EG 235 O Herr, nimm unsre Schuld, mit der wir uns belasten, und führe selbst die Hand, mit der wir nach dir tasten. Wir trauen deiner Macht und sind doch oft in Sorgen. Wir glauben deinem Wort und fürchten doch das Morgen. Wir kennen dein Gebot, einander beizustehen, und können oft nur uns und unsre Nöte sehen. O Herr, nimm unsre Schuld, die Dinge, die uns binden, und hilf, dass wir durch dich den Weg zum andern finden.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen. Liebe Gemeinde, bleiben wir noch kurz bei dem Lied, das wir eben gesungen haben [EG 235]. Es hält uns ja einen Spiegel vor. Und dieser Spiegel ist gebrochen, mehrfach. Gesplittert, geteilt wie unser Leben. Wir sagen: Gott ich vertraue dir und deiner Kraft- und mache mir doch Sorgen, ob ich meine Arbeit heute schaffen werde. Wir sagen: ich glaube an dich - und haben am Abend Angst vor dem nächsten Morgen. Wenn wir ehrlich und lange genug in den Spiegel schauen, sehen wir viele Gesichter. Meist schaue ich nur kurz in den Spiegel wenn ich aus dem Haus gehe, ob die Oberfläche stimmt, ob ich ansehnlich genug bin, um unter die Leute zu gehen. Damit niemand Anstoß nimmt an meinem Äußeren. Ich nehme mir selten genug die Zeit, länger in den Spiegel zu schauen um tiefer zu sehen, um die Verwerfungen, Falten zu entdecken, die Untiefen. Dass Sorgen Falten werfen, das wissen wir. Wir sind gebunden sagt das Lied. An die Dinge. An die Oberfläche. Die wir blankputzen, die Risse übermalen, damit das, was in der Tiefe lauert, möglichst unsichtbar bleibt. Aber
wer gibt mir mein An-sehen? Möchte ich mich selbst ansehnlich machen? Stellen sie sich eine Welt vor, wie vor 100, 200 Jahren, als es in den allermeisten Haushalten keine Spiegel gab. Wo man Ansehen gewann, wenn einen ein anderer Mensch anschaute. Als man noch vom Antlitz eines Menschen sprach und damit das meinte, was einem da entgegenleuchtete - genau das heißt ja Antlitz - als es noch nicht das Gesicht war, das sichtbare eben, die Oberfläche. Wo einem ein Antlitz entgegenleuchtet, wacht man auf. Denn dieses Leuchten dringt tief ein und erweckt. Wir sprechen deshalb bewusst beim Segen am Ende des Gottesdienstes davon, dass Gott sein Antlitz über uns leuchten lassen soll. Wir werden durch die Anschauung Gottes aufgeweckt, erweckt, wach. Wir gewinnen An-sehen, wenn wir ihn zum Spiegel haben, denn er spiegelt uns unser wahres Wesen wieder, in seinem Spiegel erkennen wir uns selbst. Dieses Gegenübertreten, dieses Aufscheinen Gottes uns gegenüber, das hat entlarvende Züge. Das gilt es auszuhalten. Im Grunde ist ja die ganze Bibel, die ganze Schrift nichts anderes als ein grandioser Spiegel, der uns zu uns selber bringt. In jedem Wort springt mir etwas entgegen, das mir nun selbst auf die Sprünge helfen will, mich in mich zu kehren und in mir selbst zu schauen: bist du das, von dem da die Rede ist?
Ptext: Jesaja 1,10-17 Bin ich da gemeint? Wenn ich all das beiseite lege, was die Oberfläche des Textes ausmacht, die Opfer, die es nicht mehr gibt, das Räuchern, die andere Rechtslage. Wenn ich ganz nah dran gehe an diese fürchterliche Klage Gottes, an seinen Aufschrei, seine unbändige Wut, dieses schier unerträgliche, drängende Fordern, Provozieren, Bedrängen: was will Gott von mir heute? Was soll ich anschauen, in welchen Spiegel blicken? Was will Gott? Ich denke dies: dass wir uns sagen lassen: dein Leben ist unteilbar. Du kannst es nicht in Stücke schneiden und in Stücken leben. Das Stück Arbeit, das Stück Familie, das Stück Freizeit. Wie eine Torte aufgeteilt, vielleicht gerade noch erkennbar, dass es einmal zusammengehörte. Am mit jeden Tag fallen die Stücke mehr auseinander. Es bleiben Teile übrig, die am Ende kaum noch zusammen gehören. Die nichts mehr miteinander zu tun haben. Dass mich am Abend gar nicht mehr interessiert, was ich tagsüber gemacht habe, dass ich nur noch in Träumen erahne, dass es Dinge gibt, die ich gar nicht verarbeitet habe, die ich aber schon gar nicht mehr mit einem Menschen teilen kann, weil ich sie selbst nicht mehr zusammen halten kann.
Das Leben ist unteilbar. Das Leben, das mir Gott geschenkt hat. Jede Spaltung hat die Tendenz, in einer Schuld-Falle zu enden. Denn meine Gedanken halten dann nicht mehr zusammen, meine Gefühle verwahrlosen, weil sie nicht mehr wissen, zu wem sie gehören. Jesus hat das ja in der Geschichte vom Baum und seinen Früchten [Mt 12,33-37] ganz plastisch erläutert. Da geht nicht mehr zusammen, was doch zusammen gehört. Was ich tue hat mit meinen Worten keinen Zusammenhang mehr. Und doch, sagt Jesus, und doch gibt es diesen Zusammenhang. Nur wird der Riss, der Spalt immer mehr mit Schuld aufgefüllt. Und er will uns wieder zurück bringen, zurück helfen in ein Leben, das nicht durch Schuldverstrickungen zusammengehalten wird sondern durch die Liebe Gottes. Er will uns dahin zurück bringen, dass unser Denken, Fühlen, Wollen und Tun in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes geschieht. Denn die Folgen unseres Auseinanderfallens ist der Tod: eure Hände sind voll Blut. Wenn wir nahe, ganz nahe an den Jesajaworten dran sind, dann können wir spüren: Gott möchte mir ganz nahe sein. Aber wenn ich so gespalten, zerrissen bin? Wenn ich sage: ich glaube, ich vertraue - und kurz darauf wieder
Sorgenrechnungen aufstelle, den Ängsten viel Platz und Zeit lasse: wie soll er mich noch ernst nehmen? Es klingt fürchterlich, wenn er sagt: wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht. Wenn wir aus dem Glauben eine religiöse Übung machen. Wenn wir im Wortschwall über Gott herfallen, um ihn zuzuschwafeln mit vielen guten Worten, wenn wir das Gebet benutzen, um Gott eben nicht an uns heranzulassen, ihn auf Distanz halten, wenn wir also im Gebet dauernd reden, und ihn gar nicht zu Wort kommen lassen, dann ist ihm das Gebet ein Gräuel. Widerlich, denn es ist Oberfläche. Dann will ich meine Frömmigkeit in meinem Gebet spiegeln und Gottes Antlitz gar nicht sehen. Dann kann es Gott nicht mehr mit anschauen: wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch. Das Leben ist unteilbar. Und doch erleben wir es als Erdenmenschen immer so. Wir sind keine Einheit, wir sind nicht eins mit uns. Das, was wir tun können, ist aber uns auszurichten auf den einen Gott. Auf die Quelle des Lebens, das Licht meines Lebens. Auf diese Aus-richtung, Ein-stellung wird es wohl ankommen. Die Sehnsucht nach Ganzheit, nach Momenten der Glückseligkeit, wenn uns nichts mehr zerreißt, diese Sehnsucht tragen wir tief in uns. Sie ist ein wunderbares
Geschenk Gottes. Er schenkt uns die Sehnsucht nach der Quelle des Lebens. Ein erster Schritt denke ich ist immer wieder dieses nüchterne Erkennen und sich eingestehen: ich krieg die Teile meines Lebens nicht zusammen. Ich scheitere daran, meinem Anspruch zu genügen. Ich bin ein Mensch, der immer zu wenig liebt, der zu wenig glaubt, zu wenig hofft. Und der deshalb Grenzen überschreitet. Der sich in Schuld begibt, auch wenn er es gut meint. Der nicht nach Gott fragt, auch wenn er es bitter nötig hätte. Der weiß, was ihm helfen würde, und doch die Hand verweigert, die ihm Jesus entgegenstreckt. Wenn wir am Buß- und Bettag zusammen kommen, dann ahnen wir von all dem vieles. Wenn wir um den Tisch des Herrn stehen, dann leuchtet etwas davon auf, dass unser zerteiltes, schuldiges und zerbrechliches Leben von ihm geheilt werden kann. Jede, jeder von uns hat andere Bruchstellen. Trägt andere Wunden in der Seele. Wir dürfen Gott bitten, dass er die Scherben nicht auf einen Haufen wirft, sondern zusammenfügt. Leben wir sie ihm ein paar Momente still ans Herz. Dort, wo wir das zerbrochene des Lebens am meisten spüren, wo wir Heilung erbitten, wo wir nicht wissen, wie Menschen und Tage
zusammen gehen können. Die Karte, das Kreuz mit seinen Narben mag uns Anregung sein, ebenso die Musik. Amen