Pierre Legendre. Schriften. Herausgegeben von Georg Mein und Clemens Pornschlegel. Band 1

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Transkript:

S c h r i f t e n 1

Pierre Legendre Schriften Herausgegeben von Georg Mein und Clemens Pornschlegel Band 1

P i e r r e L e g e n d r e VOM Imperativ der Interpretation Fünf Texte Aus dem Französischen von Sabine Hackbarth V e r l a g T u r i a + K a n t W i e n B e r l i n

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Bibliographic Information published by Die Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the internet at http://dnb.ddb.de. ISBN 978-35132-590-4 für die französischen Texte: siehe Textnachweise S. 189 für die deutsche Ausgabe: Verlag Turia + Kant, 2010 V e r l a g T u r i a + K a n t A-1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG1 D-10827 Berlin, Crellestraße 14 info@turia.at www.turia.at

Inhalt VORWORT....................................... 7 Die Narbe. An die Jugend, die begierig sucht... Rede vor Studenten über Wissenschaft und Unwissen............................... 11 Vorbemerkung. An die Jugend, die begierig sucht.............. 13 Die Narbe. Rede vor Studenten über Wissenschaft und Unwissen....................................... 17 I Erste Denkrichtung eine Schlüsselfrage: Was blieb bei der Entstehung des modernen Wissenschaftssystems außen vor?...................................... 20 II Zweite Denkrichtung: Annäherung an das, was sich die Wissenschaften nicht angeeignet haben: das Wissen über das Subjekt.................................. 31 Weiterführende Bemerkungen............................ 37 I Sich erkennen. Bemerkungen über die abendländische Erfahrung der kulturellen Bezugssysteme............... 39 II Das Konzept des Staates als Derivat des jüdisch-römischchristlichen Szenarios.............................. 44 III Theoretischer Ausblick. Zur sprachlichen Struktur der sozialen Montagen................................ 51 Ikonografie..................................... 61

Die Fabrikation des abendländischen Menschen gefolgt von Der mordende Mensch............... 65 Vorwort............................................ 67 Die Fabrikation des abendländischen Menschen.............. 69 Der mordende Mensch................................. 87 Dominium Mundi. Das Imperium des Managements.... 101 Vorwort zum Film.................................... 103 Bemerkung zur Struktur............................... 107 Der Text zum Film................................... 109 Postskriptum. Die Schattenlinie der Kulturen............... 141 einführung..................................... 142 I Politische Theologie und Recht..................... 144 II Was wir aus Hieronymus Boschs Triptychon»Der Garten der Lüste«lernen können............... 150 III Bemerkungen zu einzelnen Filmbildern............... 156»Die Juden interpretieren verrückt.«gutachten zu einem Text..................... 165 Textnachweise...................................... 189

VORWORT Dieser Band, der die Reihe der deutschen Übersetzungen meiner Werke bei Turia + Kant eröffnet, enthält zwei Vortragsskripte sowie zwei Texte, die ich als Vorlagen für meine Dokumentarfilme verfasst habe. Sie sind das Ergebnis theoretischer Arbeiten in der Geschichtswissenschaft und werden getragen von einem Staunen, das mich angesichts der Undurchdringlichkeit der Welt, die das sprachbegabte Tier konstruiert, immer wieder befällt. Die Gelehrten des Mittelalters, deren Schüler ich war, bis ich gelernt habe, auf eigenen Beinen zu stehen, haben mir nicht ihre strengen Regeln, wohl aber jene Worte vermittelt, die emblematisch für das eroberte Wissen stehen: studiositas und curiositas. Das Wagnis bestand darin, meine Forschungen der Erkundung jener Schichten zu widmen, die unter der Oberfläche der Gegenwart liegen, und dann über die bloße Feststellung einer Abhängigkeit der verschiedenen Sedimente hinausgehend zu begreifen, auf welche Weise Subjekt und Kultur sich untrennbar gegenseitig angehören. Daher rührt mein Interesse an einer Reflexion, die den Blick auf die dogmatischen Montagen in ihrer Eigenschaft als menschliche Organisationsebene lenkt; eine Formel, die die alten Römer geprägt haben, fasst ihre Funktion kurz und bündig zusammen: Es geht darum, das Leben institutionell einzurichten (vitam instituere). Dieses Unterfangen befriedigt jene Denkrichtungen, die die horizontal agierende Geschichtschreibung die Untersuchung sukzessiver Veränderungen an der gesellschaftlichen Oberfläche uns auferlegt, natürlich nicht. Ebenso wenig entspricht meine Forschung einer Epistemologie, die ihre Kraft aus der Dichotomie von Individuum und Gesellschaft bezieht, das Phänomen der Institution juristisch einschließt und mit Postulaten aus unvordenklichen Zeiten versiegelt. Die Propagandamaschinerie des Managements belebt diese Gebote heute neu: Sie wirken als Schutzmechanismen gegen die Gefahr eines allzu großen Wissens über die Bedingungen des Menschseins im Allgemeinen beziehungsweise was unsere Überlegungen an dieser 7

Stelle betrifft der menschlichen Existenz im Abendland im Besonderen und werden getragen von einem allumfassenden Management, bei dem es zum guten Ton gehört, die lange Reifung der erwähnten Vorstellungen im Laufe der Jahrhunderte seit dem Aufkommen der Moderne zu verkennen. Im Grunde geht es um Folgendes: Wie steht es um die Freiheit, kritische Fragen zu stellen, die der europäischamerikanische Westen immer so lauthals für sich beansprucht? Die gesamte Menschheit unterliegt dem Imperativ der Interpretation, weil sie darauf angewiesen ist, die Reproduktion der Gattung in der Sprache zu gewährleisten. Wir rühren hier an die Logik der Genealogie, an die zivilisatorischen Verkettungen, die die hermeneutischen Montagen in Europa ebenso prägen wie jene, die uns fremd sind und nicht den Weg des jüdisch-römisch-christlichen Monotheismus beschritten haben, dieses geistigen Trägers der Technik und des staatlichen Prinzips bis in unsere Zeit. Die Globalisierung von Handel und Industrie wird ohne jeden Zweifel die Entschleierung der vorherrschenden, also unserer Kultur bewirken. Wenn wir nicht weiter auf unserer funktionellen Verkennung beharren wollen, werden wir uns vermittelt durch normative Quellen: die verdrängten Texte, die im Untergrund des Abendlandes ruhen wohl oder übel mit der Art und Weise befassen müssen, in der Westeuropa sein Schicksal besiegelt hat: Es geht darum und zwar im Modus der Vorstaatlichkeit, den die Antike nicht kannte über den Pakt zwischen der römischen Vernunft und dem Evangelium zu sprechen. Wir werden so zugleich die schicksalhafte Bedeutung des 20. Jahrhunderts verstehen und begreifen, wie die Effekte der Un-Vernunft sich in einer Art Kettenreaktion fortgesetzt haben, in der der anhaltende Erfolg der liberal-libertären Ideologien unserer Zeit seinen Ursprung hat. Wenn die Verfechter einer tröstlichen Wissenschaft vor meinen Arbeiten fliehen, dann weil sie eine unangenehme Tatsache deutlich aussprechen: die Gleichheit aller Subjekte und Gesellschaften vor der Logik der Repräsentation in ihrer bewussten und unbewussten Form. Die Frage der Vernunft ist also der Kern der institutionellen Systeme, so wie sie auch im Zentrum jener philosophischen Überlegungen steht, die der Positivismus unserer Zeit totschweigt. Man könnte auch anders formulieren und sagen: Wenn wir uns der Frage der Fragen nähern den Einsätzen, um die es bei der menschlichen Individuierung geht, nämlich Inzest und Mord dann entdecken wir, dass

die Vernunft nichts ist, was uns regelmäßig und sicher zusteht. Unter diesen Umständen ist das wichtigste Anliegen der Forschung, für die ich hier spreche, zu verstehen und zu vermitteln, dass ausnahmslos jede menschliche Gesellschaft mit der Gefahr einer instituierten Un- Vernunft konfrontiert ist. Das Verständnis, das wir anstreben sollten, setzt eine neue Generation von Interpreten voraus, die sich bewusst ist, welchen Risiken die Gattung durch wissenschaftliche Selbstgefälligkeit und die Konzeption des Wissens als bloße Information ausgesetzt ist. Ein Punkt ist jedoch schwer zu vermitteln, auch wenn er zugleich die Größe des Ehrgeizes ausmacht, der nach Wissen strebt: Auf kultureller wie subjektiver Ebene können wir nur zum innersten Kern der Wahrheit vorstoßen, wenn wir uns wieder auf uns selbst besinnen. Pierre Legendre