichnis vom "verlorenen Sohn". Auch sprachlich weißt die Bibel übrigens in exakt dieselbe Richtung wie der Koran. Das liegt zum einen daran, dass Hebräisch und Arabisch über die gemeinsame aramäische Sprachfamilie sehr eng verwandt sind. Die hebräischen Wörter für Erbarmen und Barmherzigkeit sind fast identisch mit den arabischen Wörtern. Die Wurzel lautet rhm. Es ist auch hier dasselbe Wurzel wie Mutterleib. Erbarmen und Barmherzigkeit haben also auch in der hebräischen Bibel den Aspekt mütterlicher Liebe. Da Jesus hebräisch-aramäisch gesprochen hat, wusste er um diese Wortbedeutung. Aber selbst als später sein Gleichnis auf Griechisch aufgeschrieben wurde, hat sich davon etwas erhalten. Im Gleichnis sind zwei griechische Wörter für Erbarmen enthalten. Wenn vom König die Rede ist, wird das Wort splangchniszomai verwendet. Diese Wort hat sprachlich ebenfalls eine enge Bindung an das Wort Mutterleib. Beim Schalksknecht, dessen fehlendes Erbarmen eingeklagt wird, wird hingegen die Vokabel ele'eo verwendet. Sie kennen das von "kyrie eleison" (Herr, erbarme dich!) Es hat etwas mehr den Aspekt von Mitleid haben. 3 Möglicherweise ist es für das Gleichnis von Bedeutung, 3 Vgl. dazu ThBLzNT, S. 52f. Erstellt von Rolf Theobold 151101Pr.(Christentum ist Barmherzigkeit, Mt 18, 21-35) Seite 3 von 6
dass im Griechischen dafür zwei verschiedene Wörter verwendet werden. Vermutlich die folgende. Wenn Gott schon wie eine Mutter in umfassender Weise sich über uns erbarmt, dann könnten wir wenigstens Mitleid haben mit den Menschen, mit denen wir so unsere Schwierigkeiten haben. Das größere Erbarmen Gottes für uns geht also immer dem kleineren Mitleid für unsere Mitmenschen voraus. Reich Gottes bedeutet also zu wissen, dass uns selber viel mehr Barmherzigkeit widerfahren ist, als wir jemals in der kleinen Münze des tätigen Mitleides ausgleichen könnten. Dass wir es trotzdem oft nicht tun, das, so sagt das Gleichnis, ist eigentlich ein unglaublicher Skandal. Im Reich Gottes geschieht also das Mitleid, die Barmherzigkeit, die ich anderen gegenüber empfinde und ausübe, stets aus einer unteren Position heraus. Es ist Barmherzigkeit von unten. Mir selbst, so sagt es das Gleichnis, ist wesentlich mehr vergeben worden, als ich nun auch anderen vergeben soll. Und wenn ich anderen vergebe, dann schaue ich nicht auf ihn herab, sondern zu ihm hinauf - im Wissen, dass ich dem anderen gar nicht so viel vergeben kann, wie Gott mir bereits vergeben hat. Ich sage es mal zugespitzt: der Christ, der mit jemand anderem barmherzig ist, weiß, das er selbst vor Gottes Augen eigentlich der größere Sünder ist. Das ist harter Tobak. Aber genau das ist es, was Jesus uns mit diesem Gleichnis zumutet. Und auch viele seiner anderen Gedanken weisen in diese Richtung. So redet er z.b. vom Splitter im Auge des Mitmenschen, aber vom Balken in unserem eigenen Auge. Christliche Barmherzigkeit ist also 'Barmherzigkeit von unten', weil uns selbst zuvor von ganz oben soviel Barmherzigkeit widerfahren ist, dass wir ein Leben lang keinen Grund haben, uns besser zu fühlen als andere. Gleichwohl habe ich manchmal das Gefühl, im Christen- Erstellt von Rolf Theobold 151101Pr.(Christentum ist Barmherzigkeit, Mt 18, 21-35) Seite 4 von 6
tum hat sich eine Art 'Barmherzigkeit von oben' eingeschlichen, eine subtil hochmütige Barmherzigkeit. Ich vergebe dem anderen, weil ich ja so gut und so gutmütig bin. Meine Vergebung, meine Barmherzigkeit ist sogar regelrecht ein Ausweis dafür, dass ich besser bin als der andere. Ich als guter Mensch lasse mich herab, mit demjenigen barmherzig zu sein, der es noch nicht geschafft hat, so gut zu sein wie ich. Das ist Barmherzigkeit von o- ben. Eine solche Barmherzigkeit kann vom Empfänger als sehr beschämend empfunden werden. Und eine solche Barmherzigkeit ist nichts anderes als moralischer Hochmut und verkennt den wahren Zustand, den wir alle in den Augen Gottes eigentlich haben: dass wir Wesen sind, die allesamt und umfassend auf Gottes Barmherzigkeit in einer Weise angewiesen sind, die übersteigt, was wir uns in der Regel vorstellen können. Wir sind alle Schalksknechte aber hoffentlich zunehmend mit der Einsicht verbunden, dass Gottes Barmherzigkeit uns nötigt, auch mit anderen barmherzig zu sein. Das ist ein Gegenprogramm gegen alles oberflächliche Gutmenschentum. Ich habe manchmal die Sorge, dass das Christentum für viele Menschen zu einer Religion bürgerlicher Anständigkeit verkommen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um konservative Anständigkeit handelt, oder um moderne progressive Anständigkeit. Die Grundidee dahinter ist, dass wir selbst mit etwas Anstrengung die Guten sind, weil wir uns richtig verhalten. Die anderen, die sich nicht so richtig verhalten, wie wir, für die haben wir oft wenig Verständnis, ärgern uns über sie. Manchmal sind wir sogar geduldig mit ihnen und nachsichtig, und bisweilen können wir ihnen sogar verzeihen, aber nur, wenn sie zuvor ihre Fehlerhaftigkeit eingestanden haben. Das alles, liebe Gemeinde, ist menschlich, aber nicht christlich. Um es nochmals zugespitzt zu sagen: Christentum ist kein Gutmenschentum, sondern "Vergebung der Erstellt von Rolf Theobold 151101Pr.(Christentum ist Barmherzigkeit, Mt 18, 21-35) Seite 5 von 6
Sünden". Und die "Gemeinschaft der Heiligen" ist nicht die Gemeinschaft der Anständigen, sondern die Gemeinschaft der Sünder. Martin Luther hat das auf den Punkt gebracht: Das Reich Christi ist ein sündhaftes Reich, kein Heiliger wird hier nicht sagen müssen: 'Oh, allmächtiger Gott, ich bekenne mich als einen armen Sünder, rechne du mir die alte Schuld nicht an!' Alle müssen das Liedlein singen: 'Vaterunser, vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern'. 4 Wir leben nicht aus unserem Gutsein, sondern aus Gottes Güte. Und weil uns selber soviel Barmherzigkeit widerfahren ist, was bleibt uns anderes übrig, als auch mit anderen barmherzig zu sein. Und wenn wir wirklich begriffen haben, mit wieviel Barmherzigkeit Gott uns begegnet, wenn uns das wirklich zu Herzen geht, dann können wir auch nicht mehr anders, als selber barmherzig zu sein. Insofern ist Barmherzigkeit für mich tatsächlich ein Schlüsselwort des Christentums, das aller Nächstenliebe und allem guten Handeln vorausgeht, weil alles in der zuvor erfahrenen Barmherzigkeit seinen tiefsten Grund hat. Oder um es nochmals in den Worten Jesu zu sagen: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lk 6, 36). Insofern kann man in der Tat sagen: Christentum ist Barmherzigkeit! - Amen. 4 Zitiert aus Luthers Brevier (Wartburgverlag 2013), S. 37. Erstellt von Rolf Theobold 151101Pr.(Christentum ist Barmherzigkeit, Mt 18, 21-35) Seite 6 von 6