Wenn Essen das Leben bestimmt



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Transkript:

Wenn Essen das Leben bestimmt Essstörungen und wie man sie überwindet Bei zwanghaftem Essverhalten geht es nicht nur um Nahrung, Kalorien und Körpergewicht. Physischer Hunger hat sehr viel mit emotionalem Hunger zu tun. Genauso wie das Verweigern von Nahrung, um einem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen. Dieser Report zeigt die Hintergründe auf VON PETRA PESCHEL 48 2010/3

psychosomatik Wenn sich das Essen nicht mehr an Hunger oder Sättigung orientiert, kann eine Essstörung vorliegen. Sie betrifft Übergewichtige und Magersüchtige gleichermaßen In der westlichen Industriegesellschaft gehören Essstörungen mittlerweile zu den häufigsten psychosomatischen Erkrankungen. Dass jeder fünfte Deutsche übergewichtig ist, 66 Prozent der Männer und über 50 Prozent der Frauen, ist das Ergebnis der 2008 veröffentlichten zweiten nationalen Verzehrsstudie. Doch längst nicht alle Übergewichtigen haben eine krankhafte Essstörung. Unkontrollierbaren Fressanfällen liegt ein emotionales Verlangen zugrunde. Essen selbst dient dann nicht mehr der Ernährung, sondern wird vielmehr zum Ersatz. Theresa Weißkircher, heute 29, kennt den Drang, sich in diesen Ersatz zu flüchten. Die erste unsichere Lebensphase war für sie, wie für viele andere auch, die Pubertät. Als Kind noch eher zerbrechlich, hatte sie als Jugendliche bereits etwa 25 Kilogramm Übergewicht. Ihre beleibte Form empfand sie als Schutzpanzer. Essen, das war Halt in einer emotional und seelisch haltlosen Zeit. Es sind Berge an Fastfood, die sie in sich hinein futtert. Aber trotz der Hänseleien und wirklich unwürdigen Beleidigungen und auch Ausgrenzungen in der Schulzeit, hielt ich an meiner Köperfülle fest, berichtet sie. Doch schließlich bringt sie 132 Kilogramm auf die Waage und die gesundheitlichen Probleme nehmen zu. Zu dieser Zeit war Theresa dann so verzweifelt, dass sie Rat und Zuflucht bei ihrer Großmutter suchte. Die Aussprache bewirkte, dass sie endlich den Mut fand, ihre Wohnung zu entrümpeln, um Ordnung in ihr Leben zu bringen und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Dabei spielte ihr der Zufall ein Buch in die Hände, in dem es um erfolgreiches Abnehmen ging. Für Theresa der Anlass, in ein neues Leben zu starten. Sie erinnert sich: Im Mai 2006 hatte ich die Lektüre des Buches beendet und trug mein aktuelles Gewicht im Kalender ein. Von da an war ich fest entschlossen, abzunehmen. Fertiggerichte mussten fortan frischem Gemüse und Obst weichen. Im Sommer desselben Jahres waren bereits 15 Kilo weniger auf Theresa Weißkircher lebte viele Jahre mit dem Auf und Ab aus Zuund Abnehmen. 2006 wog sie noch 132 Kilogramm, ein Jahr später hatte sie ihr Idealgewicht erreicht 5 2010/3 49

Wenn Essen das Leben bestimmt Essstörungen und wie man sie überwindet der Waage geschafft. Ich ließ auch Mahlzeiten aus und aß einfach nur dann, wenn der Körper wirklich Energie brauchte. Natürlich gab es immer wieder das Verlangen, wie früher wahllos Berge von ungesundem Essen zu verschlingen. Aber Theresa hielt eisern durch, bis heute. Innerhalb eines Dreivierteljahres wog sie 54 Kilo weniger! 2009 hat sie geheiratet und lebt heute mit ihrem Mann John und ihrem kleinen Sohn in Australien. Ich mache jetzt regelmäßig Sport, bewege mich oft und gern, erzählt sie. Mit der Familie gehen wir auch viel wandern. Ich esse bewusst und das, was der Körper wirklich braucht. Und ich achte auf Bioprodukte und frische Nahrung. Dünn gleich glücklich? Die Geschichte von Annika Fechner, heute 29 Jahre alt, ist eine ganz andere. Annika litt viele Jahre ihres Lebens unter einer Bulimie, einer Essbrech-Sucht. Ich hatte eigentlich nie Normalgewicht, erinnert sie sich. Als Teenager fand sie sich selbst mit lebensgefährlichen 31 Kilogramm Körpergewicht noch zu Aus Angst vor dem Dickwerden zwingen sich Bulimiekranke nach Essanfällen zum Erbrechen dick. Und das bei einer Größe von 163 Zentimetern. Heute wiegt Annika 51 Kilogramm und ist rundum mit sich zufrieden. Die Verzerrung der eigenen Körperwahrnehmung taucht nicht plötzlich aus dem Nichts auf. Der Prozess von einem zunächst gestörten Essverhalten zur krankhaften und schwer wiegenden Essstörung verläuft schleichend, fast unbemerkt für die Betroffenen. Geht es doch erst einmal darum dünn zu sein, dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen, beliebt und geliebt zu sein. Annika lässt Mahlzeiten ausfallen, in der Regel das Frühstück und das Abendessen. In vierzehntägigen Zyklen ernährt sie sich ausschließlich von Essiggurken und nimmt dabei jedes Mal bis zu 4 Kilogramm ab. Mit 15 Jahren beginnen gesundheitliche Probleme: Annika hat ständig unerklärliche Schmerzen im ganzen Bauchraum. Trotzdem bleibt die Überzeugung: Die Waage ist mein Gott, die alles entscheidende Instanz. Aus Hungern wird schließlich eine Ess- Brechsucht: So konnte ich immerhin etwas essen und musste mir keine Gedanken machen, dass es meiner Gewichtsabnahme abträglich sein könnte. Die Sorge der Eltern wächst zunehmend, zumal Annikas Vater Arzt ist. Als sie nur noch 38,2 Kilogramm wiegt, machen sie sich auf die Suche nach einem Therapieplatz. Die Gedanken fangen an, nur noch um das Gewicht zu kreisen, berichtet Annika. Und irgendwann entwickelt sich eine Eigendynamik, hinter der alles andere zurücktritt. Ich glaube, das ist genau das, was Außenstehende nur schwer begreifen können. Es ist wie eine Parallelwelt, in der man sich geborgen und sicher fühlt. Jedes Pfund mehr auf den Rippen macht Angst. Sind da doch ständig die Gedanken: Ich bin dumm, hässlich, dick und fett. Ich bin ungeschickt und tollpatschig. Ich rede und lache zu laut. Ich gehe zu laut. Wahrscheinlich atme ich auch zu laut. Ich bin in jeder Hinsicht zu viel. Wenn ich mich doch nur in Luft auflösen könnte. Für viele scheint Dünnsein der Ausweg aus diesem Dilemma. Dünn ist gleich glücklich, sagt Annika dazu. Genau das ist auch die feste Überzeugung von jungen Mädchen, die sich heute über Internet-Netzwerke an sie um Rat wenden. Annika Fechner litt unter Magersucht und Bulimie. Heute ist sie normalgewichtig, isst regelmäßig und auch das, worauf sie Lust hat Hungern ist heute schon bei vielen Teenies weit verbreitet. Vorbilder aus Mode und Medien lassen sie glauben, dass man schlank sein muss, um schön zu sein 50 2010/3

psychosomatik psychosomatik Überprüfen Sie Ihr eigenes Essverhalten Wenn mehrere der folgenden Sätze mit einem klaren Ja auf Sie zutreffen, kann dies ein Zeichen dafür sein, dass Ihr Essverhalten überprüft werden muss, um den Weg in eine zwanghafte Essstörung zu vermeiden Ich denke oft an Essen oder Nichtessen. Ich plane mein Essen ganz genau. Abweichungen von meiner Planung kann ich schlecht ertragen. Ich esse mal gar nicht, mal längere Zeit wenig, dann wieder ganz viel. Ich verbiete mir bestimmte Nahrungsmittel, vor allem, wenn sie fett oder süß sind. Nach dem Essen habe ich ein schlechtes Gewissen. Nach dem Essen empfinde ich Scham oder Ekel. Essen macht mir Angst. Wie viel ich esse, hängt von meiner Stimmung ab. Wenn ich dünner wäre, hätte ich weniger Probleme. Ich vermeide es möglichst, meinen Körper zu berühren. Ich beruhige mich oft durch Essen. Essen ist für mich das wichtigste Mittel zur Stressbewältigung. Meine Stimmung ist von dem Ergebnis der Waage abhängig. Ich koche gern für andere, esse aber nicht mit. Ich achte sehr darauf, was andere essen. Ich bemühe mich oft, weniger als andere zu essen. Ich esse lieber alleine als in Gesellschaft. Ich kann nicht erkennen, ob ich hungrig oder satt bin. Ich vergleiche mein Aussehen ständig mit anderen. Ich fühle mich oft zu dick, obwohl ich Normalgewicht habe. Ich kontrolliere mein Aussehen ständig. Ich probiere immer wieder Diäten aus. Ich wiege mich mehrmals in der Woche. Ich denke oft ans Abnehmen, obwohl ich Normalgewicht habe. Aus Essstörungen von Prof. Dr. Günter Reich, Cornelia Götz-Kühne und Uta Kilius, TRIAS Verlag Annika Fechner hat viel Zeit in Kliniken verbracht. So zum Beispiel in der psychosomatischen Klinik Roseneck am Chiemsee. Herausgerissen aus dem Alltag, begann ich mich mit der neuen Situation zu arrangieren. Mit einem Mal habe ich gespürt, wie erschöpft, wie müde ich eigentlich war. Dass mein Leben zuletzt nur noch eine einzige Plage war, jeder Tag ein Kampf. Annikas Genesungsprozess dauert viele Jahre. Immer wieder von Klinikaufenthalten unterbrochen, macht sie ihr Abitur erst im Jahr 2004, mit 23 Jahren. Das war ein hartes Stück Arbeit, aber ich habe es geschafft und durch gestanden. Heute studiert sie Geschichte und Religionswissenschaften. Über ihre langjährige Therapie sagt sie: Das, was in den Kliniken passiert, hat erst einmal etwas Erleichterndes. Weil da Menschen sind, die einen verstehen. Auch die verrücktesten Gedanken kann man aussprechen, ohne ausgelacht oder komisch angeguckt zu werden. Man fühlt sich einfach angenommen. Auf der Flucht vor sich selbst Egal, ob unkontrolliert futtern wie Theresa, oder hungern und erbrechen wie Annika Essstörungen sind in jedem Alter Ausdruck schwerer seelischer Konflikte, die nicht so einfach zu meistern sind. Zunehmend sind auch Erwachsene davon betroffen. Waren es 2008 noch zwei Prozent der Erkrankten, so sind heute bereits zwölf Prozent 40 bis 60 Jahre alt. Peter Lommer vom Therapienetz Essstörungen in München und sein Team aus neun Beratern haben Jahr für Jahr rund 4000 bis 5000 Kontakte mit Menschen, die unter einer Essstörung leiden. Eine Essstörung ist eine ernst zu nehmende Erkrankung und nicht irgendeine Spinnerei, für die man sich Hilfe holen muss, sagt Lommer. Neben der zunehmenden Zahl älterer Menschen wächst auch der Männeranteil im Therapienetz. Einer, der dort Hilfe suchte, ist der heute 46-jährige Andreas Hansen (Name von der Redaktion geändert): Meine Probleme begannen nach einer langen Diät Ende der achtziger Jahre. Ich hatte über 35 Kilo abgenommen und fühlte mich 5 2010/3 51

Wenn Essen das Leben bestimmt Essstörungen und wie man sie überwindet Peter Lommer, Therapeut aus München, begleitet Menschen mit Essstörungen auf ihrem Weg zu einem normalen Essverhalten toll. Doch ich war mit dem Erreichten noch nicht zufrieden. Fühlte mich immer noch zu dick. Monatelang lebte ich nur von Joghurts, Quark und Tee und wurde immer weniger. Ich verlor die Kontrolle über mein Gewicht. Ständig war mir schwindelig. Ich war nicht belastbar und sah aus wie ein Skelett. Trotzdem fühlte ich mich stimmig und erfolgreich. Andreas reduzierte sein Gewicht von 101 auf 56 Kilo bei 179 Zentimetern Körpergröße. Doch auch die zunehmenden gesundheitlichen Probleme brachten ihn nicht von dem Ziel ab, sich weiter zu kasteien. Vermittelt durch Freunde kam er schließlich zum Therapienetz Essstörungen in München. Dazu Experte Peter Lommer: Egal, um welche Form der Essstörung es sich handelt: Es ist in der Regel eine Flucht nach vorne, um etwas auszugleichen, was ich rational nicht für mich klären kann. Meist handelt es sich um einen emotionalen Konflikt, der aber nicht durchgestanden, sondern nur verschoben wird. Mit dem inneren Gleichgewicht geht auch die gesunde Körperwahrnehmung verloren. Das Reglement des Verstandes über das Essverhalten lässt das normale Spüren von Hunger oder Sattsein verschwinden. Wie aber findet man zu einem gesunden (Gleich-)Gewicht zurück? Andreas Hansen lernte im Therapienetz, wieder auf ursprüngliche Körpersignale zu hören und vor allen Dingen auch, persönlichen Erfolg nicht in verlorenen Kilogramm Körpergewicht zu messen: Mein gestörtes Selbstwertgefühl wurde mir dort zum ersten Mal bewusst. Ich weiß heute, was ich damit ausdrücken will, wenn ich essgestörten Tendenzen nachgebe: Es ist immer dieses mangelnde Selbstwertgefühl. Über die Jahre hat Andreas in vielen therapeutischen Gesprächen erkannt, dass Essen oder Nichtessen keine Lösung auf Dauer ist. Er hat erfahren, dass es auf die Persönlichkeit ankommt, die man an einem Menschen schätzt, und nicht auf sein Gewicht. Ich wiege nun schon seit vielen Jahren zwischen 72 und 75 Kilo, und darauf bin ich sehr stolz. Warum Körper und Seele auf Dauer Schaden nehmen ist. Das erklärt auch, warum sich viele Frauen an Models orientieren und versuchen, so zu werden wie sie. Je länger so eine Essstörung unbehandelt bleibt, desto wahrscheinlicher sind körperliche und seelische Folgeerkrankungen. Bei zu wenig Nahrung geht der Körper an seine Reserven und nicht nur an die vorhandenen Fettpolster. Auch Herz, Leber und Nieren beginnen zu leiden. Dauert eine Magersucht über viele Jahre an, sinken Blutdruck und Körpertemperatur. Mit den Jahren steigt zudem das Risiko für Knochenbrüche. Bei Frauen kommt es zu Problemen mit der Monatsblutung. Auch äußerlich bleibt eine Mangelernährung nicht ohne Konsequenzen: Die Haut leidet, ist trocken und schuppig. Sie verliert an Elastizität, denn dem Körper fehlen lebenswichtige Mineralien. Auch junge Magersüchtige sehen oft greisenhaft aus. Nägel und Haare werden dünner und fallen aus. Probleme mit den Zähnen nehmen zu: Es kommt zu Karies und Zahnausfall. Auch die Fettsucht hat gesundheitliche Folgen, die allgemein bekannt sind: Neben der Belastung von Knochen und Gelenken steigt vor allem das Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen. Auch erhöhte Blutfettwerte und Gallenerkrankungen treten bei Übergewicht gehäuft auf. Dazu kommen Atem- und Schlafstörungen. Bleibt professionelle Hilfe aus, mischt sich schließlich Panik in den Kreislauf aus emotionaler Spannung und Hungern bzw. Essanfällen. Betroffene versuchen häufig, sich immer strenger zu kontrollieren. Das Innenle- Dipl.-Sozialwissenschaftlerin Dr. Kathrin Beyer ist Ausbilderin für die Beratung bei Essstörungen und leitet Selbsthilfegruppen in Hannover Foto: Eduard Kramer Dipl.-Sozialwissenschaftlerin Dr. Kathrin Beyer aus Hannover hat eine zwanzigjährige Erfahrung in der Beratung von Menschen mit Essstörungen. Sie bestätigt aus fachlicher Sicht das, was Theresa, Annika und Andreas erlebt haben: Typisch für alle Formen essgestörten Verhaltens ist, dass bei den Betroffenen wenig Selbstwertgefühl vorhanden Die Angst vor dem Dicksein geht häufig mit einem mangelnden Selbstwertgefühl einher 52 2010/3

psychosomatik psychosomatik Der gestörte Umgang mit dem Essen ist häufig ein deutliches NEIN zu dem, was im Leben passiert und die Annahme, mit viel oder wenig bis gar nichts essen, etwas bewegen zu können. Essstörungen haben Suchtcharakter und können in einem gefährlichen Teufelskreis münden. Unterschieden werden: Was ist eine Esstörung? 1. Magersucht (Anorexia nervosa/anorexie) Magersüchtige verweigern zunehmend Nahrung um Gewicht zu verlieren. Dazu werden auch Abführmittel eingesetzt oder exzessiv Sport betrieben. Die Körperwahrnehmung ist gestört und die Angst, dick zu werden, dominiert den Alltag. Häufig sind Magersüchtige nach außen hin scheinbar perfekt in einem scheinbar ebenso perfekt funktionierenden Leben. Zwanzig Prozent der Magersuchterkrankungen verlaufen chronisch. Zwischen fünf und 15 Prozent aller Magersüchtigen sterben an ihrer Magersucht. Betroffen sind in über 90 Prozent der Fälle Frauen. Die Zahl der Magersüchtigen wird in Deutschland auf bis zu 200 000 geschätzt. 2. Essbrech-Sucht (Bulimia nervosa/bulimie) Im Gegensatz zu Magersüchtigen hungern Menschen mit Bulimie nicht. Sie erbrechen nach Essanfällen die aufgenommenen Lebensmittel, um nicht zuzunehmen. Die Techniken reichen dabei vom Finger in den Hals bis zu Salzwasser oder auch dem Missbrauch von Abführmitteln, Appetitzüglern und Entwässerungsmitteln. Organische Folgeschäden sind beispielsweise Zahnschmelzschäden, Speiseröhreneinrisse bis hin zur Magenwandperforation. Aber auch Kalium-, und Magnesiummangel, der zu Nieren- und Herzrhythmusschäden führen kann. Die Anzahl der Betroffenen liegt ebenso hoch wie die der Magersüchtigen. 3. Esssucht (Binge Eating Disorder, BED) Esssüchtige kennen beim Essen keinen Halt, wenn sie erst einmal mit dem Essen begonnen haben. Aus Scham wird heimlich gegessen, beispielsweise in der Nacht. Im Unterschied zur Bulimie erbrechen Esssüchtige jedoch nicht und werden so zunehmend übergewichtig. Binge Eating Disorder hat einen hohen Leidensdruck für die Betroffenen, der mit Selbstekel, Deprimiertheit und häufig dem Gefühl starker Schuld charakterisiert ist. Körperliche Folgen können Bluthochdruckerkrankungen, Diabetes, Gallensteine, Gelenkund Wirbelsäulenschäden sowie auch Leberschäden sein. Von Binge Eating Disorder sind zwischen 1,5 und 2 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Ein Drittel davon sind Männer. 4. Latente Esssucht Bei latenter Esssucht ist der Alltag auf Diät und Kalorienzählen Esssüchtige achten darauf, stets ausreichend Lebensmittel im Kühlschrank zu haben, um für die Essattacken gewappnet zu sein ausgerichtet. Hungersignale werden überhört, dann wiederum kommt es zur Essattacke, die von der darauf folgenden Diätphase aufgefangen werden soll. Die Angst, zuzunehmen, zwingt in den Kreislauf aus Hunger und Diät. Das Gefühl für die Bedürfnisse und das Vertrauen in die Signale seines Körpers gehen mehr und mehr verloren. Wie bei allen Formen der Esssucht bedeutet das eine massiv eingeschränkte Lebensqualität, wobei die latente Esssucht den Einstieg in andere Essstörungen begünstigt. 5. Orthorexia nervosa Betroffene von Orthorexia nervosa sind häufig Menschen, die versuchen, alles richtig zu machen. Sie essen ganz bestimmte Produkte und meiden, was nicht absolut vollwertig ist oder ökologisch angebaut wurde. Bei dieser Form übertriebenen Gesundheitsbewusstseins fällt der Männeranteil auf, der höher ist als der Frauenanteil. 5 2010/3 53

Wenn Essen das Leben bestimmt Essstörungen und wie man sie überwindet ben gleicht einer Achterbahnfahrt verbunden mit starken Stimmungsschwankungen. Auch deshalb spielen psychotherapeutische Gespräche eine entscheidende Rolle auf dem Weg zur Genesung. Die Betroffenen haben einen hohen Leidensdruck und wissen oft, dass etwas nicht in Ordnung ist, sagt Dr. Kathrin Beyer. Im Gespräch geht es dann darum, Lösungen für vorhandene Konflikte zu erarbeiten, mit denen die bisherige Strategie Essstörung automatisch aufgegeben werden kann. In der Therapie lernen sie auch, sich selbst wertzuschätzen und sich selbst etwas zuzutrauen. Wie viel darf man wirklich wiegen? Werden Menschen mit Essstörungen therapeutisch begleitet, um zum Normalgewicht zurückzufinden, stellt sich natürlich die Frage, welches Gewicht normal bzw. ideal ist. Lange Zeit haben wir uns nach der so genannten Broca-Formel gerichtet. Sie besagte: Die Körpergröße in Zentimetern minus 100 sei das anzustrebende Idealgewicht. Wobei man noch einmal 54 2010/3 In Gesprächstherapien lernen Betroffene Konflikte zu lösen, um zu einem normalen Essverhalten zu finden Foto: Techniker Krankenkasse zehn Prozent für das Idealgewicht abziehen sollte. Die Formel geht auf den französischen Chirurgen Piere Paul Broca (1824-1880) zurück und löste in den 1980er-Jahren einen wahren Schlankheitswahn aus. Statt vom Idealgewicht ist heutzutage vom Wohlfühlgewicht die Rede. So sieht der zur rechnerischen Basis gewordene Body-Mass-Index (BMI) gewisse Toleranzbereiche vor. Der BMI wird errechnet aus Körpergewicht in Kilogramm, geteilt durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat: Körpergewicht (kg) BMI= Körpergröße (m) x Körpergröße (m) Beispiel: Eine Frau mit einer Körpergröße von 1,70 Meter und 60 Kilogramm Körpergewicht liegt mit einem BMI von 20,76 im Normalbereich. Dieser geht bei Frauen von 18,5 bis 24. Dr. Kathrin Beyer: Es kann aber auch sein, dass jemand, der mehr wiegt und eigentlich nach dem BMI schon als übergewichtig gilt, trotzdem gesund ist und bleibt. Im schlimmsten Fall werden solche Menschen erst durch ständiges Diäthalten krank. Denn schließlich müssen auch Alter und Muskelmasse berücksichtigt werden. Ein gut trainierter Sportler kann nach dem BMI durchaus Übergewicht haben, denn Muskelpakete machen sich auch auf der Waage bemerkbar. Das Idealgewicht mehr als die Reduktion auf eine Zahl Viele Ernährungsexperten sind heute der Ansicht, dass gewisse Rundungen zu akzeptieren sind, wenn man sich persönlich damit wohl fühlt. Man spricht auch von Wohlfühlgewicht. Eine Tatsache, die Autorin Susanne Susanne Fröhlich setzt sich in ihrem Besteller Und ewig grüßt das Moppel-Ich auf humorvolle Weise mit ihrem Kampf gegen die Pfunde auseinander Das Idealgewicht ist mehr als die Reduktion auf eine Zahl. Immer gilt es auch, die Individualität des Einzelnen zu berücksichtigen Foto: DAK

psychosomatik psychosomatik Klassifikation nach BMI Männlich Weiblich Untergewicht < 20 < 18,5 Normalgewicht 20 bis 25 18,5 bis 24 Übergewicht 25 bis 30 24 bis 30 Adipositas 30 bis 40 30 bis 40 Massive Adipositas > 40 > 40 Quelle: Schönheitsideale im Wandel der Zeit Essstörungen von Susann Grösch- Freudenthal und Carolin Licht; GRIN Verlag Akademische Texte Diäten können nicht nur erfolglos verlaufen, sondern schlimmsten Falls auch in eine Essstörung führen Grafik: DAK Fröhlich in ihrem neuesten Werk Und ewig grüßt das Moppel- Ich munter vorlebt: Ich habe mich inzwischen mit meinem Speck angefreundet, er gehört zu mir, bekannte die 48-Jährige bei Erscheinen ihres Buches. Die Wahrheit ist: Kämpfen wir täglich gegen den persönlich (ge)wichtigen Wohlfühlwert unseres Körpers, wird der nicht müde, zu rebellieren. Zwingen wir uns in Diäten oder quälen wir uns mit Sport, an dem wir keine Freude haben, wird unser Körper alle Bemühungen immer wieder zunichte machen. Die Lösung auf die Frage zum richtigen Gewicht ist dann gefunden, wenn wir akzeptieren, dass unser Körper womöglich nicht dem Schlankheitsideal entspricht. Wenn wir bei gesundem und ausgewogenem Essverhalten den Körperkrieg aufgeben, so wie Susanne Fröhlich. Dazu Dipl.-Sozialwissenschaftlerin Dr. Kathrin Beyer: Es gibt ja auch keinen Garantieschein dafür, dass ich, wenn ich plötzlich abnehme, automatisch gesünder bin. Das ist etwas, was uns gerne verkauft wird, so aber nicht immer stimmt. Wann eine Therapie notwendig ist Behandlungsbedürftig werden Essverhalten und Körpergewicht dann, wenn das Essen wie bei Theresa, Annika und Andreas eine Ersatzfunktion für Liebe, Freiheit, Erfolg und Anerkennung einnimmt. Theresa hat allein aus dem Teufelskreis herausgefunden. Allerdings kann man eine 5 2010/3 55

Wenn Essen das Leben bestimmt Essstörungen und wie man sie überwindet Essstörung nicht wie eine Wunde verbinden und dann wird schnell alles gut: Das war ein Prozess, sagt Theresa. Viele Menschen, die mich sehr geliebt haben, wollten mir helfen. Ich habe diese Unterstützung aber immer missverstanden, als: Ihr liebt mich nicht, so wie ich bin. Erst als ich schließlich völlig verzweifelt und wütend auf mich selber war, ist eine Art Funke in mir erwacht. Das sind jene Aufwachmomente, wo man merkt: So geht es nicht weiter. Erst, wenn man aufhört zu glauben, ein Opfer der Umstände zu sein und sich dazu entschließt, die Verantwortung für sein Wohlergehen zu übernehmen, kann man sich dem Fluss des Lebens anvertrauen. Und dann können auch zwanghafte Essstörungen aufgegeben werden. Anders als bei Theresa ist häufig therapeutische Begleitung notwendig. Im Therapienetz Essstörungen in München wird für den individuellen Behandlungsplan zunächst ein so genannter Clearing-Prozess durchlaufen. Dabei wird innerhalb von fünf Beratungsterminen ein ausführlicher zweijähriger Therapieplan erstellt. Gemeinsam mit dem Betroffenen, einem Sozialpädagogen, einem Mediziner sowie einem Psychologen und einem Ernährungswissenschaftler. Dazu gehört auch die Entscheidung, ob eine ambulante oder stationäre Behandlung notwendig wird. Sich selbst Zeit geben Der Weg aus einer Essstörung kann mehrere Jahre dauern. Hauptproblem ist, dass bei Essstörungen die normale Regulation aus Hunger- und Sättigungsgefühl nicht mehr funktioniert, erklärt Dr. med. Ulrich Hagenah. Er ist leitender Oberarzt der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Aachen. Bei der Magersucht ist es in den Verhaltenstherapie Theresa Weißkircher hat heute zu ihrem persönlichen Wohlfühlgewicht gefunden und lebt mit ihrer Familie in Helensvale in Australien Allen Essstörungen ist das Vorliegen von zwanghaften Gedanken, die um das Essen, um Kalorien oder das Gewicht kreisen, gemeinsam. Diesen Gedanken und Gefühlen wird in der Behandlung eine realistische Einschätzung gegenübergestellt. Annika Fechner berichtet aus ihrer eigenen Therapieerfahrung: Man muss nicht von dem Gefühl Ich bin schlecht zu Ich bin super hinkommen. Aber man kann sich dem annähern, indem man versucht, objektiv etwas über sich zu sagen. Zum Beispiel zu sehen, was bin ich denn alles, was macht mich aus, und dabei den Fokus auf die eigenen positiven Eigenschaften zu legen. Oft ist es so, dass einem da erst einmal gar nichts einfällt. Dann kann man aber andere Menschen in seinem Umfeld fragen, sag mal, was magst du eigentlich an mir oder was schätzt du an mir? Analytische Psychotherapie Bei dieser Behandlungsform beschäftigen sich Betroffene intensiv und langfristig mit lebensgeschichtlichen Konflikten, wenn umfassende seelische Störungen vorliegen. Bei zwischenmenschlichen Konflikten findet auch häufig eine Kombination aus Einzelund Gruppentherapien statt. Kreative und Körpertherapien Menschen mit Essstörungen nehmen sich selbst nur verzerrt wahr. So wie bei Annika kann selbst bei extremem Untergewicht ersten Jahren entscheidend, eine Chronifizierung zu verhindern. Wichtigster Baustein ist die Normalisierung von Ernährung und Gewicht mit Wiedereinsetzen der Menstruation bei den weiblichen Betroffenen. Psychotherapeutische Unterstützungen haben anfänglich vor allem das Ziel, die Patientin zu motivieren und zu überzeugen, dass sie bei diesem sehr schweren Weg mehr essen muss als bisher. Wer sich entschlossen hat, zwanghaftes Essverhalten aufzugeben, muss sich selbst auch die Zeit dafür geben. Gesunde Körperwahrnehmung und gesundes Gewicht brau- Wichtige Behandlungsmethoden bei Essstörungen von 31 Kilogramm das Gefühl, viel zu dick zu sein, vorherrschen. Kreative Behandlungen fördern das Körpererleben und eine realistische Körperwahrnehmung. So kann zum Beispiel Tanzen helfen, Wut, Trauer und Abneigung auszudrücken. Gefühle, die zuvor nie Ausdruck fanden und immer heruntergeschluckt wurden, werden frei. Stationäre Behandlung Bei schwerwiegenden Erkrankungen erfolgt die stationäre Aufnahme, die mehrere Therapieansätze verbindet. Dazu Ulrich Hagenah, leitender Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und - psychotherapie in Aachen: Grundsätzlich muss man bei der Frage nach der Intensität der Behandlung unterscheiden zwischen Patientinnen im Jugendalter, die noch nicht chronisch krank sind. Bei Heranwachsenden also, bei denen die Normalisierung von Ernährung und Gewicht vorrangig ist, um chronische Folgeschäden zu vermeiden. So zum Beispiel auf die Hirnentwicklung oder den Knochenstoffwechsel. Die Frage nach der Notwendigkeit einer stationären Behandlung hängt letztlich davon ab, ob ein massives Untergewicht besteht, wie schnell die Gewichtsabnahme verlaufen ist oder wie viel Energie die betroffene junge Frau zu sich nehmen kann. Aber auch, ob eine Suizidgefährdung besteht oder ob andere schwerwiegende psychiatrische Erkrankungen wie Zwangsstörungen oder Angststörungen vorliegen. 56 2010/3

psychosomatik psychosomatik Untersuchungen haben ergeben, dass vor allem Mädchen schon genau wissen, was gesund ist und was nicht Foto: Barmer GEK chen eben auch eine gesunde Geschwindigkeit auf dem Weg dorthin. Wer zum Beispiel gewöhnt war, in sehr stressigen Lebenssituationen mit Essen die Anspannung zu kompensieren, der muss umlernen und die Falle der Gewöhnung Schritt für Schritt überwinden. Warum tappen Frauen häufiger in Essfallen? Das liegt daran, dass Frauen ständig mit Essen konfrontiert werden, meint Dr. Kathrin Beyer. Man braucht nur in die Zeitschriften zu schauen oder auf die Versorgung der Familie, die ist immer noch Frauensache. Was mir hierbei auch auffällt, ist: Wenn Männer kochen, dann kochen sie aus Lust. Frauen dagegen reden über Gesundheit und Ernährung. Fazit: Männer haben mehr Spaß am Essen, Frauen berechnen Kalorien. Die unterschiedliche Einstellung gegenüber dem Essen beginnt oft schon im Kindergarten, weiß die Sozialwissenschaftlerin. Sie ist seit 2009 auch Vorsitzende des neu gegründeten Vereins Esslust Niedersachen zur Förderung selbstbestimmten Essverhaltens. Wenn man mit Kindern spricht, stellt man fest, dass die Mädchen sehr früh sehr genau wissen, was gesund ist und was nicht. Wenn man dann aber guckt, was sie eigentlich gerne essen möchten, dann ist es genau das Gegenteil. Im Verein Esslust Niedersachsen hat man auch festgestellt, dass immer mehr Leute, wenn es ums Essen geht, ein schlechtes Gewissen haben. Wie das Umpolen gelingen kann Um Essstörungen zu entkommen, ist es wichtig, die zugrunde liegenden Motive für zu viel oder zu wenig Essen aufzudecken. Theresa Weißkircher beispielsweise hat angefangen, all ihre Gedanken über sechs Monate hinweg aufzuschreiben. Eine Vorgehensweise, die auch in der Verhaltenstherapie und bei der stationären Behandlung von Essstörungen erlernt wird. Das braucht aber auch eine Portion Mut und kostet zunächst Überwindung. Da hatte ich am Anfang auch Angst davor. Ich habe über mich selbst und über andere die schrecklichsten Dinge gedacht und bei jedem Gedanken geschaut, ob er mir hilft, ob ich ihn gebrauchen kann. Letztlich läuft es immer auf dasselbe raus: Ich will geliebt sein, ich will anerkannt sein. Und so gesehen werden, wie ich wirklich bin. Eine Erkenntnis war dabei auch, dass ich nicht oder nicht nur mein Körper bin. Und eine weitere Übung hat Theresa geholfen, den Zugang zu sich selbst zu finden und damit Fressanfälle zu überwinden. Sie hat sich vor den Spiegel gestellt und wie ein neutraler Beobachter ihr Spiegelbild betrachtet: Da stand ich vor diesem dicken fetten Körper. Ich habe ihn beobachtet und auch alle Gedanken, die mir dabei durch den Kopf schwirrten: Ich bin so schwer, ich bin so hässlich, keiner mag mich, ich werde niemals einen Mann finden und so weiter. Als Theresa die Theresa im Spiegel beobachtet, stellt sie irgendwann fest: Da steht eine Frau, die einfach nur verwirrt ist. Eine Fülle von Fragen tauchte auf: Warum reduzieren sich Menschen auf Äußerlichkeiten?, oder: Wie 5 2010/3 57

Wenn Essen das Leben bestimmt Essstörungen und wie man sie überwindet Prof. Dr. phil., Dipl.-Psychologe und Psychoanalytiker Günter Reich leitet die Ambulanz für Familientherapie und Essstörungen der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Göttingen Bei gestörtem Essverhalten kreisen die Gedanken ständig um Essen, Kalorien und Gewicht. Dazu kommen schwere Schuldgefühle. So entwickelt sich eine Eigendynamik, der nur schwer zu entkommen ist Foto: phytodoc.de kommt es, dass mein Inneres, meine Gefühle, mein Ich scheinbar so gar nichts wert sind in dieser Welt? Solche Fragen haben Theresa Weißkircher schließlich sogar veranlasst, Psychologie zu studieren und später eine Ausbildung zur Heilpraktikerin zu machen. Den eigenen Selbstwert unabhängig von Körpermasse und Aussehen zu entdecken, das ist einer der wichtigsten (und wohl auch schwierigsten) Schritte für ein gesundes Essverhalten. Je stärker das eigene Selbstvertrauen, umso weniger sind wir auf extreme Verhaltensweisen angewiesen. Der Aufbau eines gesundes Selbstbildes erfordert viele kleine Schritte, weiß auch Dr. Kathrin Beyer: Durch gezieltes Nachfragen stellt sich oft heraus, dass vieles im Leben der Betroffenen durchaus gut läuft. Dass sie sehr wohl vieles geregelt bekommen, und die Essstörung eben nur eine Seite der Medaille ist. Die Patienten werden daher auch aufgefordert eine Liste anzufertigen, auf der sie niederschreiben, was sie, unabhängig vom Gewicht, besonders an sich mögen. Die wichtigsten Ess-Regeln Theresa Weißkircher hat auf dem Weg zu sich selbst in rund neun Monaten 54 Kilogramm abgenommen. Das Bindegewebe ist ausgedehnt und nicht besonders straff an manchen Stellen. Aber das ist mein Körper, den ich für dieses Leben mit bekommen habe, und ich finde ihn heute wundervoll. Er hat alles mitgemacht, was ich ihm zugemutet habe. Alles Dehnen und wieder Zusammenziehen, und ich würde nie an ihm rumschnippeln lassen. Theresa hat aber auch erlebt, dass der Weg zu einem natürlichen Essverhalten in die vollständig andere Richtung umkippen kann: Das gipfelte darin, dass mein Ehrgeiz mich fast in eine Magersucht getrieben hat. Ich wollte plötzlich ganz schnell, ganz viel abnehmen. Erst pendelte sich eine Kleidergröße von 38 ein. Da habe ich gemerkt, das ist jetzt aber auch nicht der Gipfel meines Glücks, sagt die immerhin 179 Zentimeter große junge Frau. In dem Moment habe ich losgelassen und mich bewusst entspannt und fühle mich heute mit einer Kleidergröße 40/42 wohl. Doch auch mit dem ganz persönlichen Wohlfühlgewicht bleibt die Gefahr, in herausfordernden Lebenssituationen in alt bekannte Gewohnheiten zu verfallen. Folgende zehn Ess-Regeln von Dipl.-Psych. Prof. Dr. Günter Reich können eine wertvolle Hilfe sein, um diesen Essfallen zu entgehen und sein Gewicht zu halten. Dr. Reich ist Leiter der Ambulanz für Familientherapie und Essstörungen der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Göttingen. Essen Sie regelmäßig. Es sollten drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten sein. Die Mahlzeiten sollten möglichst gleichmäßig über den Tag verteilt sein, mit einem Abstand von 2,5 bis 3,5 Stunden. Vor allem jene, die Schwierigkeiten mit dem Hunger- und Sättigungsgefühl haben, sollten diese Regelung mindestens über ein Jahr konsequent einhalten, damit natürliche Impulse wieder geweckt werden können. Beginnen Sie spätestens zwei Stunden nach dem Aufstehen mit dem Frühstück. Zögern Sie die Dauer der Mahlzeiten nicht unnötig hinaus, 20 Minuten sollten fürs Frühstück in der Regel reichen. 58 2010/3

psychosomatik psychosomatik Machen Sie keine halben Sachen, wie zum Beispiel einen Esslöffel hiervon und ein bisschen davon. Das sind keine echten Mahlzeiten und fördern nur ein gestörtes Essverhalten. Für Vielesser: Beim Brot oder Brötchen sollten Sie sich künftig für maximal drei unterschiedliche Beläge entscheiden. Für die Dünnen: Trinken Sie zu den Mahlzeiten maximal eine Tasse Tee, Wasser oder Ähnliches. Mehr kann zu Völlegefühlen und einer verzögerten Verdauung führen. Kohlensäurefreie Getränke sind bekömmlicher. Essen Sie möglichst immer im Sitzen. So lernt Ihr Körper, schneller wieder auf die Hunger- und Sättigungssignale zu reagieren. Gestalten Sie Ihren Essplatz freundlich und einladend. Serviette, Tischdecke, schönes Geschirr, eine Blume oder Kerze. All das trägt zu einer entspannten und genussvollen Esssituation bei. Hin und wieder Gäste einzuladen, fördert einen lockeren Umgang mit dem Essen. Ist eine Essstörung dauerhaft heilbar? Expertin Dr. Kathrin Beyer: Wenn ich lerne, dass Hungern oder Essen keine Antwort auf Konflikte sind, dann ist schon viel erreicht. Heilung heißt in diesem Fall zu lernen, sich weiter zu entwickeln. Oder sich überhaupt zum ersten Mal im Leben auf den Weg zu machen, um zu dem Menschen zu werden, der man gerne sein möchte. Bei Theresa Weißkircher beanspruchte dieser Prozess zwei Jahre, von denen sie heute sagt: Sie waren die wertvollsten in meinem Leben. Es war zwar nicht immer nur schön, aber es war spannend. Da war viel Bewegung und eine unglaubliche innerliche Umstrukturierung. Für mich ist das Essen auch heute wichtig und ein Ritual, ergänzt Annika Fechner. Es gibt Speisen, die ich einfach gerne esse und die ich mir nicht verbiete. Meine Wahrnehmung ist heute sehr viel realistischer. Ich wiege mich auch kaum noch. Ich möchte allen Menschen mit einer Essstörung Mut machen. Denn beim Überwinden der Krankheit ist viel mehr möglich, als man sich selbst zutraut. Buchtipps & Infos Theresa Weißkircher: Vom Übergewicht zum Gleichgewicht, Verlag Via Nova, ISBN 978-3-866-161443, 17,50 Annika Fechner: Hungrige Zeiten, Verlag C.H. Beck, ISBN 978-3-406-54766-9, 12,90 Prof. Dr. G. Reich: Essstörungen Magersucht Bulimie Binge Eating Wege zurück ins normale Leben, TRIAS Verlag, ISBN 978-3-8304-3118-3, 17,95 Susanne Fröhlich: Und ewig grüßt das Moppel-Ich, Krüger, ISBN 978-3-8105-0679-5, 14,95 Dr. Kathrin Beyer: Ich hab s satt!, Humboldt Verlag, ISBN 978-3-89994-161-6, 12,90 Angelika Stein: Natürlich schlank ohne Stress, BIO Ritter Ratgeber, ISBN 978-3- 920788-65-4, 22,50 (Alle Bücher unter www.ritter24.de) Adressen und Infos zum Thema Therapeuten, Vereine, Spezialkliniken sind beim BIO- Leserservice erhältlich. Bitte Kostenbeitrag in Höhe von 1,65 Euro (3 x 55-Cent-Briefmarke) beifügen. 2010/3 59