Unverkäufliche Leseprobe. Heinz Halm Die Schiiten. 128 Seiten, Paperback ISBN: Verlag C.H.Beck ohg, München

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Unverkäufliche Leseprobe Heinz Halm Die Schiiten 128 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-50858-5 Verlag C.H.Beck ohg, München

Einleitung Vor fünfundzwanzig Jahren erst sind die Schiiten ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit getreten, als 1979 schiitische Revolutionäre den Schah von Persien stürzten, die Islamische Republik Iran errichteten und sogleich die Auseinandersetzung mit dem Westen suchten. Schon bald traten weitere Konflikte im Nahen Osten hinzu, in die Schiiten verwickelt waren: der Bürgerkrieg im Libanon, in den die Schiiten des Landes nach der israelischen Invasion 1982 militärisch eingriffen; der Bürgerkrieg in Afghanistan, an dem sich auch schiitische Mudschâhedîn beteiligten; der Konflikt um Berg-Qarâbâgh, in dem sich christliche Armenier und schiitische Aserbeidschaner gegenüberstanden, und die Aufstände der Schiiten des südlichen Irak gegen Saddâm Hussein nach dem zweiten Golfkrieg 1991 und 1999. Nach dem Sturz Saddâm Husseins durch die amerikanisch-britische Intervention 2003 wurde plötzlich deutlich, daß die Schiiten die Mehrheit der irakischen Bevölkerung stellen und einen entsprechenden Anteil an der Macht in einem künftig unabhängigen Irak beanspruchen. Während die Schiiten als politische Akteure in den Vordergrund rückten, blieben ihre Glaubensvorstellungen und ihre mehr als dreizehn Jahrhunderte alte religiöse Tradition weitgehend im Dunkel. Allenfalls sah man Bilder von Geißlern, die sich den Rücken blutig schlugen oder sich die Stirnen mit Schwertern zerhackten. Die verstörenden Bilder suggerierten die Vorstellung von etwas total Fremdem, Unverständlichem, dem man mit Adjektiven wie «mystisch» oder «irrational» beizukommen versuchte; das Schiitentum erschien als eine besonders bedrohliche Spielart des ohnehin als fanatisch verschrieenen Islams. Was vor allem unerklärt blieb, war der Zusammenhang zwischen der Religion der Schiiten und ihrem revolutionären Aufbruch von 1978/79, wenn auch ein solcher Zusammenhang allgemein als

8 Einleitung selbstverständlich unterstellt wurde: in Iran so schien es hatte der schiitische Islam eine Revolution ausgelöst, und nicht etwa Iraner, die zufällig schiitischen Bekenntnisses waren. Von der Dämonisierung der Schiiten, wie sie auf dem Höhepunkt der iranischen Revolution im Westen gang und gäbe war, hat sich inzwischen einiges verflüchtigt. Der Aufstand der irakischen Schiiten gegen Saddâm Hussein hat sogar zeitweilig in den Medien die gewohnten Freund-Feind-Bilder durcheinandergebracht, wenn sich auch bald bei westlichen Politikern und Kommentatoren die alte, vage Furcht vor einer schiitischen Expansion wieder durchsetzte: man sah lieber einen geschwächten Saddâm, der aber den Irak zusammenhielt, als einen von den Iranern dominierten Schiitenstaat im Südirak. Auch nach dem Sturz des Diktators ist die Unsicherheit westlicher Beobachter nicht verschwunden; zwar differenziert man nun zwischen «radikalen» und «gemäßigten» Schiitenführern, doch sind die vagen Befürchtungen vor den Folgen einer schiitischen Machtübernahme im Irak geblieben. Gegenstand des vorliegenden Buches ist indes weder die iranische Revolution noch die Nahostpolitik im allgemeinen, sondern die Religion der Schiiten. Bei der engen Verflechtung von Religion und Politik im Nahen Osten ist es jedoch unvermeidlich, daß die politischen Vorgänge immer wieder ins Zentrum der Betrachtung rücken. Die iranische Revolution ist natürlich auch ein Stück Geschichte des schiitischen Islams, und umgekehrt müßten die Vorgänge in Iran ohne Kenntnisse der Schia unverständlich bleiben. Dabei ist zu beobachten, daß die politischen Ereignisse auch die Religion selber verwandeln und ihre geschichtliche Entwicklung vorantreiben. Die Schia ist so alt wie der Islam selber. Sie war jedoch stets eine Minderheit und meist in der Opposition, gelegentlich verfolgt, verachtet und unterdrückt. Ihre Geschichte hat ihr Weltbild und ihre Haltung zu Politik und Gesellschaft nachhaltig geprägt, und diese Haltung hat in den politischen Konflikten unserer Tage ihren Niederschlag gefunden. Entstanden ist die Schia im Irak, der bis heute eines der Kernländer des schiitischen Islams ist. Im Irak haben sich die ent-

Einleitung 9 scheidenden Ereignisse der schiitischen Passionsgeschichte abgespielt, hier liegen die Grabheiligtümer von sechs der zwölf Imame, und hier ist die Theologie der Schia im Mittelalter entwickelt worden. Die Schia ist also ursprünglich ein arabisches Phänomen, wie der Islam selber, und der weitaus größte Teil ihrer Literatur ist in arabischer Sprache abgefaßt, auch von iranischen Autoren; bis heute ist Arabisch die Sprache der schiitischen Theologen in aller Welt. Mehr als die Hälfte der Iraker sind Schiiten; sie leben vor allem im Süden des Landes (etwa 15 Millionen). In Iran hat sich die Schia mit der Gründung der arabischen Kolonie Qom schon im 8. Jahrhundert festgesetzt, doch blieben die Schiiten lange Zeit eine Minderheit; ihre Gemeinden fanden sich vor allem in den Städten des nordwestlichen Iran. Erst mit der Etablierung einer schiitischen Schah- Dynastie 1501 setzte in Iran eine systematische Politik der Schiitisierung ein, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts abgeschlossen war. Von ihr waren auch die türkischsprachigen Bewohner Aserbeidschans betroffen: mehr als 6 Millionen Âzerîs in der jetzt unabhängigen ehemaligen Sowjetrepublik Aserbeidschan (drei Viertel der Bevölkerung) und 15 Millionen Âzerîs in der gleichnamigen Nordprovinz Irans sind Schiiten. Iran hat mit 85 % seiner Bevölkerung den höchsten Schiiten-Anteil aller islamischen Länder (etwa 57 Mio.). Die Schiitengemeinden des Südlibanon und der libanesischen Biqâ«-Ebene sind schon im 10. Jahrhundert bezeugt; sie stellen heute die zahlenmäßig bedeutendste Religionsgruppe des Landes (1,7 Mio.). Schiiten gibt es auch in den arabischen Staaten auf der westlichen Seite des Golfs, in Saudi-Arabien wie in den kleineren Golfstaaten Kuwait und Bahrain (zusammen etwa 2,4 Mio.). In Afghanistan sind die mongolischen Hezâra des zentralen Berglandes Schiiten, und auf dem indischen Subkontinent gibt es größere Inseln überwiegend schiitischer Bevölkerung im pakistanischen Pandschâb, in Indien um Audh nördlich des Ganges und um Haiderabad im zentralen Dekkan sowie im zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Kaschmir; über die Zahl der indischen Schiiten liegen allerdings keine verlässlichen Schätzungen vor. Zusammen zählen die Schiiten in den islamischen Kernländern

10 Einleitung damit wohl mehr als 120 Millionen Menschen; das ist etwa ein Zehntel der auf der Erde lebenden Muslime; dabei ist die schiitische Diaspora in aller Welt nicht mitgerechnet. Die Siedlungsgebiete der Schiiten bilden kein zusammenhängendes Territorium, und die Schiiten selber gehören verschiedenen ethnisch-sprachlichen Gruppen an; sie sind Araber, Iraner, türkische Âzerîs, mongolische Hezâra oder Inder. Wenn hier und im folgenden von Schiiten die Rede ist, dann sind damit immer die «Imamiten» oder «Zwölfer» gemeint, die durch die politischen Ereignisse der letzten Jahre in die Schlagzeilen geraten sind. Die kleineren schiitischen Denominationen wie die Ismailiten des Agha Khan, die indischen Bohras, die jemenitischen Zaiditen, die syrischen Nusairî-Alawiten oder die Drusen werden hier nicht berücksichtigt. Im Mittelpunkt der folgenden Darstellung stehen die Passionsriten, die den eigentlichen Keim der Religiosität der Zwölfer-Schiiten ausmachen und über die allein der Zugang zum Verständnis ihrer wesentlichen Glaubensvorstellungen möglich ist.