Man hat das Gefühl, das Herz bleibt stehen



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Transkript:

Man hat das Gefühl, das Herz bleibt stehen Bei Online-Roulette und in Casinos verzockte er ein Vermögen. Doch Marlies Junge (38) wollte ihren spielsüchtigen Mann nicht fallen lassen und kämpfte um ihn. Die Kraft dafür, sagt sie, kam von Gott. Manchmal war es, als hätte ich eine Eiswand vor mir. Er wurde ein komplett anderer Mensch, als er spielte. Umarmungen konnte er gar nicht mehr zulassen. Geschweige denn austeilen. Er lebte in einer eigenen, ganz anderen Welt. In der Spieler-Angehörigengruppe hieß es: Wenn sein Spielen deine Existenz gefährdet, trenn dich von ihm. Freunde sagten: Gib ihm den Laufpass. Auch in christlichen Kreisen hörte ich das. Doch ich wollte diesen Mann nie aufgeben. Vielleicht bin ich da ein Extrem. Ich wollte ihn auf keinen Fall verlieren. Ich bin in der christlichen Jugendarbeit aufgewachsen. Da hatte ich meinen behüteten Freundeskreis, und da lernte ich auch Jens kennen. Wir waren uns schnell sicher, dass wir zusammengehören. Nach einem Jahr haben wir geheiratet. Vor 14 Jahren war das. Später haben wir das Haus meiner Eltern ausgebaut und sind zu ihnen gezogen, in die Baustelle, und ich war schwanger. Vielleicht war das alles zu viel für Jens. Jens war keiner, der unbedingt Kinder wollte. Ich war auch noch nie Mama, habe ich ihm gesagt, ich wachse da rein, und das schaffst du auch. Aber er zeigte kaum Interesse. Zuerst habe ich nicht bemerkt, wie er sich veränderte. Ich war mit unserem Sohn beschäftigt und Jens mit seinen Hobbys. Mein Mann ist ein Sammler, seine Hobbys betreibt er exzessiv. Erst schöne, alte Kameras, dann kleine Figuren aus Überraschungseiern. Dass ein Erwachsener so viel Freude daran finden kann, verstand ich nicht. Dann folgte Golfspielen. Und 1999 Börsenspekulation im Internet, da fuchste er sich voll rein. Zuerst lief es gut, er erzählte ganz offen davon. Freunde stiegen mit ein. Gewinne und Verluste schwankten von zehn- bis fünfzigtausend Mark. Dann kam der Börsencrash, und er stürzte ab. Wie groß der Verlust war, weiß ich bis heute nicht. 1

Damals erwarteten wir ein zinsgünstiges Darlehen für unseren Umbau, aber das klappte nicht. Da war er enttäuscht und wurde zum Eigenbrötler. Auf dem Dachboden hat er ein Zimmer mit seinem Computer, da kriegte ich ihn kaum weg, nur zum Essen und gleich wieder zurück. Was im Haus passierte und mit seinem Sohn, war ihm egal. Damals begann er im Internet Roulette zu spielen, erzählte aber nichts davon. Außerdem spielte er exzessiv Golf, fast täglich und am Wochenende Turniere. Ich saß sonntags mit meinem Kind da und dachte: na toll, mein Mann ist wieder weg. Immerhin ging es ihm durch die Bewegung an der frischen Luft körperlich viel besser. Danach fuhr er oft zum Roulette ins Casino. Und ich ahnte nichts. Plötzlich war unser Konto um 20.000 Mark überzogen. Das hatte er verspielt. Er gab es gleich offen zu. Da wusste ich, dass er Spieler ist. Wie einem dann ist? Man hat das Gefühl, das Herz bleibt stehen. Man kann nicht begreifen, dass ein erwachsener Mann solche Dummheit macht, wieder und wieder. Man sieht noch nicht die Erkrankung dahinter. Dabei kenne ich Suchtkranke durch meinen Beruf als Krankenschwester. Aber man will es nicht wahrhaben. Zuerst glich mein Schwiegervater das Konto aus, später ich. Ich habe gespart ohne Ende, und Jens gab es an der anderen Seite wieder aus. Damals hatten wir noch ein gemeinsames Konto. Sechs Jahre war es ein Auf und Ab, Hoffnungen und Abstürze. Wenn ich meine Eltern nicht gehabt hätte, wäre das nicht gegangen. Sie halfen mir finanziell immer wieder aus der Patsche, manchmal nahmen sie mir auch die Kinder ab. Die Kinder waren damals zwei und vier Jahre. Damit sie nicht alleine zu Hause waren, schwang ich mich manchmal fünf Minuten vor meinem Dienstbeginn aufs Fahrrad und holte ihn aus der Daddelhalle, wo er die Zeit komplett vergessen hatte. Zu Hause saß er dann am Computer, die Kinder um ihn herum waren ihm egal. Er schaffte es einfach nicht, sich um sie zu kümmern. 2

Häufig habe ich ihm Druck gemacht, gesagt, du fährst jetzt nicht weg, hab ihm den Schlüssel abgenommen. Wollte ich über finanzielle Sachen reden, musste ich immer gucken, wann ich ihn innerlich erreiche. Geht es heute, oder kriegt er einfach nichts mit? Er kapselte sich völlig ab. Zweimal zog er in eine eigene Wohnung, weil er unkontrolliert spielen wollte. Da war ich alleinerziehend und musste viel leisten. Wo er sich das Geld besorgte, will ich gar nicht wissen. Hatte er seine Miete verspielt, kam er bei mir an, und ich überwies sie, kam mir aber blöd dabei vor. Warum machst du das?, dachte ich. Ich hatte Angst, dass er wirklich in der Gosse landet. Dazu ist er mir zu wertvoll. Ich hab immer noch versucht, das Gute in ihm zu sehen, dieses Liebevolle, was er in sich trägt und was nur durch seine Spielsucht verkapselt war. Nach der ersten Spielphase war er acht Wochen in stationärer Behandlung. Dort lernt man, diese Sucht anzuerkennen. Und als Angehörige lernt man, ihm nicht immer wieder mit Geld aus der Patsche zu helfen. Man muss ihn die Bruchlandung machen lassen. Bis dahin hatte ich das Konto immer aufgefüllt, aus Angst, dass das Haus dabei draufgeht. Mein Vater hatte mir das Haus schon überschrieben, auch meine Eltern verbrachten schlaflose Nächte. Meine größte Sorge war, dass dieses finanzielle Loch irgendwann so unendlich groß ist, dass es unser Ruin wird und ich mich von ihm trennen muss. In der Klinik lief alles toll, über alles wurde gesprochen. In Paargesprächen strukturierten wir unseren Tagesablauf. Aber die Klinik ist wie eine Käseglocke, zu Hause fällt man schnell in alte Routinen zurück. Ich riss wieder alles an mich oder musste es machen. Die ersten zwei, drei Monate nach der Therapie war er spielfrei. Da ist man voller Hoffnung und denkt, mit der ersten Therapie klappt es gleich. Aber am Kontostand merkte ich, dass er wieder spielte. Er hatte mehrere Rückfälle. Einmal kam er später in den Urlaub nach und gestand mir, dass er 5.000 Mark im Casino verspielt hatte. Seine Kameras verscherbelte er bei ebay. Dann verspielte er einen Kredit von der Citibank, 10.000 Mark an einem Tag. Am nächsten Tag 3

gewann er. Ich bestand darauf, den Kredit sofort abzulösen. Rückfälle leugnete er nie, war immer offen. Vielleicht, um Druck abzulassen. Wenn er mir das Paket wie eine Beichte aufgeladen hatte, war er entlastet, während es mir schlecht ging. Ich konnte dann sehen, wie ich damit fertig werde. Ich fuhr auch mit ihm ins Casino, ich wollte das einfach verstehen. Aber ich stand nur da und war völlig erschlagen. Ich habe die Menschen beobachtet, ihn beobachtet, er war fest von seinem System überzeugt. Das ist ein Glücksspiel, habe ich gesagt, das kann gar nicht funktionieren. Und wie nervös die da stehen. Wie können die sich von sowas so fesseln lassen? Ich kann das nicht nachvollziehen. Er sagte, er spielt wegen des Kicks. War das Geld weg, hatte er Ruhe. Das war ein Ventil, wo er sich entladen konnte. Es ärgerte ihn nicht mal, wenn er verlor. Aber mich - dieses Gleichgültige konnte ich nicht nachvollziehen. Manchmal wurde ich auch zum Spieler, weil ich mich auf seine Spiele einließ, um etwas bei ihm zu erreichen. Ich gab ihm Geld und kam mit ins Casino, dafür gab er seine Scheckkarten ab und verzichtete auf Kontovollmachten. Ich wollte Gütertrennung, um mich absichern und meine Eltern zu beruhigen. Aber vorher musste ich ihm Geld zum Spielen geben, damit er seinen Druck loswerden konnte, sonst wäre er nicht mit zum Anwalt gegangen. Ich hatte viel Kopfschmerzen in der Zeit, schlief schlecht, hatte Angst. Nicht nur, dass er viel Geld verspielt, sondern auch dass er gegen den Baum fährt. Er kam oft morgens um vier, fünf nach Haus. Gezofft haben wir uns selten. Ich hab viel geschluckt. Geweint, das schon. Ich war sehr allein. In schlechten Zeiten sprach er nicht mit mir. Das machte mich wütend. Leider ließ ich die Wut nicht an ihm, sondern an meinen Kindern aus. Ich war nervös, wurde schnell laut. Das tat mir immer sehr leid. Es geschah wohl aus Angst, ihn ganz zu verlieren, wenn ich mich gegen ihn stellte. Aber ich hatte immer die Hoffnung, es wird wieder anders. Ich wusste, es wird ein wahnsinniger Kraftakt. Es war mir so wichtig, um die Person Jens zu kämpfen. Nicht um den Spieler. Ich habe immer dafür gekämpft, unsere Beziehung zu erhalten. Ich wollte keinen Trennungsge- 4

danken aufkommen lassen. Ich hatte diesen Menschen aus Liebe geheiratet. Er war so offen und einfühlsam, wie ich mir einen Mann immer gewünscht hatte, wie aber nur die wenigsten sind. Wir hatten auch schon viel zusammen erlebt. Jahrelang konnten wir keine Kinder bekommen, bis sich herausstellte, dass Jens einen gutartigen Tumor im Gehirn hat, der seine Hormone durcheinanderbringt. Das wird mit Medikamenten behandelt, nicht operativ. Er fährt regelmäßig zur Untersuchung und lebt relativ unbeschwert damit. Nach der Behandlung wurde ich schwanger. Aber Jens zog sich plötzlich zurück. Nach dem Motto, sie hat, was sie wollte, nun kann ich tun, was ich will. Das tat weh. Seine Arbeit ist körperlich sehr anstrengend. Deshalb ist er wohl unter Strom. Ich kann gut verstehen, wenn er zu Hause ausruhen will. Natürlich haben seine Medikamente auch Nebenwirkungen, es gibt Stimmungsschwankungen. Ob sie auch Einfluss auf sein Spielen haben, weiß ich nicht. Nach den Rückfällen folgte der zweite Klinikaufenthalt, sieben Wochen in Quakenbrück. Dann ließ er sich im Casino sperren. Später erzählte er mir, dass er beide Therapien nur gemacht hatte, um mich zu beruhigen. Heute wissen wir, dass der Ausstieg nur funktioniert, wenn er selber es will. Letztendlich war es die ambulante Therapie in Herford, die ihm was brachte. Nach dem ersten Klinikaufenthalt ging er dort zur ambulanten Nachsorge, brach es aber wegen der vielen Rückfälle ab. Nach dem zweiten Klinikaufenthalt versuchte er es wieder und kam in eine Vorgruppe, weil die Therapiegruppe überfüllt war. Ende 2004 wurde es noch mal ganz schlimm, richtige Abstürze, er nahm 20.000 Euro an Krediten auf. Ständig flatterten Briefe mit Kreditangeboten ins Haus, er sprang gleich darauf an, bekam anfangs auch alles. Die Banken schmeißen einem das Geld nach, erkundigen sich nicht mal mehr bei der Schufa. Ich telefonierte hinterher: Bitte geben Sie meinem Mann keine Kredite, der ist Spieler, der darf das nicht. Manchmal reichte ein Telefonat. Es fiel mir sehr schwer, das zu tun. Überhaupt war es eine große Umstellung für mich, plötzlich alles managen zu müssen. Ich war nie der Typ dafür, mit Banken zu verhandeln. All seine Kredite 5

mussten zusammengelegt und ein weiterer aufgenommen werden. Er unterschrieb mir ein Schuldanerkenntnis über hundertdreißigtausend Euro. Das liegt bei der Firma, damit keine anderen Gläubiger vor mir kommen können. Wenn er jetzt Schulden macht, habe ich nichts damit zu tun. Dadurch bin ich etwas entspannter, obwohl es mich letztlich trotzdem trifft. Denn ich will mich ja nicht trennen. Wahrscheinlich weiß er das. Aus eigenem Antrieb, vielleicht um das Gesicht nicht ganz zu verlieren, begann er 2005 die reguläre ambulante Therapie in Herford. Dafür stellte ihn seine Firma von der Arbeit frei. Das ist ein großer Betrieb, die kennen Suchtprobleme. Spielsucht ist noch nicht so bekannt, aber Jens sagt, da arbeiten viele Spieler. Er sah immer wieder, wie sie an vier oder fünf Daddelautomaten gleichzeitig spielten, daran kann man das erkennen. Was ihm half, waren die Einzelgespräche, sein Blick wurde freier, er veränderte sich. Vorher drehte sich alles in seinem Kopf nur darum: Wie kriege ich Geld? Wann kann ich wieder los? Als er begann, sich davon zu lösen, sah er plötzlich: Die Kinder sind ja niedlich, die können richtig nett sein. Er ist immer noch kein Überflieger-Papa, aber er ist lieb zu seinen Kindern, kümmert sich um sie. Die Paargespräche halfen uns, wieder miteinander zu reden. Ich begriff, wie wichtig ist es, sich rechtzeitig abzusichern. Zur Angehörigengruppe gehe ich immer noch. Man lernt, sich was Gutes zu tun, nicht immer nur um den Partner zu kreisen. So wie sich seine Gedanken um die Spielsucht drehten, drehten sich meine um ihn: Wie kann ich ihn auf die richtige Bahn bringen? Das hat mich ziemlich beherrscht. Zu sehen, dass es anderen ähnlich geht, half mir sehr. Aber wirklich geholfen hat mir mein Glaube, also Gott. Diesen langen A- tem bekam ich geschenkt. Von mir aus hätte ich den nicht gehabt. Nach einem Jahr ambulanter Therapie bekam er ein Zertifikat, das verlangte auch die Firma. Seither ist er spielfrei. Alle 14 Tage geht er zur Selbsthilfegruppe. Das nimmt er sehr ernst, geht wohl auch gerne hin. Wenn die Kinder fragen, warum er nach Herford fährt, sagen wir, zur Selbsthilfegruppe. Das Spielprob- 6

lem haben wir ihnen so erklärt: Papa hat Schwierigkeiten mit Geld umzugehen. Und jetzt lernt er das. Das verstehen sie, ihnen fällt das ja selbst noch schwer. Jens hatte eine relativ kurze Spielzeit. Sein Spielen war Ventil für vieles. In der Klinik bohrten sie auch in seiner Kindheit nach. Aber seine Erinnerungen fangen erst mit zehn, elf Jahren an. Ich habe viele Kindheitserinnerungen: Spiele mit Freunden, im Wald auf Bäume klettern, der Hausbau meiner Eltern, auf dem Fahrrad mit meiner Oma, ich hatte so ein Dirndlchen an. Das habe ich meiner Oma mal erzählt, und sie sagte: Das weißt du noch? Das weiß ich gar nicht mehr. Es ist also meine Erinnerung, nichts Nacherzähltes. So etwas hat Jens nicht, das ist weg. Seine Kindheit hatte ihre eigenen Probleme. Die Mutter depressiv, der Vater Alkoholiker. Drei Jungs, schnell hintereinander, viel später noch ein Mädchen. Der älteste Bruder verunglückte tödlich, als Jens 14 war. Heute ist Jens ein ganz anderer Mensch als in der Spiel-Zeit. Sein Hobby ist nun der Flohmarkt, durch einen aus der Selbsthilfegruppe kam er auf den Geschmack. Es macht ihm Spaß, mit Leuten zu quatschen. Es ist auch eine Chance, wieder mit Geld umgehen zu lernen. Manchmal kommt unser Sohn mit. Dann stehen die beiden tatsächlich nachts um drei auf, damit sie um vier den richtigen Platz kriegen. Ich spüre manchmal noch einen Anflug von Angst. Neulich entdeckte er auf dem Flohmarkt ein kleines Roulettespiel und sagte: Das ist ja gar nicht teuer. Und ich sofort: Was willst du denn da mit? Ist das wieder der erste Schritt? Nein, sagte er, ist es nicht. Heute sage ich gleich meine Ängste. Und sie werden weniger. Aber ich habe viele Folgeerscheinungen. Bandscheibenvorfälle, Rheuma. Die Schmerzen nahm ich anfangs gar nicht wahr, weil ich mich nicht mehr wahrnahm. Jetzt versuche ich wieder Sport zu machen und treffe mich mit Freunden. Finanziell geht es langsam bergauf. In zehn Jahren können wir uns wohl wieder einen Urlaub gönnen. Nachtrag: Ob seine Medikamente auch Einfluss auf sein Spielen haben, weiß ich nicht, sagt Marlies Junge in diesem Interview. Im Juli 2005 wurde eine wissenschaftliche Studie 7

(s.u.) der Mayo-Klinik, Rochester, USA, veröffentlicht, die nachwies, dass eine Nebenwirkung von Dopaminagonisten das exzessive Spielverhalten sein kann. Dopaminagonisten werden häufig in der Parkinson-Behandlung eingesetzt. Aber auch Hypophysentumore können medikamentös mit Dopaminagonisten behandelt werden. Zwei der vier Medikamente, die Herr Junge erhielt, zeigen ebenfalls diese Nebenwirkung, ohne dass er darüber aufgeklärt wurde. Es bleibt zu klären, welche Bedeutung und Folgen diese Tatsache hat. Inzwischen findet sich der Hinweis auf Spielsucht als Nebenwirkung in den Beipackzetteln mehrerer Medikamente. M. Leann Dodd, MD; Kevin J. Klos, MD; James H./ Bower, MD; Yonas E. Geda, MD; Keith A. Josephs, MST, MD; J. Eric Ahlskog, PhD, MD, Mayo Clinic, Rochester, Minn.: Pathological Gambling Caused by Drugs Used to Treat Parkinson Disease http://archneur.ama-assn.org/cgi/reprint/62.9.noc50009v1.pdf http://www.medknowledge.de/abstract/med/med2005/07-2005-31-parkinson-da.htm http://www.infomed.org/bad-drug-news/bdn175.html Das Interview führte die Hamburger Journalistin und Autorin Ulla Fröhling. 8