TAGEBUCH DES EUROWAISENKINDES 23 März 2008 Heute war der schlechteste Tag in meinem Leben. Mein Vater traf eine sehr wichtige Entscheidung für unsere Familie: Er verzichtet auf die Arbeit in Polen und wird in Zukunft nach Österreich zur Arbeit fahren. Als ich das hörte, dann fühlte ich, dass meine Knie mir weich wurden und mein Herz schlägt mir bis zum Halse. Wie kann er so einfach wegfahren und uns hier alleine lassen? So einfach, wie man ein unnötiges Ding liegen lässt. Angeblich macht er das für uns, damit wir normal leben können, damit das Geld uns nicht fehlt. Voraussichtlich wird er Winter in Polen verbringen und in den Sommerferien fahren wir zu ihm. Angeblich Und wie wird es in der Wirklichkeit sein? Niemand fragte mich nach der Meinung. Niemand fragte, was ich fühle und was ich darüber denke. Das wurde schon beschlossen. Ich will nicht, dass mein Vater wegfährt und denke nach, warum er solch eine Entscheidung traf. Stimmt, ich hatte nicht alles die neusten Handys, Firmenkleidungen, eigenen Fernseher und Laptop, aber ich hatte ihn und er hatte mich. Das genügte mir. Jetzt wird sich alles ändern, das Leben unserer ganzen Familie wird sich ändern. Ich habe Angst, dass unsere Familie in die Brüche gehen kann, weil so viele Abfahrten zur Arbeit ins Ausland enden. Aber ich glaube, dass es nicht passieren soll, weil wir uns sehr lieben. Ich fühlte Machtlosigkeit, Leid und Traurigkeit. Ich werde beten und Gott bitten, dass der Vater die Entscheidung ändert. 15 April 2008 Heute am Mittag fuhr der Vater weg. So sehr wollte ich, dass der Tag seiner Abfahrt niemals kommt. Jedoch waren das nur meine Träume. Ich vergesse nie den Anblick des von uns verabschiedeten Vaters. Er umarmte uns, weinte und sagte, dass er uns sehr liebt. Ihm ist es auch schwer. Es tut mir Leid, dass es so sein muss. Ich bemühte mich nicht zu weinen, aber ich war nicht Imstande. Ich fühlte Leid. Großes, riesiges Leid und Traurigkeit. Mein Herz weinte.
Vater, warum verließt du uns? Wir haben doch genug zu essen und wohnen. Du musstest noch nicht in Pension gehen. Du gingst, weil du wolltest, aber du musstest nicht! Kann ich dich beurteilen? Ich schätze deine Entscheidungen und weiß, dass du nur das Beste für uns willst. Ich liebe dich sehr, aber ich weiß nicht, ob ich weitab von dir leben können werde. Ich brauche dich. Es wird mir schwer sein, aber ich muss mutig sein. Nein, ich werde nicht weinen! Ich bin doch nicht allein. Ich habe meine Mutter bei mir, meinen Bruder und obgleich wie, aber ich habe auch dich. Es gibt viele Kinder, die keine Eltern haben, aber ich habe sie und freue mich darüber. Ich glaube daran, dass unsere Familie immer zusammen sein wird. Ich muss das alles durchdenken. Ich will das verstehen. Ich beginne neue Etappe in meinem Leben. 26 April 2008 Draußen regnet es. Es ist grau und traurig. Solches Wetter ist für die Reflexion günstig. Ich sitze in einem Sessel und denke. Ich denke über den grauen Alltag nach. Ich stelle mir eine Frage: Warum muss es so sein? Warum kann unsere Familie nicht zusammen sein? Ich mit meiner Mutter und meinem Bruder in Polen und mein Vater 800 km weit von uns. Was für Leben ist das? Warum sind wir allein? Warum mein Vater, gerade jetzt, wenn ich ihn am meisten brauche, muss weit von mir sein? Warum? Warum? Warum? Es gibt eine einfache Antwort. Ich höre sie einmal im Monat, wenn der Vater für 2 Tage nach Hause kommt und sagt: ich sehne mich sehr nach euch und ich liebe euch sehr. Es ist mir auch schwer. Ich bin weg, aber im Austausch dafür lebt ihr normal. Was bedeutet normal? Doch bis zu der Zeit seiner Abfahrt lebten wir auch normal. Er versteht mich nicht. Ich bin Eurowaisenkind. Es gibt in Polen viele solche Kinder wie ich Kinder, deren einer oder beide der Eltern im Ausland arbeitet. Muss es dennoch so sein? Warum müssen die Leute in meiner Heimat im Ausland ihr Brot verdienen und auf diese Weise ihre Familie stehenlassen? Ja, ich bin das Eurowaisenkind und mein Vater fehlt mir sehr. Ich kann nicht mit ihm reden, weil er weg ist. Ich kann ihn nicht um den Rat bitten, weil er weg ist. Ich kann mit ihm die Freizeit nicht verbringen, weil er weg ist. Ich kann nicht, aber ich will so sehr. Das Wichtigste ist für mich aber, dass ich mich geliebt fühle. Ich habe die
Mutter, auf sie ich immer rechnen kann. Sie tröstet mich, wenn ich eine Eins in Chemie bekomme, dann freut sich mit, wenn alles bei mir gut läuft. Ihre Worte bedeuten mir sehr viel: Kamil, mach dir nichts daraus, alles wird gut sein. Ich weiß, dass ich mich auf sie immer verlassen kann. Ebenso wie auf den Vater, der nicht da ist, aber er unterstützt mich immer. Ich versank in Gedanken. Manchmal fällt es mir schwer, aber ich bin kein Egoist. Ich will nicht klagen und mit mir Mitleid haben. Tatsächlich ist es schwer auch meinem Vater, der allein in der Fremde wohnt und keinen Kontakt mit Polen hat. Ich sehne mich, aber er sehnt sich auch. 16 Juni 2008 Schon 2 Monate arbeitet der Vater im Ausland. Langsam gewöhne ich mich an die neue Situation, ans neue Leben. Zu Hause hört man nicht mehr sein Lachen und seine Witze. Es ist so still. Ich frage ständig die Mutter, wann der Vater zurückkommt, so, wie ich seine Ankunft beschleunigen möchte. Ich sitze am Tisch auf dem Stuhl des Vaters, trinke Kaffee von seinem Becher und schlafe auf seinem Kissen, das nach seinem Deodorant riecht. Ich sehne mich sehr. 28 Juni 2008 Gestern begannen die Sommerferien. Ich freue mich sehr, dass der Vater heute kommt, um uns nach Österreich mitzunehmen. Bis 3 Uhr in der Nacht sah ich fern und schaute ab und zu ins Fenster, um seine Ankunft nicht zu übersehen. Ich konnte nicht einschlafen. So sehr freute ich mich. Als er direkt vor die Haustür fuhr, hatte ich Lust, vor Freude hinzuspringen. Ich lief aus dem Haus, um ihn zu begrüßen und dann saß unsere ganze Familie fast bis zum Morgen und wir erzählten miteinander, was es Neues gibt. Es ist immer so, wenn der Vater kommt. Wir sitzen sehr lange und reden miteinander, als ob wie wir die verlorene Zeit einholen möchten. Jedoch ist das unmöglich. Übermorgen fahren wir los. Ich freue mich, weil wir 2 Monate mit der ganzen Familie zusammen verbringen. Übrigens war ich noch nie im Ausland. Ich bin gespannt, wie es dort ist. Es wird sicher super sein. Ich werde
Österreich sehen, neue Leute kennen lernen und versuchen, Deutsch zu sprechen. Die Sommerferien versprechen schön zu sein. 9 Juli 2008 In Österreich sind wir ein paar Tage und ich will schon zurück. Es gefällt mir hier nicht. Dieses Land ist nichts für mich. Ich fühle mich hier fremd. Ich verstehe nicht, was jemand zu mir sagt, ich kann nicht sprechen, weil ich nur Grundwörter kenne. Stimmt, alle sind hier zu mir sehr nett, aber ich fühle mich hier schlecht. Obwohl ich hier den Vater und die Gelegenheit habe zwei Monate zu bleiben, will ich nach Polen zurückkommen. Dort ist mein richtiges Haus. In zwei Tagen fahren wir nach Hause. 10 September 2008 Heute habe ich etwas beschlossen. Ich will Deutsch lernen! Ich weiß nicht selbst, woher die Idee kam, da ich bisher diese Fremdsprache in der Schule nicht lernen wollte. Aber eine innere Stimme flüsterte mir ein, dass Deutsch mir irgendwann im Leben nützlich sein kann. Ich höre diese innere Stimme zu und werde in zusätzliche Stunden gehen. Ich versuche. Vielleicht könnte ich diese Sprache mögen? 15 Februar 2012 In zwei Monaten sind vier Jahre vorbei, seitdem ich das Eurowaisenkind geworden bin. Es hat sich viel in dieser Zeit geändert. Vor allem änderte sich mein Aussehen und meine Einstellung zum Leben. Meine Mutter sagt, dass ich erwachsen und verantwortlich wurde. Ich weiß, dass ich mich änderte. Das Leben ohne Vater brachte mir die Verantwortung und Selbstständigkeit bei. Ich wurde kein Straßenkind und bemühe mich auch, keine Probleme in der Schule und zu Hause zu bereiten. Und alles darum, weil ich mit Liebe umgeben bin. Mit Liebe zu Hause und mit Liebe auf die Entfernung, aber jedoch mit Liebe. Ich habe mit mir kein Mitleid mehr, sondern ich schaue mutig in die Zukunft.
Ich habe Träume, die ich um jeden Preis verwirklichen möchte. Ich liebe die deutsche Sprache. Ich liebe Knittelfeld und das Haus, in dem mein Vater wohnt. Ich liebe die ganze Steiermark. In Österreich lernte ich neue Kollegen kennen und ich mag die Nachbarn. Und alles darum, weil ich einmal beschlossen habe, Deutsch zu lernen. Immer mehr verstehe ich und spreche schon viel mehr. Ich lerne weiter fleißig und das macht mir Spaß. Eine magische Stärke zieht mich zum Lernen dieser Sprache. Dieselbe magische Stärke zieht mich nach Österreich. Ich möchte hier irgendwann arbeiten. Vielleicht scheint es mir nur, dass ich will? Vielleicht will ich einfach nur in der Nähe des Vaters sein? Die Sehnsucht nach ihm mobilisiert mich zum Deutschlernen.