Spanien und die VIA REGIA

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Transkript:

VIA REGIA-Redaktion des Europäischen Kultur- und Informationszentrums in Thüringen Spanien und die VIA REGIA Die VIA REGIA als älteste und längste Landverbindung zwischen Ost- und Westeuropa knüpft an den namengebenden Streckenabschnitt in Mitteldeutschland an und verfolgt dessen Fortsetzungen nach Ost- und Westeuropa. Dabei handelt es sich zweifellos um unterschiedliche Straßensysteme, die zu unterschiedlichen Zeiten in sehr verschiedener Weise ineinander gegriffen haben, die aber die Merkmale einer im großen Maßstab relativ konstanten Wegeführung aufweisen, über die sich viele Jahrhunderte lang Hauptformen des europäischen Ost-West-Austausches vollzogen und mit denen entscheidende Ereignisse in der Geschichte Europas verbunden sind. Für den westlichsten Wegeabschnitt der VIA REGIA im heutigen Spanien ist sicherlich der Camino de Santiago, der Pilgerweg zum Grab des Apostels Jakobus d.ä., eine seit mehr als tausend Jahren stabile Streckenführung. Aber die Europa verbindende Bedeutung dieses Weges beschränkt sich nicht nur auf die Tradition des christlichen Pilgerwesens, sondern hat einerseits wesentlich ältere Ursprünge und andererseits komplexere Bedeutungen. Vielfach wird beschrieben, dass bereits in vorchristlicher Zeit der Sternenweg, der sich an der Milchstraße orientiert, Menschen durch den Kontinent zum Cabo de Finisterre, dem vermeintlichen Ende der Welt an der spanischen Atlantikküste geführt habe. Dieser uralte Weg sei im Unterschied zur heute üblichen Pilgerstrecke, die weiter südlich von Pamplona über Burgos León nach Santiago de Compostela führt, an der Küste entlang über San Sebastián Santander Oviedo verlaufen. Zu einer Stabilisierung der Wegeverhältnisse in dieser Gegend führte um die Zeitenwende die Unterwerfung des Volkstammes der Asturer durch die Römer unter Kaiser Augustus. In der Folgezeit entstanden in der Nähe der Stadt Ponferrada die Las Médulas, die größten Goldminen des Römischen Reiches, in denen nach Angaben des römischen Geschichtsschreibers Plinius des Älteren jährlich 20.000 Römische Pfund (ca. 6,5 t) Gold gefördert wurden. Wie Merete Nielsen in ihrem Artikel Veniant omnes gentes Die europäische Santiago-Wallfahrt vor dem Hintergrund der spanischen Geschichte bis zur Neuzeit schreibt, führte seit dieser Zeit eine befestigte Straße vom Nordwesten Spaniens (Lugo) bis zu den Pyrenäenübergängen, die bis ins 19. Jahrhundert hinein für den Verkehr genutzt wurde und auch identisch mit dem Pilgerweg "camino francés", also einem der spanischen VIA REGIA-Wegeverläufe, ist 1. Zunächst jedoch ging mit dem Niedergang des Römischen Reiches ab 300 n.chr. auch ein Zerfall der Strassen einher. Dies lag vor allem daran, dass die westgotischen Invasoren nicht die Verwaltungsstrukturen der Römer besaßen und auch nicht an dem Erhalt der Strassen interessiert waren. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die römischen Strassen weder benutzt noch instand gehalten. In den folgenden Jahrhunderten sollte das Vorhandensein dieser Hauptverkehrsachse Nordspaniens für die Entwicklung Europas jedoch von größter Bedeutung sein, zumal sie den Anschluss an die Römerstraßen im gallisch-fränkischen Raum über Bordeaux (Burdigala), Paris (Lutetia), Reims (Durocortorum), Köln (Colonia Agrippina) zu den Machtzentren der Franken herstellte, die neben den Westgoten, die auf der iberischen Halbinsel herrschten, einer der gemanischen Nachfolger des zerfallenen Römischen Reiches waren. In dem Maße, in dem der Expansionsdrang der Franken zu zahlreichen Eroberungskriegen gegen ihre Nachbarn führte, gelangten auch die Straßen zu erneuter Bedeutung. Gefährlich für das Fränkische Reich war dabei vor allem das Vordringen der Araber nach Südwesteuropa. Nach der arabischen Invasion von 710/11 auf die iberische Halbinsel und dem damit verbundenen Zusammenbruch des Westgotischen Reiches erfolgte die weitere Ausbreitung der Mauren explosionsartig. Trotz ihrer Niederlage gegen Karl Martell bei Tours und Poitiers (732) reichte die Maurenherrschaft nunmehr bis weit ins heutige Südfrankreich hinein. Das Interesse der expansiven Franken und des gleichzeitig erstarkenden Papsttums am Südwesten des Kontinents war zu dieser Zeit jedoch vergleichsweise gering und beschränkte sich vorerst auf die Abwehr arabischer Überfälle. Die Iberische Halbinsel teilte sich zu dieser Zeit in zwei ungleiche Teile: einen übergroßen unter islamischer 1 Der camino francés beginnt an den Pyrenäenpässen von Somport (Aragón) oder von Roncesvalles und führt über Puente la Reina, Estella, Logroño, Burgos, Frómista, Sahagún, León, Puente de Órbigo, Astorga, Ponferrada und Arzúa nach Santiago de Compostela

Herrschaft und einen winzigen Landstrich an der Nordküste. Hierher zogen zahlreiche hochrangige und engagierte Christen, die auf der Flucht vor dem Islam Sicherheit in den unzugänglichen Bergen und nördlich davon suchten. Der zunächst spontane und dann überraschend erfolgreiche Widerstand kleiner Gruppen beherzter Freischärler nördlich der kantabrischen Bergkette hatte diese Region zum Sammelbecken der zum Widerstand bereiten nicht-islamischen Bevölkerung Spaniens gemacht. Nach den ersten militärischen Erfolgen der asturischen Landesverteidiger wurden die kantabrischen Berge und das Land dahinter immer mehr zum begehrten Fluchtort für glaubensstrenge Kleriker und Mönche aus Innerspanien. Diese Vertreter einer westgotischen Tradition betrieben gezielt die ideologische Inthronisation der asturischen Fürsten als legitime Nachfolger der von den Mauren vernichteten westgotischen Könige und nahmen den diplomatischen Kontakt mit dem karolingischen Königshof in Aachen auf. Zeitgleich dazu hatten die neuen politischen Partner, der karolingische König und der Bischof von Rom, Karl der Große und Papst Zacharias, beschlossen, sich um die bedrohte Südflanke des Fränkischen Reiches zu kümmern. Karl soll 778 mit einem Heer über die Pyrenäen gezogen sein, vergeblich Zaragoza belagert und auf dem Rückweg die christliche Stadt Pamplona erobert haben, deren Mauern er schleifen ließ, um eine Empörung zu verhindern. Die vermutlich darüber verärgerten christlichen Basken verbündeten sich mit den Arabern und brachten einem Teil des Heeres eine empfindliche Niederlage bei. In dieser Schlacht fiel der bretonische Markgraf Roland. Diese Schlacht, die angeblich in Roncesvalles stattgefunden haben soll, ist der Ursprung einer der großen Heldensagen des Mittelalters. Im Nachhinein wurden für diese Geschehnisse Geschichtsbilder mit stark mythen- und legendenhaften Ausschmückungen erzeugt. Nach einer legendären Lebensbeschreibung Karls des Großen ist es der heilige Jakob selbst gewesen, der Karl beauftragt hat, nach Spanien zu ziehen, das Land vom Joch der Sarazenen zu befreien und auf dem Sternenweg in Galicien das Grab des Apostels zu finden. Die Einnahme der Stadt Pamplona geschah nur mit Hilfe des Apostels Jakobus, wobei der Sturz der Mauern von Pamplona mit denen von Jericho verglichen wird. Karl wurde in Spanien zum ersten heiligen Kreuzritter gegen die Sarazenen. Damit wurden der Spanienfeldzug Karls des Großen und die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela Jahrhunderte nach den historischen Ereignissen mythologisch zusammengefügt, um den ideologischen Bedürfnissen der beginnenden Ära der Kreuzzüge Rechnung zu tragen. Zunächst jedoch begann im Jahre 791 mit der Krönung des asturischen Königs Alfons II., genannt der Keusche, ein neues Kapitel der spanischen, womöglich sogar der europäischen Geschichte. Alfons der Keusche eröffnete die Reihe der großen Könige, die während ihrer langen Amtszeit entschieden die Vereinigung Spaniens vorangetrieben haben. Dieser offensichtlich sehr zielstrebige neue Regent verstand sich von Anbeginn seiner Regierung als König von Asturien. Die ersten fünf Jahre seiner Amtszeit waren jedoch bestimmt von schweren Attacken der Mauren, bei denen 791 und 794 auch die künftige Hauptstadt Oviedo eingenommen und zerstört wurde. Nachdem der letzte katastrophale Angriff der Mauren beendet war, ließ Alfons II. seine Residenz Oviedo zur Hauptstadt ausbauen. Militärisch ging er nun zur Gegenoffensive über und drang bis Lissabon vor. Der Duero wurde für zirka zwei Jahrhunderte zur taktischen Frontlinie nach Al Andalus hin. Als Bündnispartner sprach Alfons II. den fränkischen König Karl an. In Aachen meldeten sich seine Unterhändler selbstbewusst als Gesandte des Königs von Galicien und Asturien an und kehrten 798 mit einem Beistandspakt nach Oviedo zurück. Alfons II. war mit dieser von Aachen gegengezeichneten Beistandsurkunde offiziell in den Kreis der christlich-abendländischen Herrscherhäuser aufgerückt. Zwar hatte Aachen grundsätzlich das asturische Königreich anerkannt, aber die eigentliche Legitimation, die Weihe sozusagen, fehlte dem jungen Staat bzw. der neuen Dynastie. Wie man sich eine solche beschaffen konnte, dafür gab es hinlänglich Vorbilder: Bereits in der Zeit Konstantins, des ersten christlichen Herrschers auf dem Cäsarenthron, entstanden die für das Mittelalter typischen untrennbaren Verbindungen zwischen Politik und Religion, Staat und Kirche, die sich u.a. in der Rechtfertigung politischer Macht durch den konkreten Nachweis eines göttlichen Willens ausdrückten. In diesem Zusammenhang spielte die Behauptung der politischen und religiösen Selbständigkeit des Königreichs Asturien und dessen westgotisch-mozarabischer Kirchenstruktur eine wichtige Rolle, die mit der Abwehr der fränkischen und römisch-päpstlichen Einflüsse verbunden war. Die Überzeugung, das Grab des Apostels Jakobus d.ä. zu Beginn des 9. Jahrhunderts im äußersten Westen des asturischen Reiches entdeckt zu haben, war dabei von entscheidender Bedeutung. Die asturische Kirche schien gleichsam geheiligt durch die Missionstätigkeit des Apostels Jakobus, dessen Würde besonders hoch zu veranschlagen war. Damit war mit Hilfe des hl. Jakob die Einmischung von außen in die kirchlichen Verhältnisse Asturiens für lange Zeit gebremst.

Im 8. und 9. Jahrhundert gewannen viele Regionen, Länder und Städte ihren ganz eigenen Heiligen, ihren persönlichen Schutzpatron bzw. ihre Schutzpatronin. Ein Volk ohne seinen Nationalheiligen war ein vor Gott nicht bestehender Staat. Unter dem kirchenpolitisch äußerst aktiven Gespann Sisnandus, Bischof von Iria-Compostela, und Alfons III. (866 910) wurde, gezielt und auf propagandistische Außenwirkung bedacht, Compostela als Apostelstadt aufgebaut. Ab dem letzten Viertel des 9. Jahrhunderts erfuhr man vom Grab des Apostels, der dort angeblich vom Vorgänger Alfons II. errichteten ersten bescheidenen Gedenkstätte, vom Neubau mehrerer Kirchen und von Pilgern zu diesem Grab des hl. Jakobus. Allmählich setzten jetzt tiefgreifende Wandlungen ein und verlängerten in der Folgezeit die europäische Wegeverbindung VIA REGIA bis zum Pilgerzentrum Santiago de Compostela. Im 9. und 10. Jahrhundert besiedelten Christen das Niemandsland zwischen den Bergen und dem Duero. Die verwüsteten Städte León und Astorga wurden wieder aufgebaut, und in Kastilien wurde Burgos gegründet. Christen aus den muslimischen Ländern (die sogenannten Mozaraber) zogen nach Norden, richteten sich in den menschenleeren Städten ein, bauten Kirchen und Klöster und brachten neue landwirtschaftliche Techniken (Bewässerungstechniken, Mühlenbau) aus dem Süden mit. Aus dem ersten christlichen asturischen Königreich wurde jetzt das Königreich León nach der Hauptstadt benannt. Diese Besiedlung ließ eine gewisse Infrastruktur entlang der alten Römerstrasse entstehen. Ohne Unterkunfts- und Verpflegungsmöglichkeit ist Pilgerschaft im großen Stil nicht möglich. Die ersten uns bekannten Pilger aus dem Frankenreich und dem sonstigen Europa trafen in dieser Zeit in Compostela ein. Die europäische Pilgerbewegung entlang des camino trug ganz wesentlich zur Besiedlung Nordspaniens bei. Der beginnenden Wiedereroberung ( Reconquista ) musste eine Wiederbesiedlung ( Repoblación ) folgen, sonst hätte eine Eroberung von neuen Gebieten keinen Sinn gehabt. Mit den Pilgerströmen entstanden entlang des Weges die Villafrancas als freie Städte oder Frankensiedlungen. Die fränkischen Handwerker, Baumeister und Kaufleute genossen Privilegien. Das galt auch für Juden. Die Bevölkerungspolitik der Könige war sehr liberal, und Siedler waren immer willkommen. Sancho der Große (el Mayor) von Navarra (1000 1035) suchte nun den Kontakt zu Frankreich. Er ließ die Benediktiner aus Cluny die größte und einflussreichste Mönchskongregation der damaligen Zeit die Königsklöster San Juan de la Peña und San Salvador de Leyre reformieren. Vermutlich seine Gemahlin Doña Mayor ließ sowohl die Pilgerbrücke Puente la Reina wie das Kloster San Martín mit der romanischen Kirche in Frómista erbauen. Die westgotische oder mozarabische Liturgie, die auf Bischof Isidor von Sevilla zurückging, wurde 1080 von Alfons VI. (1065 1109) auf Drängen des Papstes Gregor VII. aufgegeben und die römisch-lateinische Liturgie in Spanien eingeführt. Um diese Zeit begann auch die zweite Phase der Rekonquista, die sich nunmehr auf Kerngebiete des muslimischen Herrschaftsbereiches richtete und in einer dritten Phase 1492 mit dem Sieg über das Sultanat Granada die letzte muslimische Bastion erobert hatte. Für Spanien hatte ein neues Zeitalter in der Geschichte Europas begonnen. Der in Spanien ca. 740 km lange Jakobsweg ist vielleicht derjenige Teil des VIA REGIA-Wegenetzes, der am Deutlichsten seinen historischen Charakter bewahrt hat und bis heute in einer sehr traditionellen Form lebendig ist. Die Geschichte des Jakobspilgerns ist oft und ausführlich dargestellt worden. In dem Buch Santiago de Compostela Pilgerwege beschreibt Robert Plötz die Pilgerfahrt zum heiligen Jakobus von den Anfängen bis in die Gegenwart: Die erhöhte Mobilität der hochmittelalterlichen Gesellschaft und der ökonomisch-technische Aufschwung förderten seit dem 11. Jahrhundert im Verein mit sozialen und rechtlichen Veränderungen, kirchlichen Initiativen, religiöser Erneuerung, der Annäherung der spanischen Kirche an Rom und einer besseren Betreuung der Pilger im Hospitalwesen die Entwicklung der Pilgerfahrt zur Massenbewegung. Im 13. Jahrhundert beherrschte der Pilger das Straßen- und Verkehrsbild im christlichen Westen, sein Patron Jakobus ist zugleich Pilger und Wegepatron. In der harten und schmutzigen Wirklichkeit der Straßen fanden die Menschen des 11./ 12. Jahrhunderts die tiefere Bedeutung ihres Glaubens. Die Menschen des 12. Jahrhunderts haben die großen Reisen leidenschaftlich geliebt, ihnen schien das Leben des Pilgers das christliche Leben schlechthin zu sein. Denn was ist der Christ anderes als ein ewig Wandernder, der nirgends zu Hause ist; ein Vorübergehender auf dem

Weg zum neuen Jerusalem. Auch der neue Typ des peregrino caballeresco und der adeligen Reisegesellschaften, für die die Pilgerfahrt einen angenehmen Zeitvertreib, ein letztes höfisches Abenteuer darstellte, kristallisiert sich jetzt klar heraus. Einen zweiten neuen Pilgertypus stellten die wohlhabenden Patrizier aus oberdeutschen Städten dar, für die die Pilgerfahrt zum hl. Jakobus im Rahmen einer Informations- und Bildungsreise stand, bei der nicht selten geschäftliche Interessen vertreten wurden. Aber vor allem die zahlreichen Strafpilgerfahrten, die als Instrument weltlicher Gerichtsbehörden damals eine ausgesprochene Blütezeit erlebten, schickten Tausende von größeren und kleineren Verbrechern auf die Pilgerstraßen in Europa. Die Skala der Verbrechen reicht von Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl bis hin zu Beleidigungen und Schmähungen. Zur Hebung der Würde des Pilgerwesens hat dies natürlich ebenso wenig beigetragen wie die peregrinatio delegata, die dazu führte, dass manche Bettler geradezu ein Geschäft daraus gemacht haben, für andere Auftraggeber gegen Lohn Bußfahrten zu tun. Noch ärgerlicher aber waren die Missstände, die auf den Pilgerstraßen selbst zu beobachten waren. Hier begegneten freiwillige und unfreiwillige Pilger den Scharen arbeitsloser oder nur saisonbeschäftigter Landstreicher und einer wahren Heerschar von Bettlern. Eine Unterscheidung der sich aus den verschiedensten Motiven auf der Straße Befindenden wurde immer schwieriger. Der vielfach zitierte Niedergang der peregrinatio nach Compostela, die Dekadenz der Pilgerfahrt, setzt hier ein. Trotz dieser vielfältigen Erscheinungsformen einer materiellen und moralischen Krise war jedoch noch kein Schwanengesang der Pilgerfahrt zum heiligen Jakobus angebracht. Die Krise war zwar tiefgreifend, aber nicht tödlich. Da auch die Kriege, die Mittel- und Westeuropa so lange erschüttert hatten, im 17. Jarhundert abklangen und die Verkehrswege sicherer wurden, kann in dieser Zeit erneut ein deutlicher Aufschwung der alten europäischen Pilgerfahrt registriert werden. In ihrer Rückkehr zur peregrinatio religiosa fand die Santiago-Pilgerfahrt zu einem bescheideneren, aber auch ehrlicheren Charakter zurück. Im Jahr re 1717 kamen bereits wieder so viele Pilger nach Compostela, dass die Zahl der Beichtväter nicht ausreichte. Die Santiago- Pilgerfahrt erreichte im vorrevolutionären Jahrhundert einen neuen Höhepunkt. Er hielt auf relativ hohem Niveau bis zur frühen Mitte des 18. Jahrhunderts an. Am Vorabend der Französischen Revolution war die Santiago-peregrinatio eine zwar nicht mehr spektakuläre, aber immer noch sehr populäre Erscheinung von beachtlicher europäischer Resonanz. Unberührt von gelehrten Disputen über historische Hintergründe der Jakobus-Verehrung und dem Gedankengut der Aufklärung, die auch auf Spanien übergriff, zogen zahlreiche Pilger nach Compostela. Stadt und Kathedrale präsentierten sich ihnen prächtiger denn je, da die immer noch beträchtlichen Einnahmen der Kathedrale eine rege Bautätigkeit ermöglichten, die ihren Höhepunkt in der architektonischen Neugestaltung der Kathedrale fand. Die größte romanische Kirche der Christenheit erhielt in den Jahren 1738 bis 1750 eine imponierende, zu zwei 70 Meter hohen Türmen emporstrebende Westfassade, die zu den gewaltigsten Schöpfungen des europäischen Barock gehört. Revolution und Koalitionskriege haben die europäische Resonanz der Santiago-Pilgerfahrten empfindlich beeinträchtigt und ihren Einzugsbereich erheblich beschnitten. Im europäischen Rahmen fand auch nach 1815 keine Wiederbelebung der peregrinatio statt, da die wichtigsten Bewahrer und Förderer der Jakobus-Tradition, die Bruderschaften, in den Turbulenzen der revolutionären und militärischen Ereignisse sang- und klanglos verschwunden waren. Weiterhin reduzierte die Säkularisierung der Klöster und die Aufhebung und Umwandlung der Herbergen und Hospitäler die Pilgerwege in Westeuropa von einer immer noch leistungsfähigen caritativen Institution auf einen verkehrsgeographischen Begriff. Die Behauptung ist nicht abwegig, dass Santiago de Compostela infolge der durch die Revolution ausgelösten geistigen und materiellen Umwandlungen seine Bedeutung für das europäische Pilgerwesen im 19. Jahrhundert verloren hat. Während des 20. Jahrhunderts bis nach dem Zweiten Weltkrieg blieb dem im mittelalterlich-christlichen Sinn geprägten Pilger der Weg zum Apostelgrab größtenteils versperrt. Nationaldenken, weltweite Kriege und Krisen, ein Auseinanderdriften Europas in ideologische Blöcke, die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft und die europäische Isolierung Spaniens während der Franco-Zeit waren der Pilgerfahrt nach Compostela nicht gerade förderlich. Erst in unserer Zeit, ab Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, kann man wieder von einer europäischen Dimension der Pilgerfahrt zum Apostelgrab in Compostela sprechen. In der Pilgerpraxis leben seit dieser Zeit alte Strukturen wieder auf. Alte Hospitäler in monastischen und religiösen Zentren von Roncesvalles über San Juan de Ortega und Samos bis nach Compostela werden reaktiviert, neue refugios an allen wichtigen Orten geschaffen. Eine neue Infrastruktur zeichnet sich ab, in ihrer Fürsorge ähnlich der des Mittelalters und ebenso notwendig sicherlich auch, denn allein auf die touristische Struktur angewiesen zu sein, ergäbe keinen Sinn. Wobei wir bei der letzten Fragestellung wären: dem Sinn, der dem Nachvollzug einer mittelalterlichen Pilgerfahrt mit konkretem Ziel im modernen wie einige meinen nachchristlichen Europa innewohnt.

Es läuft der 65jährige Museumsaufseher neben dem gleichaltrigen Generaldirektor der Agrarkommission der EU, der Computerspezialist neben der Fabrikarbeiterin, ein Mitglied der katholischen Jugend neben einem Grünen, der Marineleutnant neben einem Wehrdienstverweigerer; alle Berufe; alle gesellschaftlichen Gruppierungen vom Kaiserenkel zum jugendlichen Delinquenten, arm und reich, Frau und Mann, oft sind auch Kinder dabei, fühlen wieder die Faszination des Weges. Die Motive sind so vielfältig wie die Herkunft, der Beruf und die Nationalität der neuen Pilger. Sportgeist, Heilssuche, psychologische Reinigung, Sozialhygiene, unbestimmbare Sehnsucht, Bildungsbürgertum, Massentourismus, Mode etc.: es gibt viele Chiffren für ein Phänomen, das als Kultrelikt, als Unzeitgemäßes im Zeitgemäßen alle herkömmlichen Be- und Verurteilungskriterien sprengt. Zum Schluss noch die Frage: Warum brauchen wir alle, überzeugte Christen oder Säkularisierte, diese europäische Pilgerfahrt? Der Sternenweg der germanischen Mythologie, der Sternenweg, der Karl dem Großen in der Sage den Weg zum Apostelgrab wies, der mittelalterliche Heilsweg, der vom Baltikum bis zum Cabo Finisterre, dem Ende Europas, führte, könnte uns helfen, unsere Identität zu finden und zu verteidigen, unser europäisches Bewusstsein, unsere abendländische Erbschaft zu begreifen und uns vor dem Verlust unserer Kultur gegenüber einer Verschnittkultur internationaler Prägung bewahren. Quellen: Robert Plötz: Pilgerfahrt zum heiligen Jakobus, in Santiago de Compostela Pilgerwege, hgg. Von Paolo Caucci von Saucken; Weltbild Verlag GmbH, Augsburg 1998 Rolf Legler: Sternenstraße und Pilgerweg Der Jakobs-Kult von Santiago de Compostela: Wahrheit und Fälschung, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1999 Merete Nielsen Veniant omnes gentes Die europäische Santiago-Wallfahrt vor dem Hintergrund der spanischen Geschichte bis zur Neuzeit in STERNENWEG, Zeitschrift der Deutschen St. Jakobus Gesellschaft e.v. Aachen, Heft 30, Sept. 2002 Wikipedia