Eine kurze Geschichte meiner Philosophie

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Transkript:

Eine kurze Geschichte meiner Philosophie Ágnes Heller K EDITION KONTUREN

Ágnes Heller Eine kurze Geschichte meiner Philosophie

Ágnes Heller Eine kurze Geschichte meiner Philosophie Edition Konturen Wien Hamburg

2011 Ágnes Heller Die Originalausgabe erschien unter dem Titel A Short History of My Philosophy bei Lexington Books, Lanham, Maryland. Übersetzt von Georg Hauptfeld Wir legen Wert auf Diversität und Gleichbehandlung. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte werden Begriffe wie Freund, Liebhaber, Verbündeter usw. in der maskulinen Schreibweise verwendet. Grundsätzlich beziehen sich diese Begriffe auf beide Geschlechter. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Copyright 2017 Edition Konturen Mediendesign Dr. Georg Hauptfeld GmbH www.konturen.cc Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Umschlaggestaltung: Georg Hauptfeld, dressed by Gerlinde Gruber. Umschlagbild: Mediendesign, 1020 Wien Layout: Georg Hauptfeld Lektorat: Bettina Plenz ISBN 978-3-902968-25-8 Druck: Druckerei Berger, 3580 Horn Printed in Austria

Inhalt Einführung 7 1. Lehrjahre (1950 1964) 15 2. Dialogjahre (etwa 1965 1980) 47 3. Aufbaujahre und Jahre der Intervention (1980 1995) 97 4. Wanderjahre (1995 2010) 189 Auf Deutsch erschienene Bücher 237 5

Einführung Wir alle haben verschiedene Geschichten. Was mich betrifft, auch ich habe einige, reich an Konflikten, Dramen, Freuden und Kummer. Ich hatte vielfach Gelegenheit, darüber in meinen Interviews mit neugierigen Journalisten zu sprechen. Doch unter den Geschichten meines Lebens gibt es eine, zu der ich selten befragt werde. Eine Geschichte mit weniger Dramen, aber reich an Veränderungen. Eine Geschichte, deren Struktur und Temporalität sich von meinen vielen anderen Geschichten unterscheidet. Eine Geschichte, die nicht mit meiner Geburt beginnt, sondern in meinen Zwanzigern, um dann parallel zu meinen anderen Geschichten zu verlaufen. Es ist die Geschichte meiner Philosophie. Es wäre vergebens, die Verbindungen zwischen der Geschichte meiner Philosophie und meinen anderen Geschichten zu leugnen. Doch spiegelt die Geschichte meiner Philosophie nicht einfach meine anderen Geschichten wider. Eine Ausnahme ist vielleicht die der ungarischen Revolution von 1956. Doch auch die bedeutendste und unvergessliche politische Erfahrung hat nicht dazu geführt, dass ich meine (noch sehr kurze) Vergangenheit radikal verworfen hätte. Ich blieb wie zuvor Schülerin von György Lukács, ich betrachtete mich wie zuvor als Marxistin, allerdings, das ist richtig, mit wichtigen Modifikationen. Ich hörte auf, bedeutungsvolle und obligatorische Wörter und Ausdrücke aus dem marxistischen Erbe zu benutzen. Nach 1956 sprach ich nicht mehr von Marxismus-Leninismus, sondern von der Renaissance des Marxismus, und ich verwendete auch nicht länger den Begriff dialektischer Materialismus, an dessen Existenz ich nicht mehr glaubte. Diese Ände- 7

rungen mögen dem heutigen Leser nicht mehr wichtig erscheinen. Doch es ist bekannt, dass der Sprachgebrauch eine Denkweise manifestiert, und daher spiegelt sich in der Änderung der Sprache auch eine Änderung des Denkens. Wenn ich die Auswirkungen der Revolution von 1956 überblicke, gehen die verschiedenen Modifikationen meiner Philosophie nicht direkt auf politische Ereignisse zurück, nicht einmal die Veränderungen meiner politischen Ansichten. Mein erstes neulinkes Buch, Das Alltagsleben, wurde vor dem Auftreten der Neuen Linken geschrieben. Weder innere noch äußere Emigration haben wichtige sichtbare Spuren in meiner Philosophie hinterlassen. Während mein politisches und persönliches Leben reich an Abenteuern und dramatischen Wendungen waren, kehrte ich in meiner Philosophie immer wieder zu den losen Fäden meiner früheren Arbeiten zurück. Mir scheint, als hätte ich mein ganzes Leben lang über dieselben Rätsel nachgedacht. Rätsel, die zunächst nur in einem oder zwei Sätzen eines einzelnen Kapitels auftauchten, konnten später als zentrales Motiv eines Kapitels, als Gegenstand eines Essays oder sogar als Hauptthema eines neuen Buchs wiederkehren. Zunächst versteckte Rätsel kamen an die Oberfläche. Mein Denken änderte sich in diesen 60 Jahren, manchmal sogar radikal, aber die Rätsel blieben dieselben. Ich habe in Interviews (und auch zu mir selbst) viele Male gesagt, dass die Rätsel unserer Zeit ein leidenschaftliches Interesse für Ethik und Geschichte in mir geweckt haben. Doch nicht nur ich allein, sondern fast alle bedeutenden Denker Europas widmeten ihre Arbeiten und ihre Gedanken den Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Wie konnten Menschen tun, was sie taten? Wie konnten durchschnittliche Männer und Frauen bewusst zu Massenmördern werden? Was war in Europa im 20. Jahrhundert geschehen, das Auschwitz und den Gulag überhaupt ermöglicht hatte? Diese Fragen stellten sich jedem Philosophen und tun es immer noch. Dies war ein Rätsel, aus dem die Verantwortung erwuchs, theoretische Vorschläge dazu anzubieten, wie man ähnliche Katastrophen in Zukunft vermeiden könnte. Und darüber hinaus jenseits der 8

Realität, wie man sich eine Welt vorstellen könnte, in der solche Katastrophen unmöglich wären. Ich würde sagen, es war der Geist der Zeit. Die meisten meiner Zeitgenossen beschritten ähnliche Wege. Der Weg führte von einer Art Kommunismus zu einer Art Liberalismus, von einer Spielart der großen Erzählung zu einer Version postmoderner Perspektive, von einer Art Allwissenheit zu einer Variation von Skepsis. Instinktiv beschritt ich diesen Weg mit anderen. Jeder ging diesen Weg unabhängig von den anderen, manche von ihnen brillant, manche weniger, alle auf ihre eigene Weise, aber mit vergleichbarer Hingabe. Indem ich von der Geschichte meiner Philosophie spreche, erzähle ich die Geschichte darüber, wie ich mir auf der gemeinsamen Straße meinen eigenen Weg suchte. Die Art einer Philosophie, der philosophische Charakter eines Philosophen ist nach dem zweiten Buch, vielleicht sogar nach dem zweiten Aufsatz angelegt. Die Gedanken können sich ändern, manchmal sogar radikal, doch der philosophische Charakter bleibt derselbe. Philosophinnen und Philosophen entwickeln ihren philosophischen Charakter früh, aber sie entwickeln ihn auch weiter. Manchmal sprunghaft, um mit Nietzsche zu sprechen, wie ein Schmetterling aus einer Raupe entsteht (oder, möchte ich hinzufügen, wie ein Frosch aus einer Kaulquappe). 9