Predigt zum Sonntag Trinitatis 205, Pfedelbach Pfarrerin Claudia Kook Liebe Gemeinde, In einem Gespräch mit einer Frau aus meiner vorherigen Gemeinde möchte ich berichten, weil sie einen so schönen Satz gesagt hat. Ich hatte sie gefragt, wie es ihr gehe, und sie erzählte vom vorherigen Abend. Sie sagte: Da dachte ich wieder: ohje, ich fall in eine Depression. Aber dann kam ein Anruf von einer Bekannten, die hat viel erzählt, und ich habe zugehört, und dann habe ich mich ganz vergessen. Dieser Satz hat mir so sehr gefallen: Dann habe ich mich ganz vergessen. Schön, wenn man das so sagen kann, wenn einem das gelingt, wenn man sich ganz vergessen kann. Wenn man nicht mehr an das schwere denkt, nicht mehr die Sorgen um und umwälzt und nicht mehr die Schmerzen am eigenen Körper spürt. Sondern zumindest für ein paar Momente alles abstreifen kann, sich ganz vergessen kann. Sich tragen lassen kann. Von der Sehnsucht, ein anderer zu werden, davon handelt unser heutiger Predigttext. Könnte ich nicht ein ganz anderes Leben führen? Aber wir alle haben ja unsere Erfahrungen, unsere Erinnerungen. Auch unseren Körper können wir nicht so einfach austauschen. Vieles ist eingefahren. Wie kann für mich etwas Neues anfangen? Eine neue Welt, ein neues Leben, wie das, von dem Jesus erzählt und das in seinen Taten aufleuchtet? Mit dieser Frage kommt ein Mensch zu Jesus. Hören Sie den Predigttext aus dem Johannesevangelium, Kap 3: Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. 2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen
wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist. Liebe Gemeinde, Nikodemus, ein Pharisäer, der hohes Ansehen genießt und der als Mitglied im Hohen Rat durchaus eine Autorität darstellt. Nikodemus ist Teil einer festgefügten Ordnung. Zugleich aber ist er von dem Neuen angezogen, das in Jesus aufleuchtet. Die Zeichen, die Jesus tut, berühren ihn. Am Tag ist Nikodemus voller Selbstbewusstsein. Am Tag trägt er seine Robe und sitzt auf seinem Richterstuhl und tut seine Arbeit mit großer Gewissenhaftigkeit. Und er kann dabei aus einem umfangreichen Wissen und aus einer reichen Erfahrung schöpfen. In der Stille der Nacht aber fragt er sich, ob er nicht das Leben aus den Augen verloren hat. In der Nacht spürt er, dass in ihm Ungeborenes schlummert, das nur darauf wartet, zum Leben erweckt zu werden. Nikodemus geht zu Jesus, dem Mann aus Galiläa, der die Unruhe in seinem Herzen noch verstärkt. Er geht in der Nacht. Vielleicht weil er lieber nicht gesehen werden möchte. Vielleicht aber, weil da seine Unruhe am größten ist und ihn in hinaus auf die Straße treibt. Jesus führt ihn mit seinen Worten genau zu dieser Unruhe zurück. Er sagt: ja, du hast recht. Wahrlich, ich sage dir: Es muss jemand aufs neue geboren werden, wenn er das Reich Gottes sehen will. Mit diesen Worten fegt Jesus alles hinweg, was dem Nikodemus bisher heilig war, was sein Leben ausgemacht hat, woran er sich gehalten hat. Nikodemus soll ganz von vorne beginnen. Sozusagen bei der Geburt. Verzweifelt sieht er Jesus an. Wie kann denn ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in den Leib seiner Mutter gehen und nochmals, aufs Neue geboren werden? Das ist natürlich ein Missverständnis. Nikodemus hat zwar ein ausgesprochen umfassendes Wissen, aber er weiß eben nur von solchen Geburten aus Fleisch und Blut. Gibt es ein anderes Leben als das Leben, das, was ihm von seinen Eltern geschenkt wurde? Vielleicht stellt er sich aber auch absichtlich etwas dumm. Vielleicht ahnt er die Wahrheit, die in diesen Worten enthalten ist, und reagiert darauf mit spöttischer Ironie, nur um abzulenken von seiner Angst, die in ihm aufsteigt. Soll ich alles loslassen, was ich mir erarbeitet habe? Was ich mühsam erreicht habe? Was ich mir an Lebenserfahrung zum Teil schmerzhaft erworben habe? Ich kann Nikodemus an dieser Stelle gut verstehen. Gewohnheiten geben eben auch Halt, selbst wenn ich sie manchmal als einengend und bedrückend Siehe auch: Nico ter Linden, De mooiste bijbelverhalen, Amsterdam 2006 2
empfinde. Soll ich das alles loslassen? Soll ich mich selbst loslassen? Mich selbst vergessen? Jesus antwortet: Wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, nur dann kann er in das Reich Gottes kommen. 6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. Von neuem geboren werden. Also mich nicht mehr festhalten. Sondern alles loslassen. Das steckt in dem Bild vom Geboren werden drin: das Geboren werden hat sehr viel Passives an sich. Ungeheure Kräfte wirken da, die das Kind, das da geboren werden soll, über sich ergehen lassen muss. Das Kind lässt sich darauf ein, lässt sich tragen, lässt sich von diesen Kräften mitnehmen, vielmehr mitreißen, um in Leben hinein zu kommen. So ist das auch, wenn ich vom Geist neu geboren werde: Von den Kräften des Lebens mich tragen lassen. Von der Kraft Gottes mich mitnehmen, ja mitreißen lasse, ins Leben hinein. Nikodemus bleibt etwas ratlos zurück und weiß nicht so recht, was er mit dieser Antwort jetzt anfangen soll. Der Wind bläst, wo er will, sagt Jesus noch, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist. Geheimnisvolle Worte. Und hier ist der geeignete Zeitpunkt, um einen kleinen Ausflug zur Trinität zu machen, heute am Sonntag Trinitatis: Es gibt keine einfache Sprache von Gott. Auch die Erfahrungen, die Menschen mit Gott machen, lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Und deswegen die Rede von der Dreieinigkeit als ein Versuch, sich Gott zu nähern. Ein Versuch, das Geheimnis zu benennen und zugleich zu bewahren. Gott, der allmächtige Schöpfer, der Neues schafft aus dem Nichts. Aber auch Gott, der uns in Jesus Christus begegnet, eben gar nicht allmächtig sondern ohnmächtig und auf Hilfe angewiesen, wie wir. Gott der Heilige Geist, der in Bewegung setzt, der Veränderung bringt, unberechenbar, wir wissen nicht woher und wohin er geht. Kein Gottesbild, das ich einfach in die Tasche packen kann, an dem ich mich dann immer fest halten kann, sondern auch hier muss ich mich tragen lassen und schauen: Wie begegnet mir Gott in dieser Situation, in meinem Leben, im Hier und Jetzt? Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist. Ich weiß nicht, ob das Nikodemus weiterhilft oder ob es seine Verwirrung und seine Angst nicht eher verstärkt. 3
Nicht festhalten sondern loslassen. Das kann Angst machen. Mich nur tragen lassen von Gott, sehen wohin es mich weht, welche Aufgaben sich mir in den Weg stellen, welche Menschen mir begegnen. So wie die Jünger ja auch alles aufgegeben haben, Beruf, Familie, und mit Jesus durchs Land gezogen sind Aber wer will das schon? Nikodemus ist mit seinem Zögern, so finde ich, eine gute Identifikationsfigur für uns. Aber vielleicht gelingt es doch manchmal im Kleinen: Und dann habe ich mich ganz vergessen nochmal der Satz vom Anfang. Manchmal gelingt es, dass ich mich tragen lassen kann, mich hineinnehmen lassen kann, in ein Gespräch oder in eine Erzählung eines anderen Menschen. dass ich mich von seinen Erfahrungen mitnehmen lassen kann und dann die eigenen Sorgen loslassen kann. Es ist ein Risiko darin verborgen. Ich weiß ja nicht, wohin führt mich dieses Gespräch? Wohin führen mich die Sorgen des anderen oder die Erlebnisse es anderen? Ich weiß nicht, wohin es mich treibt, aber und das ist das Wichtige es macht mich frei. Es befreit mich von mir selbst. Es macht mich frei für ein Leben mit anderen. Frei für ein Leben mit Gott. Zurück zu Nikodemus: Der steht da und wartet auf den Wind. Auf den Geist. Darauf, dass etwas passiert. Wahrscheinlich geht Nikodemus wieder nach Hause, und zu seiner inneren Unruhe ist nun auch noch die völlige Verwirrung gekommen. Aber einige Kapitel später ist nochmal ganz überraschend von ihm die Rede. Nur kurz. Nikodemus diskutiert im Hohen Rat mit den anderen Priestern und äußert sich zugunsten von Jesus. Sofort werden die anderen Priester hellhörig und fragen: Gehörst du etwa zu denen? Bist du auch einer von den Galiläern? Das heißt, irgendetwas ist geschehen. Die Veränderung vollzieht sich langsam, wie auch ein Kind langsam heranwächst. Nikodemus gibt nicht gleich seinen Beruf. Auch seinen sozialen Stand behält er. Er wird keiner der Jünger Jesu, die auf staubigen Füßen durch die Lande ziehen. Aber immerhin. Innerhalb der Position, die er innehat, sieht er nun neue Möglichkeiten und nutzt die auch, wenn es darauf ankommt. Vielleicht ist er selbst ganz überrascht darüber, welcher Mut da in ihm aufgetaucht ist. Und ganz am Ende des Johannesevangeliums taucht er ein drittes Mal auf. Jesus ist gekreuzigt und gestorben, die Argumente des Nikodemus haben also im Hohen Rat keinen Eindruck hinterlassen. Jesus wird vom Kreuz genommen und zu Grabe getragen. Und da erscheint Nikodemus ganz unerwartet. Nach wie vor ist er ein reicher Mann, er salbt den Leichnam mit einer Mischung aus Myrrhe und Aloe, ungefähr hundert Pfund heißt es, also unglaublich viel. Ein fürstliches Geschenk. Es ist, als begrabe Nikodemus den König der Welt. Der Mann, der einst suchend und ängstlich zugleich in der Nacht zu Jesus kam, tritt aus dem Dunkel heraus und wagt am helllichten Tag, sich auf die Seite der Verlierer zu stellen. 4
Der Wind bläst, wo er will, du hörst sein Sausen wohl, aber du weiß nicht, woher er kommt und wohin er fährt. Nikodemus erinnert sich an die Worte Jesu. Ich habe sein Sausen gehört. Und ich habe keine Ahnung, woher dieser Mut auf einmal gekommen ist. Und auch nicht, wohin das alles führen wird. Aber das macht nichts. Gottes Geist trägt. Das ist gewiss. Amen. 5