Rhein-Klinik. Binge-Eating-Störung und Adipositas



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Einleitung Ambulant, Rehabilitationsklinik oder psychosomatisches Krankenhaus? Mögliche Probleme und Konflikte von Patienten mit Essstörungen und Adipositas Zweigleisige Behandlungsstrategie Bearbeitung der innerseelischen und zwischenmenschlichen Probleme, Ressourcenaktivierung Arbeit an dem Symptom der Essstörung Fazit Einleitung Übergewicht und Adipositas sind in unserer Wohlstandsgesellschaft weit verbreitet und gehen mit einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen und psychosozialen Belastungen einher. Die Entstehungsweise und Aufrechterhaltung der Adipositas beruht auf einem bio-sozio-psychologischen Wechselspiel im Sinne eines Kontinuums von primär genetischen über gesellschaftliche bis zu psychologischen Wirkfaktoren Es gibt viele Menschen mit Adipositas, die zwar unter den sozialen Auswirkungen ihres Übergewichtes leiden, aber keine wesentlichen psychischen Konflikte und eine Essstörung haben. Sie waren meist schon als Kind übergewichtig und essen regelmäßig zu viel mit einer gewissen Vorliebe für Süßes und hochkalorische Nahrungsmittel. Der Wunsch nach einer Gewichtsreduktion entsteht eher durch das heutige Schlankheitsideal und dadurch erzeugte Minderwertigkeitsgefühle. Ein Teil der übergewichtigen Menschen (die Angaben in der Literatur schwanken zwischen 5-30%) leiden an einer Heißhungerstörung (Binge-Eating-Disorder), das heißt, sie leiden an Essattacken, die durch Unlustspannungen ausgelöst werden und zu Ekel, Niedergeschlagenheit und Schuldgefühlen führen. Ungefähr 10 % sind Nachtesser, die sich tagsüber einschränken und abends und nachts dem Drang zu essen, nicht widerstehen können. Als psychogene Adipositas werden die Formen bezeichnet, die vor allem seelische Ursachen haben. Häufig ist die Erkrankung mit einer depressiven Störung verbunden, die zu Rückzug und zu Teufelskreisen von depressiver Verstimmung, vermehrtem Essen, Übergewicht, und sozialem Rückzug führt. Die Leitlinie der deutschen Adipositas Gesellschaft nennt als Ursachen von Übergewicht und Adipositas: - Familiäre Disposition, genetische Ursachen - moderner Lebensstil (Bewegungsmangel, Fehlernährung z.b. häufiges Snacking, hoher Konsum energiedichter Lebensmittel, Fast Food, zuckerhaltige Softdrinks, alkoholische Getränke) - Stress - Essstörungen (z.b. Binge-Eating-Disorder, Bulimie, Night-Eating-Disorder) - Endokrine Erkrankungen (z.b. Hypothyreose, Cushing-Syndrom) - Medikamente (z.b. manche Antidepressiva, Neuroleptika, Antidiabetika, Glukokortikoide, Betablocker) - Andere Ursachen (z.b. Immobilisierung, Schwangerschaft, Operationen in der Hypothalamusregion, Nikotinverzicht) - In der Leitlinie werden als Indikationen für eine Behandlung übergewichtiger/adipöser Menschen genannt: - ein BMI 30 oder - Übergewicht mit einem BMI zwischen 25 und 29,9 und gleichzeitiges Vorliegen - übergewichtsbedingter Gesundheitsstörungen (z. B. Hypertonie, Typ 2 Diabetes)oder - eines abdominalen Fettverteilungsmuster oder - von Erkrankungen, die durch Übergewicht verschlimmert werden oder - eines hohen psychosozialen Leidensdrucks Seite 1 von 6

Ambulante Behandlung, stationäre Behandlung in einer Rehabilitationsklinik oder in einem psychosomatischen Krankenhaus? Nur wenn eine ambulante Behandlung, sich als nicht ausreichend erwiesen hat, ist eine stationäre Behandlung indiziert. Ist das Ziel einer stationären Behandlung eines Patienten mit Adipositas vor allem eine Gewichtsreduktion und eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten? Oder liegt Berufs-, Erwerbs- oder Pflegebedürftigkeit vor oder drohen sie? Dann ist eine Behandlung in einer speziell auf diese Ziele ausgerichtet und entsprechend ausgestatteter Rehabilitationsklinik angezeigt. Die Leitlinie zur Adipositastherapie in Reha-Kliniken der deutschen Adipositas Gesellschaft fordert für eine solche Klinik Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Ernährungsmedizin, eine Lehrküche, Schulungsbuffet, ein Schwimmbad, Möglichkeiten zum Ausdauertraining mit Fahrrad und Laufbandergometrie. Eine Behandlung in einem psychosomatischen Krankenhaus wie die ist dann indiziert, wenn eine psychogene Adipositas mit einer Essstörung oder begleitende psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angsterkrankungen, Schmerzerkrankungen, die ambulant nicht ausreichend behandelt werden können und einer kausalen Behandlung mit den Mitteln des psychosomatischen Krankenhauses bedürfen, vorliegen. Der Schwerpunkt der Behandlung liegt dann auf der Behandlung der psychosozialen Faktoren der Erkrankung bei gleichzeitiger Förderung einer gesünderen Einstellung zur Ernährung. Mögliche seelische Konflikte und Probleme von Patienten mit Essstörungen und Adipositas Der Umgang von Patienten mit Binge-Eating-Störung, Bulimie oder einer Neigung, emotionale Spannungen durch übermäßiges Essen abzubauen, mit sich selbst, ihren Mitmenschen und den Anforderungen des Lebens ist häufig im Sinne einer altruistischen Grundhaltung durch Selbstgenügsamkeit, Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit gekennzeichnet. Sie neigen dazu, sich für andere zu verausgaben, sich nicht angemessen auseinander zu setzen, die Selbstfürsorge zu vernachlässigen. Sie tun sich schwer, sich abzugrenzen, Nein zu sagen, sich zu behaupten und durchzusetzen. Häufig neigen diese Menschen dazu, ärgerliche oder traurige Gefühle in sich hinein zu fressen. Sie können Schwierigkeiten haben, diese Gefühle wahrzunehmen, sie zu unterscheiden und sie auszudrücken. Die innerseelische und zwischenmenschliche Problematik sowie auch die zugrundeliegenden Lebenserfahrungen und die Fähigkeit, mit inneren und äußeren Konflikten und Belastungserfahrungen umzugehen, sind jedoch sehr individuell ausgestaltet. Dies muss im Einzelfall sorgfältig herausgearbeitet werden, um individuell sinnvolle Therapieziele formulieren zu können. In der Regel hat bei diesen Patienten das übermäßige Essen eine spannungslösende, tröstende oder kompensatorische Funktion im Sinne einer Ersatzbefriedigung. Zweigleisige Behandlungsstrategie Unsere therapeutische Strategie ist zweigleisig: Einerseits liegt der psychotherapeutische Schwerpunkt auf der Bearbeitung der inneren Konflikte, Konflikt- und Bewältigungsstrategien und der Entwicklung der Fähigkeiten, die der Patient braucht, um nicht mehr auf die kompensatorische Funktion der Essstörung angewiesen zu sein, also z. B. die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, Bedürfnisse wahrnehmen, ausdrücken und verhandeln und Konflikte auszutragen und sich im zwischenmenschlichen Feld angemessen zu behaupten. Seite 2 von 6

Andererseits liegt der Fokus auch auf dem direkten Umgang mit dem Symptom, um dem Patienten zu einer lustund genussvollen, ausgeglichenen und bedarfsgerechten Esskultur zu verhelfen. Psychotherapeutische Behandlung der zu Grunde liegenden Probleme, Konflikte und Ressourcenaktivierung Die Behandlung erfolgt in einem multimodalen und multimethodalen Setting aus analytisch-systemischer Einzelund Gruppentherapie, kombiniert mit einer Kunsttherapiegruppe oder Konzentrative Bewegungstherapiegruppe. Oft ist auch eine Teilnahme an der Skillsgruppe sinnvoll, in der der Patient Fertigkeiten und Fähigkeiten lernt zu den Themen Achtsamkeit, Umgang mit Gefühlen, Selbstwert, Stresstoleranz und zwischenmenschliche Fertigkeiten. Familien- oder Paartherapie kann die Behandlung sinnvoll ergänzen, um die Ressourcen der Familie für einen für alle Beteiligten wohltuenden Entwicklungsprozess zu nutzen. In der Einzeltherapie, sowie in den Gruppentherapien und in der Bezugspflege können die dysfunktionalen Beziehungs- und Konfliktmuster, wie sie sich im Umgang mit Mitpatienten und Team zeigen, gemeinsam mit dem Patienten herausgearbeitet und auf dem Hintergrund der Lebensgeschichte des Patienten verstanden werden und angemessenere Lösungsstrategien und Bewältigungsmuster unter Aktivierung der Ressourcen des Patienten entwickelt werden. Arbeit am Symptom der Essstörung Die meisten Patienten haben schon viel versucht, um ihre Essstörung in den Griff zu bekommen und ihr Gewicht zu reduzieren. Oft haben sie schon viele Diäten ausprobiert, oft auch schon über einen längeren Zeitraum mit erfolgreicher Gewichtsreduktion, sind aber dann in ihr Essverhalten zurück gefallen und haben wieder zugenommen. Sie haben viele Schlachten gewonnen, aber insgesamt den Krieg scheinbar verloren. Sie sind gefangen in einem Teufelskreis ständiger Versuche vernünftig zu essen, zu fasten, ihren Drang, zu essen zu kontrollieren und Scham- und Schuldgefühlen, wenn ihnen dies immer wieder nicht gelingt. Die Patienten haben oft mehrfach in ihrem Leben bewiesen, dass sie in der Lage sind, über Wochen oder auch sehr viel länger eine Diät einzuhalten. Oft wissen sie bestens Bescheid über Kalorien, versteckte Fette usw. Von wohlmeinenden Verwandten, Freunden, Ärzten und in zahllosen Zeitungsartikeln haben sie immer wieder in verschiedenen Variationen erläutert bekommen, was sie tun müssten, um sich vernünftig zu ernähren. Zahlreiche Studien belegen, dass die Erfolge solcher Bemühungen sehr gering sind. Da die meisten Patienten mit Übergewicht und Essstörungen bereits mehrfach bewiesen haben, dass sie in der Lage sind eine Diät über längere Zeit einzuhalten, ist es naheliegend, dass ein mehr desselben einer klassischen Diät in den 10 Wochen einer stationären Behandlung nicht zielführend ist. Darüber hinaus stellt eine stationäre Psychotherapie mit einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Gefühls- und Konfliktwelt sowie den zwischenmenschlichen Konflikten und Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst und den anderen einen sehr anstrengenden Prozess dar, der die ganze psychische Energie des Patienten fordert. Eine starke Gewichtsabnahme durch Kalorienreduktion mit den damit einhergehenden Hungergefühlen, Nervosität und Dünnhäutigkeit würde diesen Prozess stören oder sogar verunmöglichen. Es erscheint daher sinnvoll und vertretbar, dieses Ziel der Gewichtsreduktion zunächst nicht in der Vordergrund zu stellen und die Zeit der stationären Behandlung zu nutzen, um dem Patienten Ansätze einer neuen Einstellung zu sich selbst, seinen Mitmenschen und dem Essen und auch zu der notwendigen Bewegung seines Körpers zu vermitteln und dabei ganz nebenbei doch eine beachtliche Gewichtsabnahme zu erreichen. Seite 3 von 6

Die Arbeitsgruppe um Prof. Giorgio Nardone in Arezzo hat einen wirkungsvollen Ansatz entwickelt, der eine genussorientierte paradoxe Diät und genussorientierte lustvolle Bewegung in einem Konzept verbindet und wesentliche aktuelle ernährungsphysiologische Erkenntnisse berücksichtigt. (La dieta paradossale, Nardone Giorgio, 2007) Die Wirksamkeit dieser paradoxen Diät basiert auf der Kombination einer genussorientierten Lieblingsspeisendiät in Form von 3 Mahlzeiten, die der Patient mit Sorgfalt und Achtsamkeit so zusammen stellen und gestalten sollte, dass er sich auf jede Mahlzeit wirklich freut. Die dieta paradossale geht davon aus, dass der natürliche Wunsch nach Genuss nicht bzw. nicht auf Dauer durch Kontrolle und Angst vor den gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Übergewichts in Zaum gehalten werden kann. Die natürliche Lust am Essen muss wesentlicher Fokus der Ernährung sein. Um den Teufelskreis von ständiger Kontrolle und Kontrollverlust zu durchbrechen, wird der Patient angehalten, diese Mahlzeiten aus seinen Lieblingsspeisen zusammen zu stellen und nicht auf Kalorien, versteckte Fette und ähnliches zu achten. Entscheidend, auch aus ernährungsphysiologischen Gründen ist, dass der Patient zwischen den Mahlzeiten keine Nahrungsmittel und kalorienhaltige Getränke zu sich nimmt,, um damit zu gewährleisten, dass zum zusätzlichen Energiebedarf die Fettdepots mobilisiert werden müssen. Somit wird dem achtlosen und wahllosen In-sich-hineinstopfen von Nahrung oder dem von Scham- und Schuldgefühlen begleiteten Wechsel von übermäßigem Essen und Selbstkasteiung, die einen Zustand chronischer unterschwelliger Gier erzeugt und aufrecht erhält, eine regelmäßige genussvolle Struktur, die ein Gefühl der Sättigung und Zufriedenheit gewährleistet, entgegen gesetzt. Dies geschieht in dem Vertrauen darauf, dass ein Patient, der im Rahmen dieser regelmäßigen drei Mahlzeiten lernt, seine Wünsche und Bedürfnisse achtsam kennen zu lernen und zu befriedigen, mit der Zeit auch ein Gefühl dafür entwickeln wird, was ihm gut tut. Ein Patient z. B., der ohne Schuldgefühle und Angst über eine gewisse Zeit seine Lieblingsspeisen, z. B. Nudeln oder Süßigkeiten zu sich genommen hat, ohne dass abwertende, beschämende, übergriffige, pädagogische Interventionen ihn in einen bewussten oder unbewussten Trotz treiben, wird voraussichtlich eher in die Lage versetzt werden, ein natürliches Bedürfnis nach einer ausgewogenen Ernährung wieder zu entdecken. Häufig haben die Patienten auch jede Freude an der Bewegung und körperlicher Betätigung verloren und betrachten die ihnen dann empfohlenen sportlichen Aktivitäten als notwendige, aber quälende Strapaze. Auch hier wird es also nicht darum gehen, ihnen ein 10-wöchiges Bewegungsprogramm zu verordnen, das möglichst viele Kalorien verbrennt, sondern eher, sie einzuladen, in spielerischer Weise heraus zu finden, was ihnen Freude macht und ihm die Erfahrung einer täglichen halbstündigen wohltuenden Bewegung zu verschaffen. Ob dies nun Fahrradfahren, Schwimmen, Walken, Joggen, Federballspielen oder Spazierengehen ist, spielt keinerlei Rolle. Der Patient wird ermuntert, einen Such- und Findeprozeß einzuleiten, um die ihm gemäße Bewegungsform heraus zu finden Das Entscheidende ist, dass diese halbe Stunde pro Tag eine selbstverständliche selbstfürsorgliche Routine wird. Eine halbe Stunde pro Tag, die der Patient sich nimmt, um achtsam und mit Bedacht sich und seinem Körper etwas Gutes zu tun Für Menschen, die lebenslang eine Kontrollüberzeugung entwickelt haben, dass es notwendig ist, sich zusammenzureißen, sich zu mäßigen, zu verzichten, vernünftig zu sein, sich der elterlichen oder ärztlichen Autorität zu beugen, erscheint eine Diät, die auffordert, sich an Lieblingsspeisen satt zu essen, paradox. Seite 4 von 6

Um ihnen den Prozess der Umstellung auf eine gesunde, genussorientierte Ernährung ohne Schuld- und Schamgefühle verständlich zu machen, bitten wir die Patienten sich vorzustellen, dass es ihre Aufgabe wäre, einem Kind, das jahrelang angehalten wurde, sich zu zusammenzureißen, das sich in einer Mischung aus Bravheit und Trotz den ständigen Ratschlägen und Ermahnungen unterworfen hat, aber immer wieder voller Schuld- und Schamgefühle die Vorschriften nicht eingehalten hat, und dann besorgte oder auch erzürnte Gardinenpredigten sowie auch Hänseleien und geringschätzige und beschämende Blicke und Kommentare seiner Mitmenschen über sich ergehen lassen musste, davon zu überzeugen, dass es sich jetzt in dem Rahmen von drei Mahlzeiten verbunden mit einer halbstündigen Bewegung an seinen Lieblingsspeisen satt essen darf und damit auch noch abnehmen wird. Das Kind wird einerseits erfreut, aber andererseits auch ungläubig und ängstlich-misstrauisch reagieren. Es kann ja auch noch keine Vorstellung davon haben, dass sich nach einer ersten Zeit, in der es vielleicht auch mal über die Stränge schlägt und zu viele von seinen Lieblingsspeisen zu sich nimmt, durch das Prinzip der drei Mahlzeiten und der Anregung des Stoffwechsels durch die regelmäßige Bewegung sowie durch das wohltuende Gefühl, ohne Schuldgefühle genussvoll essen zu dürfen, auf Dauer ein Grundgefühl der Zufriedenheit und der Sättigung einstellen wird, die eine Normalisierung der Nahrungszufuhr zur Folge haben wird. Dieser Umstellungsprozess wird sicherlich nicht von heute auf morgen von statten gehen. Es wird seine Zeit brauchen bis das Kind seine alten Überzeugungen und Einstellungen überwunden und einen natürlichen gesunden Umgang mit Nahrung und Bewegung entwickelt hat. Die Möglichkeiten, in der Klinik eine solche Lieblingsspeisendiät zusammen zu stellen, sind selbstverständlich begrenzt. Es ist aber durchaus möglich, den Patienten erste Erfahrungen mit dem Prinzip von drei wohlschmeckenden, sättigenden Mahlzeiten sowie auch die Erfahrung, dass sie damit nicht zunehmen und langfristig abnehmen, zu vermitteln. Wir sind selbst immer wieder mit unseren Patienten erstaunt und erfreut, dass sie in den 10 Wochen meist 2-4 kg, oft 6-7 und auch schon 10-12kg abnehmen. Wenn ein Patient Informationsdefizite bezüglich einer gesunden Ernährung hat, stehen wir ihm selbstverständlich gerne mit Rat und Tat zur Seite. Hier hat sich die Zusammenarbeit unserer Station mit der Küche und der Hauswirtschaft im Rahmen der wöchentlichen pflegerischen Essstörungsgruppe bewährt. In der Regel sind unsere Patienten jedoch Experten für Ernährung und Diäten! Deshalb ist unsere Aufgabe meist, ihnen die Ängste vor einem Kontrollverlust und Gewichtszunahme zu nehmen, sie zu ermuntern, sich auf diese Erfahrung von genussvollem Essen und genussvoller Bewegung einzulassen und ihnen zu helfen, eine neue Einstellung und Haltung ihrem Körper und dem Essen gegenüber zu finden. Dies geschieht in den Gesprächen mit der Stationsärztin, in der Bezugspflege, in den Visiten und wöchentlichen therapeutischen, pflegerischen und Selbsthilfe-Essstörungsgruppen. In den störungsspezifische Essstörungsgruppen nehmen Patientinnen mit allen Formen von Essstörungen teil: Anorexia nervosa, Bulimie, Binge-Eating-Störung. In der therapeutischen Essstörungsgruppe wird eine lösungsorientierte Auseinandersetzung mit der Essstörung gefördert. Sie hat den Fokus: was ist diese Woche im Umgang mit der Essstörung gut gelaufen, worauf bin ich stolz, was könnte hilfreich für die anderen sein? Und was war schwierig, wo brauche ich noch Unterstützung von den anderen Experten? (die Mitpatienten und das Team). Seite 5 von 6

In der pflegerischen Essstörungsgruppe essen die Patientinnen einmal pro Woche gemeinsam mit unserer Stationspflegeleiterin. Es gibt eine Nachbesprechung und Abstimmung zwischen ihr, der Patientin, der Küche und der Hauswirtschaft. Der Fokus liegt auf dem konkreten Unterstützungsbedarf. In der von den Patientinnen selbst geleiteten Selbsthilfegruppe werden die Themen vertieft. Durch die Zusammenarbeit in den störungsspezifischen Gruppen entsteht auf der Station ein Netzwerk gegenseitiger Unterstützung. Fazit Das Ziel einer stationären Krankenhausbehandlung von mit Adipositas einhergehenden Essstörungen ist es, dem Patienten die psychophysischen Zusammenhänge zwischen seiner Symptomatik und seiner Gefühls- und Konfliktwelt näher zu bringen, ihm zu helfen, seine Fähigkeiten zu verbessern, mit sich und seinen Mitmenschen angemessen umzugehen, ihm erste Erfahrungen mit einer genussorientierten Ernährung und Bewegung zu vermitteln und ihm zu helfen, eine neue Einstellung und Haltung zum Essen, zur Bewegung, zu seinem Körper, zu sich selbst und seinen Mitmenschen zu entwickeln. Seite 6 von 6