Eine kleine Geschichte der Orgel

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Transkript:

Publiziert auf: http://www.walcker-stiftung.de/orgelgeschichte.html Eine kleine Geschichte der Orgel von Roland Eberlein I. Die Entwicklung der inneren Gestaltung der Orgel 7.»Unterscheidliche«Register Wie im Kapitel I. 6»Reihenstil«erwähnt, gab es im italienischen Orgelbau ab ca. 1475 Flötenregister, die nicht Teil des Principalchors waren, sondern zusätzlich zu den Principalreihen disponiert wurden und mit offenen, zylindrischen Pfeifen weiter Mensur besetzt waren. Historisch gesehen wurzelten sie wahrscheinlich in den Doppelchören des Blockwerks: Jede einzelne Tonhöhe wurde in der Regel mit mindestens zwei Pfeifen besetzt. Um gegenseitige Auslöschung durch Interferenz der Schallwellen zu vermeiden, mußte die eine Pfeife etwas enger mensuriert werden, so daß sie langsamer ansprach und schärfer,»streichender«klang, und die andere mußte etwas weiter mensuriert werden, so daß sie schneller ansprach und weicher, flötenhafter klang. 1 Bei der Aufteilung des Blockwerks in Einzelreihen mußten daher flötenhaft klingende Reihen entstehen, die daher als Flöten bezeichnet wurden. Die Tragweite dieser italienischen Neuerung ist kaum zu überschätzen. Hier kam eine völlig neue, grundlegend andere Idee in die Orgeldisposition hinein: Zum ersten Mal wurde eine Klangveränderung ermöglicht, die auf einer andersartigen Bauweise und Intonation von Pfeifen basierte, nicht auf dem Hinzufügen oder Wegnehmen von Pfeifenreihen. Diese Idee hat nachfolgend insbesondere den deutschen und niederländischen Orgelbau jahrhundertelang befruchtet, so daß hier immer mehr Register unterschiedlicher Konstruktion und Klangwirkung entwickelt wurden bis schließlich die Orgel zur Zeit von Michael Praetorius 2 als jenes Instrument erschien, das die Klänge aller anderen Instrumente und noch viele weiteren Klangmöglichkeiten in sich vereint, und deshalb die Bezeichnung»Königin der Instrumente«verdient. Die Springladen und die Flötenregister des italienischen Orgelbaus blieben den Orgelbauern im angrenzen den deutschsprachigen Alpenraum nicht verborgen. Etliche von ihnen haben diese Neuerungen in den 1490er-Jahren aufgegriffen. Sie beschränkten sich aber nicht auf die bloße Übernahme dieser Neuerungen, sondern entwickelten selber die gedeckten Flöten. Der früheste Beleg für eine gedeckte Flöte dürfte der 1497 mit Lienhart Louberer geschlossene Vertrag bezüglich einer neuen Orgel in der Stadtkirche von Zofingen sein, wo ein Register»»rechte flöuten, auch copell, das ist ein nüw flöten werk«erwähnt wird. 3 Copel oder Coppel war in den nachfolgenden Jahrhunderten die süddeutsche Bezeichnung für das Gedackt 8'. Der Erfinder der gedeckten Register wird aber wohl nicht Louberer gewesen sein, sondern wahrscheinlich ein anderer Orgelbauer. Der berühmteste und gesuchteste Orgelbauer unter Louberers Zeitgenossen war Burkhart Dinstlinger, der zwischen 1474 und 1507 in einem riesigen geographischen Raum von Südtirol im Süden bis nach Sachsen und Schlesien im Norden wirkte. Möglich war ihm dies mit Hilfe eines großen Mitarbeiterstabs, der weitgehend selbständig die von Dinstlinger übernommenen Aufträge erledigte. Dinstlinger hat mit einiger Sicherheit ebenfalls gedeckte Register gebaut, denn seine 1502 im Freiberger Dom gebaute Orgel enthielt solche Register laut einer Beschreibung von 1619. 4 Ob er ihr Erfinder war, läßt sich heute nicht mehr beantwor 1 Arnolt Schlick, Spiegel der Orgelmacher und Organisten, Speyer 1511, Kapitel 4. 2 Michael Praetorius, Syntagma musicum, Teil 2: De Organographia. Wolfenbüttel 1619, Reprint Kassel: Bärenreiter 1958, S. 85-86:»In summa die Orgel hat und begreifft alle andere Instrumenta musica, groß und klein/ wie die Nahmen haben mögen/ alleine in sich. [...] Darumb/ das sie alle andere Instrumenta, wie die auch mögen Nahmen haben/ in sich begreifft/ gleichsamb umbfenget und halten thut. Derhalben denn itzigerzeit/ bemelte Orgel gleichsamb vor einen König aller Instrumenten [...] billich gehalten werden sol.«3 Blätter für bernische Geschichte, Kunst- und Altertumskunde 3, 1907, S. 194. 4 Ulrich Dähnert: Historische Orgeln in Sachsen. Ein Orgelinventar. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1983, S. 105.

- 2 - ten. Aber sehr wahrscheinlich war er derjenige, der die gedeckten Pfeifen weithin bekannt gemacht hat: Durch die Vielzahl seiner Gesellen und Lehrjungen muß Dinstlinger einen erheblichen Einfluß auf den Orgelbau seiner Zeit ausgeübt haben. Das Auftreten der ersten gedeckten Register in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts war der Auftakt zu einer stürmischen, fast revolutionären Entwicklung des Orgelbaus im Gebiet nördlich der Alpen: Binnen weniger Jahre wurden zahlreiche neue Pfeifenformen und noch viel mehr neue Registernamen entwickelt und eingeführt: weit- und engmensurierte gedeckte Register wie Copel und Schellenpfeife oder Quintadena, weitmensurierte offene Flöten unterschiedlicher Tonlagen wie Hohlflöte und Gemshorn, engmensurierte offene Register wie Schwegel und Schweizerpfeife, sowie zahlreiche Zungenregister mit unterschiedlichen Aufsätzen wie Regal, Rauschpfeife, Zink, Krummhorn, Trompete, Schalmei und Posaune. Der vielleicht wichtigste Vertreter dieser experimentellen Phase im deutschsprachigen Orgelbau war Hans Suys aus Nürnberg, der möglicherweise ein Schüler von Burkhart Dinstlinger und ab 1500 in Köln ansässig war. Er arbeite te überwiegend entlang des Rheins von Straßburg bis zur Niederlande sowie in Antwerpen und Amsterdam. Hans Suys baute geradezu avantgardistische Orgeln: In einem 1509 geschlossenen Vertrag bezüglich einer neu zu bauenden Orgel in der Kathedrale von Antwerpen findet sich eine lange Aufzählung von allerneues ten Registern, welche die geplante Orgel enthalten wird, endend mit dem für Suys charakteristischen Satz:»... und noch mehr andere seltsame Stimmen, die noch nicht in Orgeln gehört worden sind.«5 Das Entwickeln von neuen, seltsamen und fremden Stimmen scheint ein Kernanliegen von Hans Suys gewesen zu sein; er hat dieses Ziel auch 1507 im Vertrag über die Orgel des Straßburger Münsters festschreiben lassen. Das Fazit aus dieser Experimentierphase hat Arnolt Schlick 1511 so formuliert:»vill register zü machen sein nit löblich/ nemlich die einander etwas gleich lautten. Sondern soll mann sich fleissen der yhennen die underscheidlich vor einander zü hören und zü kennen sein.«man solle also nicht viele Register machen, und schon gar nicht viele gleichartige Register disponieren, sondern solche Register, die unterschiedlich klingen (der Begriff»unterscheidliche Register«spielt auf dieses Zitat an). Dieser Einsicht folgend kristallisierte sich in den folgenden Jahrzehnten im süddeutschen Sprachraum eine feste Dispositionspraxis heraus: Neben einem Principalchor bestehend aus vier bis sieben Registern wurden wenige Register in der Äquallage und vereinzelt in der Oktavlage disponiert, die sich in der Praxis bewährt hatten und in der Klangfarbe stark unterschieden vom Principal, also»unterscheidliche«register sind, nämlich gedeckte Labialregister, offene Flöten in der Oktavlage, Zungenstimmen mit längeren trichterförmigen Bechern sowie kurzbecherige Regale. In der Regel waren die Orgeln von recht bescheidener Größe mit nicht mehr als zwei Manualen und ohne 16'-Register im Manual. Ein Beispiel für eine vergleichsweise stattliche, zweimanualige Orgel dieses Stils ist das weitgehend erhaltene Instrument, das Jörg Ebert 1555-60 in der Hofkirche zu Innsbruck erstellte: 5 Maarten Albert Vente: Bouwstoffen tot de geschiedenis van het Nederlandse orgel in de 16. eeuw. Amsterdam: H.J. Pa ris 1942, S. 103. Fig. 14: Innsbruck, Hofkirche, Chororgel von Jörg Ebert 1555-60. Foto: Tiroler Landesmuseum, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/file:ebertorgel.jpg

- 3 - Innsbruck, Hofkirche (Franziskanerkirche) 6 Jörg Ebert 1555-60 (heutige, rekonstruierte Disposition) II. Hauptwerk CDEFGA-g 2 a 2 Principal (Prospekt) 8' deckt Fleten 8' Trummeten 8' Regal(in der Brust) 8' Octaf 4' Quint 2 2/3' Quintez 2' Hörndl 2f. 1 1/3', 4/5' Hindersaz 5 10f. 2' Ziml 2f. 1/3', 1/4' I. Rückpositiv FGA-g 2 a 2 offen Fletl (Prospekt, auf C:) 4' zudeckt Fletl 4' Mixtur 3-5f. 2', 1 1/3', 1' Ziml 2f. rekonstr. 2/3', 1/2' Hörndl 2f. rekonstr. 2/3', 2/5' Pedal CDEFGA-b angehängt an Hauptwerk (eigene Ventile in Hauptwerkslade) Zitter (= Tremulant im Hauptwindkanal), Manualkoppel Charakteristisch für diesen Dispositionsstil ist das Fehlen von hohen Flötenstimmen jenseits der 4'-Lage. Die Orgelbauer nördlich der Alpen griffen zwar zunächst die italienische Springlade auf. Da aber eine Schleife erheblich einfacher und schneller anzulegen ist als (mindestens) 38 Ventilklappen pro Pfeifenreihe und obendrein auch noch weniger störungsanfällig ist, suchten sie bald die altbekannte Schleiflade so zu verbessern, daß die großen Pfeifen nicht mehr den kleinen Pfeifen»den Wind rauben«können. Dies erreichten sie, indem sie in die Kanzellen sogenannte Windschiede einleimten (Fig. 15): Fig. 15: Schleiflade mit Windschieden in den Kanzellen 6 Egon Krauss: Die Ebert-Orgel in der Hofkirche zu Innsbruck (1558). Ihre Geschichte und Wiederherstellung. Hg. von Markus Spielmann, Innsbruck: Edition Helbling 1989, S. 21-24.

- 4 - Die Orgel der Innsbrucker Hofkirche besitzt im Hauptwerk eine solche Schleiflade mit Windschieden. Dieser Ladentyp scheint im 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland weit verbreitet gewesen zu sein. Erst nach 1700, als man das Problem des unzureichenden Kanzellenquerschnitts erkannte und durch immer großzügigere Bemessung der Kanzellenquerschnitte nach und nach in den Griff bekam, gerieten die arbeitsaufwendigen Windschiede in Vergessenheit. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts blieb der Dispositionsstil mit»unterscheidlichen«registern weitgehend unverändert in Gebrauch, wie die ebenfalls erhaltene Chororgel der Wiener Franziskanerkirche zeigt: Wien, Franziskanerkirche, Chororgel 7 Johannes Wöckherl 1641-42 (Disposition laut Vertrag) Manual CDEFGA-c 3 Principal 8' Copln 8' Quintadena 8' Principaloctav 4' Copl Flötten 4' Quint 3' Superoctav 2' Mixtur 6f. 1 1/3',1, 2/3',1/2',1/3',1/4' Tremulant Brustpositiv CDEFGA-c 3 Copln (Holz) 8' Khrumphörner 8' Principal octav 4' Spüzflöten 4' Superoctav 2' Zymbel 3f. 2/3', 1/2', 1/3' Pedal CDEFGA-a offener Portuna (Holz) 16' Plochflötten (8', Prinzipalmensur) Pußauner 8' Octav 4' Quint 3' Mixtur 4f. 2', 1 1/3', 1', 2/3' Koppel I/II, Dremolant Manual, Sperrventile für Manual, Brustpositiv, Pedal In Bayern wurde dieser Stil im 17. Jahrhundert noch weiter vereinfacht, indem selbst in vergleichsweise großen Orgeln in München und Umgebung auf die pflegebedürftigen Zungenstimmen verzichtet wurde. Um 1700 wurde die Palette der»unterscheidlichen«register erweitert um weitere 8'- und 4'-Register von sehr charakteristischem Klang: Gambe, Salicional, Biffara und Traversflöte traten nach und nach hinzu (Kapitel I. 13). Nach 1800 wurde die»orgel mit Charakterstimmen«fortentwickelt zur romantischen Orgel mit dem Ziel der Ermöglichung von Lautstärkedynamik, also von dynamischen Kontrasten sowie von Crescendi oder Decrescendi (Kapitel I. 15). Bei allen diesen Fortentwicklungen blieb der ursprüngliche Dispositionsgedanke der Orgel mit»unterscheidlichen«registern unangetastet erhalten, wenn sich auch die Registerpalette im Laufe der Zeit verändert und erweitert hat. Dieses Konzept trug also zumindest im süddeutschen Raum bis in das 20. Jahrhundert hinein. 7 Hans Heiling: Die Orgeln der Stadt Wien. In: Acta Organologica 6, 1972, S. 7-47, auf S. 8; Die älteste Orgel Wiens. Die»Wöckherl-Orgel«[1642] in der Wiener Franziskanerkirche, hg. v. Wolfgang Kreuzhuber, Wien: Institut für Orgel, Orgelforschung und Kirchenmusik 2011, S. 2+26-31

- 5 - Die überaus rasche technische und klangliche Fortentwicklung der Orgel im süddeutschen Raum um 1500 ging Hand in Hand mit einem Aufschwung in der Kunst des Orgelspiels und der Orgelkomposition. Zu diesem Aufschwung hat Paul Hofhaimer (1459-1537) wesentlich beigetragen, doch sind von ihm nur wenige Orgelkompositionen erhalten. Von den nachfolgenden Generationen ist eine beträchtliche Menge an Orgelmusik erhalten, die auf Orgeln mit»unterscheidlichen«registern gespielt wurde. Unter diesen Kompositionen ist die Musik von Hofhaimers Schüler Hans Buchner (1483-1538) wegen ihrer hohen künstlerischen Qualität hervorzuheben. Erst im 17. Jahrhundert entstand weitere Orgelmusik von vergleichbarem künsterischem Rang. Zu nennen wären die Komponisten Hans Leo Hassler (1564-1612), Christian Erbach (um 1570-1635), Johann Ulrich Steigleder (1593-1635), Johann Jakob Froberger (1616-1667) und Johann Caspar Kerll (1627-1693). Fig.16: Wien, Franziskanerkirche, Chororgel von Johannes Wöckherl 1641-42. Foto: Bwag/Wikimedia commons, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Wien_-_W%C3%B6ckherl-Orgel1.JPG Publiziert auf: http://www.walcker-stiftung.de/orgelgeschichte.html