Franz von Kutschera Ungegenständliches Erkennen mentis PADERBORN
Einbandabbildung: Fotografie von Inge von Kutschera Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ISO 9706 2012 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz: Rhema Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-781-0
Vorwort Mit den Überlegungen in diesem Buch möchte ich zum Verständnis einer Gruppe von Erfahrungen beitragen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ungegenständlich sind, also keine Erfahrungen, in denen sich ein Subjekt einem Gegenstand oder Ereignis gegenüber sieht. Es gibt ein breites Spektrum derartiger Erfahrungen, das vom Erleben der Schönheit oder der Tiefe der Welt bis hin zu Erfahrungen einer mystischen Union reicht. Einen Teil könnte man als»mystische Erfahrungen«oder als»transzendenzerfahrungen«bezeichnen, solche Bezeichnungen werden aber erst dann informativ, wenn man sich auf ein genaues Verständnis der Wörter»mystisch«und»transzendent«beziehen kann. In unserem heutigen, von der europäischen Kultur geprägten geistigen Leben spielen solche Erfahrungen kaum eine Rolle, weder im wissenschaftlichen und philosophischen noch im religiösen Denken. Trotzdem ist eine Beschäftigung mit ihnen wichtig, denn auch heute gibt es Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben und denen sie persönlich viel bedeuten, die aber Schwierigkeiten haben, zu verstehen, was ihnen widerfahren ist, und den Erkenntniswert dieser Erfahrungen zu beurteilen. Zudem haben solche Erfahrungen in unserer geistig-religiösen Tradition eine große Rolle gespielt. Erfahrungen einer mystischen Union begegnen uns in ganz verschiedenen Zeiten, Kulturen und Religionen, zuerst in den Upanishaden und der indischen Philosophie des Vedanta, dann, zuerst wohl durch Vermittlung der Orphik, auch in der griechischen Philosophie bei Parmenides und später bei Plotin, in der Spätantike bei Augustinus und Pseudo Dionysios Areopagita und im hohen Mittelalter bei Meister Eckhart, um nur einige Beispiele zu nennen. Ohne Zugang zu diesen Erfahrungen bleibt ein Verständnis unserer eigenen Geschichte daher unvollständig. Endlich zeigen sich in diesen ungegenständlichen Erfahrungen Grenzen unseres normalen, intentionalen Denkens. Diese Grenzen sind uns kaum bewusst. Daher ist es wichtig zu prüfen, ob diese Erfahrungen tatsächlich zuverlässig sind. Ein Verständnis ungegenständlicher Erfahrungen ist schwierig. Das wird bei den Unionserfahrungen besonders deutlich. Einerseits spricht ihre Verbreitung dafür, sie ernst zu nehmen, andererseits fällt das, was über sie berichtet wird, so weit aus dem Rahmen unseres normalen Begreifens heraus, dass man geneigt ist, ihnen jeden kognitiven Wert abzusprechen. Dionysios Areopagita schreibt in der Mystischen Theologie vom Mystiker: Danach löst [er] sich auch vom Bereich dessen, was sichtbar ist [ ] und taucht in das Dunkel des Nichtwissens ein, in das wahrhaft mystische Dunkel, indem er sich allem verschließt, was Erkenntnis begreifen kann. Er ist dann eingeschlossen in das völlig Unbegreifbare und Unsichtbare. [ ] Dadurch, dass alles Erkennen aufhört,
8 Vorwort ist er mit dem vereint, der vollkommen unerkennbar ist, und indem er nicht mehr erkennt, erkennt er in einer die Vernunft übersteigenden Weise. 1 Jedem, der sich auf rationalen Wegen um Erkenntnis bemüht, sträuben sich bei solchen Äußerungen zunächst einmal die Haare. Wer über einschlägige Erfahrungen verfügt, erkennt aber, dass es sich bei der Aussage von Dionysios nicht bloß um eine Mystifizierung handelt, sondern um eine durchaus zutreffende Beschreibung mystischer Erfahrungen. Mystiker sagen übereinstimmend, dass sich die Inhalte solcher Erfahrungen mit unseren normalen sprachlichen Mitteln nicht angemessen darstellen lassen. Daher ist es kaum möglich, sich allein aus den Aussagen anderer ein zutreffendes Bild von ihnen zu machen, und man darf sachlich bedingte Mängel des Ausdrucks nicht den Autoren zur Last legen. Daraus ergibt sich die erste Schwierigkeit einer Erörterung von ungegenständlichen Erfahrungen: Man kann sich nur mit Menschen über ein Phänomen verständigen, die dazu auch einen Zugang haben. Mit Tauben kann man nicht über Musik diskutieren. Die Erfahrungen, von denen ich reden will, fallen aus dem gewohnten Rahmen heraus. Sie sind zwar keineswegs alle so selten wie Erfahrungen einer unio mystica, ich kann sie aber doch nicht ohne weiteres beim Leser voraussetzen. Ich kann sie ihm auch nicht vermitteln, sondern nur gedankliche Zugänge angeben, welche die Erfahrungen zwar erleichtern, sie aber nicht garantieren. Jeder muss sich selbst um sie bemühen. Ich kann nicht einmal den Inhalt dieser Erfahrungen so beschreiben, dass sich der Leser ein genaues Bild davon machen kann. So bin ich auf sehr viel entgegenkommendes Verständnis des Lesers angewiesen und muss hoffen, dass er meine Aussagen mit eigenem Erfahrungsgehalt auffüllt, damit sie für ihn nicht leere sprachliche Hülsen bleiben. Ich möchte in diesem Buch zeigen, dass sich ungegenständliche Erfahrungen einem vernünftigen Verständnis nicht verschließen. Das heißt nicht, dass sie sich in unsere normalen Denkmuster integrieren lassen, in solchen Erfahrungen werden wir ja mit den Grenzen unseres normalen Denkens konfrontiert. Mein Insistieren auf vernünftigen Überlegungen macht eine zweite Schwierigkeit der folgenden Erörterungen deutlich: Eine Abhandlung über mystische Erfahrungen zieht leicht die falschen Leser an, Leute, die für Esoterisches schwärmen, für eine Anstrengung des Begriffs aber nicht zu haben sind. Ich kann nur versuchen, sie durch den Hinweis abzuschrecken, dass es im Folgenden nicht um Esoterisches und Mirakulöses geht, sondern um ein Stück Philosophie, die sich um klare Aussagen und solide Argumente bemüht. Die ersten beiden Kapitel des Buches haben vorbereitenden Charakter. Das erste handelt von Erfahrungen im Allgemeinen, insbesondere von ihrer intentionalen Struktur, von der Rolle des Begreifens im Erfahren und vom Erleben, 1 Pseudo-Dionysios Areopagita, mystische Theologie, üb. und hg. von A. M. Ritter, Stuttgart 1994, 76.
Vorwort 9 das für unser Leben größere Bedeutung hat als wissenschaftliche Beobachtungen. Im zweiten Kapitel werden zuerst verschiedene Begriffe der Transzendenz unterschieden. Dann wird auf eine Form von Transzendenz hingewiesen, die in der Philosophie des Geistes eine wichtige Rolle spielt. Diese»implizite Transzendenz«kommt in allen Akten des Wahrnehmens und Denkens vor. In diesem Sinn ist insbesondere das Subjekt transzendent, weil es nie vollständig zum Gegenstand seiner eigenen Betrachtung werden kann. Dieser Begriff impliziter Transzendenz wird sich als Schlüssel zum Verständnis ungegenständlicher Erfahrungen erweisen. Im Sinn dieses Begriffes von Transzendenz sind alle Erfahrungen, die hier erörtert werden, Transzendenzerfahrungen. In den Kapiteln 3 bis 5 werden Beispiele solcher Erfahrungen erörtert. Je nachdem, ob sie von inneren oder äußeren Erfahrungen ausgehen, unterscheide ich innere und äußere Transzendenzerfahrungen. Der Weg der Mystik ist ein Weg ins eigene Innere. Alle Erfahrungen, mit denen wir uns hier befassen, sind entweder Selbsterfahrungen oder doch mit Selbsterfahrungen verbunden. Daher beginne ich im dritten Kapitel mit inneren Transzendenzerfahrungen. Dort wird auch der Begriff der ungegenständlichen Erfahrung durch jenen eines überintentionalen Bewusstseins präzisiert: Die ungegenständlichen Erfahrungen führen zu einem Bewusstsein jenseits des Subjekt-Objekt-Gegensatzes. Das ist der Grund für das Versagen unserer normalen Begriffe und sprachlichen Beschreibungsmittel, die ja alle dem Bereich intentionalen Denkens angehören. Im vierten Kapitel bespreche ich Beispiele äußerer Transzendenzerfahrungen und gehe auf die Konzeption des Einen bei Parmenides und insbesondere bei Plotin ein, das, wie das Selbst, eine Wirklichkeit ist, die sich intentionalem Denken entzieht. Das fünfte Kapitel befasst sich dann mit den am schwersten zugänglichen Erfahrungen, den Erfahrungen einer Einheit von Selbst und Absolutem. Im sechsten Kapitel erörtere ich zuerst die Frage der kognitiven Relevanz solcher Transzendenzerfahrungen, wie sie in den Kapiteln 3 bis 5 vorgestellt wurden. Für den, der sie selbst macht, gehören sie zu den eindrucksvollsten Erfahrungen überhaupt, so dass sich diese Frage nur für die anderen stellt. Da ihr Gehalt, soweit er sich aus Aussagen anderer entnehmen lässt, radikal aus dem gewohnten Wirklichkeitsverständnis herausfällt, werden sie den Erfahrungen nur dann einen Erkenntniswert zuschreiben, wenn es Argumente gibt, die sich nicht auf Transzendenzerfahrungen stützen, aber ebenfalls Grenzen unseres normalen, intentionalen Denkens aufweisen und es so zumindest als möglich erscheinen lassen, dass Transzendenzerfahrungen Erkenntnisse sind. Das sind Argumente zu einer immanenten Kritik intentionalen Denkens, und um die geht es dann im größten Teil des sechsten Kapitels. Dieser Teil ist zwar insofern ein Anhang der Studie, als er nichts zum Verständnis ungegenständlichen Erkennens beiträgt, die Einsicht, dass intentionales Denken von begrenzter Reichweite ist, fördert aber doch die Bereitschaft, sich ernsthaft mit der zentralen Frage des Buches zu beschäftigen, ob es auch ein überintentionales Erkennen gibt.
10 Vorwort Ich danke Godehard Brüntrup, SJ und Josef Schmidt, SJ für ihre konstruktiven und kritischen Bemerkungen und Michael Kienecker vom mentis Verlag für die wiederum gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit.