Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Bischof Dr. Markus Dröge Predigt am 26.5.2010 Kirche am Hohenzollernplatz Psalm 15 Gnade sei mit euch, und Friede von Gott unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Linie halten, weder zur Rechten noch zur Linken weichen, aufrecht stehen und aufrecht gehen, Versuchungen abgleiten lassen, wie Tropfen am Regenmantel. I. Ein majestätisches Bild zeichnet der Psalm vom glaubenden Menschen. Wer glaubt, redet Worte, die stimmen und Frieden stiften, meidet die Wortverdreher und sucht die Nähe der Glaubwürdigen, hält Linie, auch wenn es weh tut, ist unbestechlich. Wer glaubt, der darf wohnen in Gottes Haus, darf bleiben, wo nicht einmal die Jünger Jesu ihre Hütten bauen durften: auf dem Heiligen Berg Gottes, dem Berg der Verklärung. II. Nun gibt es ein Buch, das sich von allen anderen Büchern der Bibel unterscheidet, dadurch, dass es nur Gebete enthält. Das sind die Psalmen, schreibt Dietrich Bonhoeffer. Es ist zunächst etwas sehr Verwunderliches, dass es in der Bibel ein Gebetbuch gibt. Die Heilige Schrift ist doch Gottes Wort an uns. Gebete aber sind Menschenworte (an Gott). 1
Wie kommen sie daher in die Bibel? Wir dürfen uns nicht irre machen lassen: Die Bibel ist Gottes Wort, auch in den Psalmen. So sind also die Gebete zu Gott Gottes eigenes Wort Mein Psalm, der Psalm, den ich bete, ist also Gottes Wort in meinem Herzen, in meinem Mund. Gott hat so zu mir geredet, dass er schon mit bedacht hat, wie ich zu ihm reden kann. Der Psalter ist das große Buch der Nächstenliebe Gottes, wie ein liebevoller Brief, den ich handschriftlich verfasse, bei dessen Formulierung ich den Empfänger, die Empfängerin vor Augen habe. Wie kann sie das aufnehmen, was ich schreibe? Wo wird sie gerade sein, wenn sie meinen Brief liest? Worunter wird sie leiden? Was wird sie erfreuen? Was wird mein Wort in ihr bewegen? Was wird sie mir antworten? Im Psalter finden wir Gottes eigenes Wort, formuliert als unser Wort an Gott. Er redet so zu uns, dass er schon mit bedenkt, wie wir auf sein Wort antworten können. Ja, Gott sieht uns als seine Nächsten. Und NÄCHSTEN ist ein Verb. Denn Gott bewegt sich auf uns zu. Und seine Regel ist die Liebe. III. Offenbar sieht Gott uns als Gebückte und Gebeugte, als Gefährdete und Verführbare, als Suchende, die mehr straucheln und fallen, als Linie zu halten. Warum sonst legt er uns die Worte vom aufrecht Glaubenden in den Mund? 2
Von dem Mann oder der Frau, die weder zur Rechten noch zur Linken weicht, die Versuchungen abgleiten lässt, wie Tropfen am Regenmantel, die die Wahrheit kennt und die Wahrheit nennt? Warum? Weil sein Wort genau dies in uns wecken will: Dass wir aufrecht gehen können und Linie halten. Wir, die wir oft so orientierungslos wanken, die wir wie Pilatus fragen, was die Wahrheit denn sei, für uns, die wir uns in die Enge getrieben fühlen, von den vielen Wahrheitsansprüchen die uns bedrängen, und deshalb lieber schweigen, wenn es ernst wird und die echten Fragen gestellt werden. Genau dies will sein Wort in uns wecken: Dass wir aufrecht gehen können und Linie halten. Gerade uns legt Gott den 15. Psalm in den Mund, um uns zu zeigen, was seine Liebe wirkt. Wer also ist Gottes Nächster? Wer darf ihm ganz nahe kommen? Bis in sein Haus? Bis auf seinen Heiligen Berg? Wer sein Wort hört, wer Sehnsucht hat nach der Geborgenheit und Klarheit in Gottes Haus, auf Gottes Berg. Ja, solche aufrechten Menschen brauchen wir, und solche Menschen wollen wir sein. IV. Aufrecht ist, wer beides kennt: wer die eigene Schwäche, die Schuldverflochtenheit, die Versuchlichkeit nicht verdrängt, wer sich und anderen in Klarheit und Wahrheit nichts vormacht. Aber auch, wer Gottes starkes Wort nicht meidet, wer sie nicht scheut, die Kraft, die Gott uns schenken will, - in seinem Haus, auf seinem Berg und überall, wo sein Wort in uns betet - jene Kraft, die kein bequemes Leben schenkt, 3
vielmehr ein Leben, das die Linie hält, auch wenn es weh tut. Aufrecht stehen und aufrecht gehen, ja, das können wir, weil wir Gottes Nächste sind. Und NÄCHSTE ist ein Verb, Gottes Verb, denn er kommt auf uns zu. Und seine Regel ist die Liebe. Linie halten, weder zur Rechten noch zur Linken weichen, aufrecht stehen und aufrecht gehen, Versuchungen abgleiten lassen, wie Tropfen am Regenmantel. im Gleichgewicht bleiben, nicht straucheln oder wanken, nach rechts oder links, ja, das können wir, wenn wir gehalten werden, wenn Gottes Wort den Takt unseres Herzen schlägt, und solange die Liebe nicht aussetzt. V. Es ist ein schmaler Weg, der Weg, der die Linie hält. Hilde Domin hat diesen Weg beschrieben, den Weg, auf dem wir gerade gehen können, solange wir uns beschützt wissen, von einem liebenden Blick begleitet. Gleichgewicht Wir gehen jeder für sich den schmalen Weg über den Köpfen der Toten - fast ohne Angst im Takt unseres Herzens, als seien wir beschützt, 4
solange die Liebe nicht aussetzt. So gehen wir zwischen Schmetterlingen und Vögeln in staunendem Gleichgewicht zu einem Morgen von Baumwipfeln - grün, gold und blau und zu dem Erwachen der geliebten Augen. Amen. 5