Freie Universität Bolzano/Bozen 29.7.-3.8.2013 XV. IDTagung des Internationalen Deutschlehrerverbandes (IDV) Matthias Grünewald Aus zwei mach eins - Zur Methodidaktik der Wortschatzerweiterung
Warum? Wieso? Weshalb? leichten Fußes leichtfüßig Leichtfuß ruhender Pol Ruhepol alter Meister! Altmeister stilles Wasser *Stillwasser
Wortbildung und Phraseologie Vier Formen der Wortschatzerweiterung Wortbildung, Entlehnung, Bedeutungsbildung, Phrasem Wortbildung Produktivste Form der Wortschatzerweiterung Phraseologie Allgemeine Bezeichnung für feste Wortverbindungen Zwei bzw. drei Kriterien: Im weiteren Sinn: Festigkeit, Polylexikalität Im engeren Sinne: Festigkeit, Polylexikalität, Idiomatizität Phraseologie als dynamischster Bereich der Linguistik Phraseme können die Funktion und Bedeutung von Wörtern (Lexemen) übernehmen (vgl. Palm 1997) Defizitär: Wortbildung und Phraseologie im DaF-/DaF-Unterricht Trotz großer Präsenz in mündlichen und schriftlichen Alltagstexten keine systematische Integration / Mittelstufe
Vortragsgliederung 0. Zur Erinnerung: Basisklassifikation der Phraseme nach Burger 1. Gemeinsamkeiten, ähnliche Bildungsverfahren, Übergänge, Identische Lexik/Konkurrenz, Unterschiede von Wortbildung und Phraseologie (Funktion Struktur Semantik Pragmatik) 2. Beispiel 1: Artikelanfang Von der Hand in den Mund 3. Beispiel 2: Artikel Pantoffelheld
0. Basisklassifikation der Phraseologismen (nach Burger 2010) Phraseologismen referentiell strukturell kommunikativ (sowohl als auch) (Guten Tag; Ach so) nominativ Kollokationen Teil-Idiome Idiome propositional satzgliedwertig satzwertig [textwertig] (Sprichwörter, Redewendungen)
1. Gemeinsamkeiten, ähnliche Bildungsverfahren, Übergänge, Identische Lexik/Konkurrenz, Unterschiede Gemeinsamkeiten: Ökonomisierung der mentalen Speicherung; Deutliche Häufung bei 2-3 Morphemen bzw. Basiskomponenten; semantische Binarität; Nichtaustauschbarkeit der Morpheme bzw. Basiskomponenten Allgemein: Benennung von konkreten, ideellen und abstrakten Gegenständen Ähnliche Bildungsverfahren: 1. Umdeutung; 2. Modifikation; 3. Kontamination Übergänge: Verbale Derivationen nur bei Phrasemen; Substantivische Derivationen v.a. mit den Suffixen -er, -erei, -ung, -e; Ellipsen; Adjektivische Derivationen v.a. mit -isch, -ig Identische Lexik/Konkurrenz: Substantive Mehrheit keine Entsprechung, Minderheit mit semantischer Differenz oder Identität; Adjektive Mehrheit keine Entsprechung, Minderheit teilweise mit semantischer Identität bei Vergleichskonstruktionen; Verben Komplizierte Situation aufgrund normativer Rechtschreibregeln; semantische Differenzierung bei Funktionsverb(gefüg)en Unterschiede: Information vs. Expressivität / Emotionalität; Mono- vs. Polylexikalität; semantischer Mehrwert und pragmatischer Mehrwert ; Sicherung der grammatischen Ordnung vs. Sicherung der textuellen Ordnung; rasche vs. langsame Entwicklung und Okkasionalität; Substantive vs. Verben
Beispiel 1: Von der Hand in den Mund Gesund essen mit wenig Geld? In Deutschland leben rund 2,5 Millionen Kinder in armen Familien. Statistisch gesehen sind sie drei Mal so häufig von den Folgen falscher Ernährung betroffen wie der Durchschnitt und diese Folgen könnten unterschiedlicher nicht sein: Ob Übergewicht oder Unterernährung, die gesundheitlichen Schäden bleiben oft ein Leben lang. Die ZDF.reportage Von der Hand in den Mund begleitet Kinder aus sozial schwachen Familien auf ihrem mühsamen Weg zu Normalgewicht und gesünderem Leben.
Ausweitung in Richtung Phraseologie (alle Angaben: Google-Recherche) Hand: von der Hand in den Mund (leben) 878.000 zwei linke Hände (haben) 751.000 Eine Hand wäscht die andere. 597.000 die Hände in den Schoß (legen) 475.000 die Beine in die Hand (nehmen) 414.000 das Handtuch werfen 425.000 (jemanden) auf Händen tragen 361.000 (für jemanden) (seine) Hand ins Feuer legen 321.000 (jemandem) (völlig) freie Hand lassen 141.000 etwas in die Hand nehmen 137.000 (das) Handtuch werfen 124.000 alle Fäden in der Hand haben (/ halten) 44.400 jemanden in der Hand haben 12.000 Mund: (jemandem) nach dem Mund reden 145.000 ein loses Mundwerk (haben) 86.000 den Mund voll nehmen 37.200
Lexikalische Erstglieder Hand bzw. Mund Wahrig. Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (2008) Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (1993 ) Hand: (Wahrig) 50 Einträge: 38 subst. Komp.; 11 adjekt. Derivationen; 1 verbale Derivation (Langenscheidt) 49 Einträge: 41 subst. Komp.; 7 adjekt. Derivationen; 1 verbale Derivation e Handarbeit, r Handball, r Handballen, (r Handbesen), e Handbewegung, e Handbreit, e Handbremse, s Handbuch, s Händchen, r Händedruck, r Handfeger, (e Handfertigkeit), e Handfläche, s Handgelenk, s Handgemenge, s Handgepäck, e Handgranate, e Handgreiflichkeit, r Handgriff, e Handhabe, e Handhabung, r Handkuss, r Handlanger, (s Handout), r Handrücken, (e Handschellen), r Handschlag, e Handschrift, r Handschuh, s Handschuhfach, r Handstand, (r Handstreich), e Handtasche,( r Handteller), s Handtuch, s Handumdrehen, e Handvoll, (e Handwäsche), s Handwerk, r Handwerker, (e Handwerkskammer), (s Handwerkszeug), (s Handy), s Handzeichen, (r Handzettel) (handbreit), händeringend, handfest, (handgearbeitet), handgeschrieben, handgreiflich, handlich, handschriftlich, (handsigniert), (handverlesen), handwerklich handhaben Mund: (Wahrig) 12 Einträge: 10 subst. Komp.; 2 adjekt. Derivationen; 2 verbale Derivationen (Langenscheidt) 17 Einträge: 12 subst. Komp.; 3 adjekt. Derivationen; 2 verbale Derivationen e Mundart, (e Munddusche), (e Mundfäule), (r Mundgeruch), e Mundharmonika, e Mundhöhle, (e Mundpropaganda), (r Mundschutz), (s Mundstück), (r Mundvoll), (r Mundvorrat), s Mundwasser, s Mundwerk, r Mundwinkel, e Mund-zu-Mund-Beatmung mundfaul, (mundgerecht), (mündlich, mundtot) munden, münden
Beispiel 2 : Pantoffelheld Auf der Straße, in der Kneipe und auf der Arbeit ist er der große Held zu Hause nicht. Aber das müssen die anderen ja nicht unbedingt wissen! Wer hat eigentlich bei Ihnen zu Hause das Sagen? Die Frau oder der Mann? Wenn es der Mann ist, finden viele Menschen das ganz normal. Bestimmt jedoch die Frau, so wird ihr Mann oft bemitleidet. Wer sprichwörtlich unter dem Pantoffel eines anderen steht, der hat schließlich nichts zu sagen. Und wem das peinlich ist, der ist ein Pantoffelheld. Dieser versucht dann, sich in der Öffentlichkeit ganz besonders als jemand darzustellen, der zu Hause eigentlich die Hosen anhat und Heldentaten vollbringt. Aber für jeden Pantoffelhelden kommt vielleicht auch zuhause einmal die große Stunde, in der er der wahre Held ist! Autorin: Raphaela Häuser,http://www.dw.de/pantoffelheld/a-5258470; 8.6.2013
Feste Wortverbindungen 1. Suchen Sie bitte in diesem Text feste Wortverbindungen. Welche dieser Wortverbindungen stehen Ihrer Meinung nach in einer direkten Beziehung zu dem Wort Pantoffelheld? 2. Ist Ihnen aufgefallen, dass in dem Text zu Hause und zuhause steht? Ist beides richtig oder handelt es sich hier um einen Schreibfehler? Könnte es einen Unterschied geben? Ad 1. zu Hause das Sagen haben unter dem Pantoffel stehen nichts zu sagen haben die Hosen anhaben Heldentaten vollbringen die große Stunde der wahre Held Ad 2. Tatsächlich sind hier beide Schreibformen richtig.
Beachten Sie aber bitte folgenden Unterschied: zu Hause oder Zuhause? In der Tat ist zu differenzieren, welche grammatische Funktion der Begriff zu Hause/Zuhause hat. Die Präpositionalgruppen mit Haus werden im Allgemeinen getrennt geschrieben: Als die Polizei vor der Tür stand, war der Herr Doktor außer Haus. Nach dem Besuch der dritten Kneipe wollte er nur noch eines: nach Hause. Zu Hause ist es doch am schönsten. In den beiden letzten Beispielen gilt auch die Zusammenschreibung als korrekt: nachhause und zuhause. Hat man es aber mit einem Substantiv zu tun, ist ausschließlich Zusammen- bzw. Großschreibung angebracht: Seit sie ein eigenes Zuhause hat, ist sie richtig ordentlich geworden. Wo sein politisches Zuhause ist, lässt sich nicht feststellen. Übrigens: Haben Sie bemerkt, dass man den Bestandteil Haus in der Präpositionalgruppe mit und ohne e schreiben kann? (Duden Online, 8.6.2013)
Wortbildung 1. Pantoffelheld ist ein so genanntes Kompositum, d.h. ein Wort, dass aus zwei anderen Wörtern gebildet wird: der Pantoffel + der Held. Suchen Sie bitte alle weiteren Wortbildungen der gleichen oder anderer Art. 2. Bilden Sie bitte Wortgruppen: Welche Wörter sind Verben, Nomen, Adjektive, Adverbien? Ad 1. eigentlich normal bestimmen bemitleiden sprichwörtlich schließlich peinlich versuchen Öffentlichkeit darstellen anhaben Heldentaten vollbringen Ad 2. Begründen Sie bitte Ihre Zuordnung welche Kriterien der Zuordnung haben Sie benutzt?
Insgesamt...... gibt es sicherlich immer Möglichkeiten, Wortbildung und Phraseologie sinnvoll und produktiv miteinander zu verknüpfen. Drei allgemeine Prinzipien: 1. Frühe Einbindung von Phrasemen und Wortbildungsregeln in den Aufbau des mentalen Sprachschatzes 2. Kontinuierliche Beachtung und Lenkung der Aufmerksamkeit auf Wortbildung und Phraseme in (semi-)authentischen Texten 3. Sensibiliserung für morphosyntaktische und semantische Unregelmäßigkeiten
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!