Wie Kinder lesen und schreiben lernen: vor der Schule, in der Schule und wie wir sie dabei unterstützen können Die Schwerpunkte des Vortrags Einige Alltagsbeobachtungen Tipps für Eltern und KITA Ein Bericht aus der Forschung für Eltern, pädagogische Fachkräfte der Kindergärten und Lehrpersonen der Grundschulen von Hans Brügelmann & Erika Brinkmann Vier Thesen zum Schulanfang Die zentralen Entwicklungsschritte Literatur: Brügelmann, H./ Brinkmann, E. (2005): Die Schrift erfinden Beobachtungshilfen und methodische Ideen für einen offenen Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben. Libelle: CH-Lengwil (1. Aufl. 1998). Einige Beispiele aus dem Kindergarten Klein, H. (2005): Kinder schreiben. Erste Erfahrungen mit Schrift im Kindergarten. Kallmeyer: Seelze-Velber. Mit diesem Zettel geht Sophie zu ihrer Erzieherin und sagt: Da steht: Morgen gehen wir zum Kiosk! 1
Amira, knapp drei, schreibt das A aus ihrem Namen. Sie erkennt es in allen Variationen und Kombinationen. Als Ann-Kathrin, sechs Jahre, ihren Namen schreibt, deutet Amira auf das A und sagt: Das ist wie bei mir und bei Angela. Angela ist die Erzieherin in der Nachbargruppe Und der Tayeb hat auch so eins Tayeb ist ihr kleiner Bruder. Lesen- und Schreibenlernen als Denkentwicklung Naive Theorien (I) "In deinem Kürbis hast du viele Buchstaben, und wenn du sprichst, kommen die unsichtbar heraus, meint Benjamin ein halbes Jahr vor Schulanfang. Er erklärt mir noch, der Kürbis sei mein Bauch und nicht etwa wie meine Erwachsenen-Logik nahe legen könnte der Kopf. Eine richtige Theorie ohne Unterricht Naive Theorien (II) Fünf Wochen nach Schulanfang betrachtet Benni ein Bilderbuch. Auf jeder Seite ein Bild und der zum Anfangslaut passende Buchstabe (in seiner kleinen Form, da das Buch aus dem Englischen übersetzt wurde). Bennis beifälliger Kommentar: "'ne Maus ist klein und fängt mit nem kleinen Buchstaben an - das iss gut so!" Nach derselben Logik schreibt der fünfjährige Billy das Wort "cow" so: Cow. Er erklärt: "Einen großen Buchstaben für ein großes Tier." Eine falsche Theorie trotz Unterricht Folgerung Vorstellungen von der Schriftsprache von ihrem technischen Aufbau und von ihrer sozialen Funktion bilden sich weit vor Schulbeginn, Schrift oder nicht? ohne Unterricht aus beiläufigen Erfahrungen, die nicht selbstverständlich, aber hilfreich für den Einstieg in der Schule sind - und die wir einfach fördern können ( Info-Blatt). 2
Schulanfang im Lesen und Schreiben: 10 Tipps für Eltern Grundregel: Versuchen Sie nicht, Ihr Kind zu unterrichten. Bieten Sie ihm aber beiläufig Möglichkeiten, neugierig zu werden auf Schrift in Büchern, auf Schildern, auf Gegenständen (Etiketten) usw. Vor allem sollten Sie immer auf spontane Fragen des Kindes und sein Interesse an Schrift mit Zuwendung eingehen. Einige konkrete Anregungen Wer schreibt, wer liest, was steht da? WÖRTER JAGEN - zu Hause - auf der Straße Schreibt euch Wörter von Schildern auf der Straße ab und bringt sie in den Kreis mit: - Was bedeuten sie? - Woran erkennt ihr das? Lesen beginnt mit dem gemeinsamen Anschauen von Büchern im Dialog! Lesen Sie Ihrem Kind so oft wie möglich vor aber denken Sie daran: Lassen Sie das Kind die Bücher oder Zeitschriften, den Zeitpunkt und die Dauer selbst wählen. Wenn Ihr Kind mit in das Buch guckt, können Sie beim Lesen manchmal auch mit dem Finger von Wort zu Wort springen. Machen Sie dann gleichzeitig kurze Pausen beim Sprechen, so dass dem Kind auffallen kann, welche Sprecheinheiten und welche Schrifteinheiten zusammengehören. Lassen Sie Ihre Kinder selbst frei in Büchern stöbern Naive Theorien (III) Der Vater kommt müde von der Arbeit nach Hause und fällt in den Lehnstuhl. Die vierjährige Anna möchte mit ihm spielen. Er verschanzt sich hinter der Zeitung. Sie quengelt. Er wird unwirsch: Lass mich in Ruhe: Du siehst doch, ich lese! Darauf sie empört: Stimmt ja gar nicht: Ich höre ja nichts! Eine falsche Theorie - aber passend auf die Erfahrung 3
Deshalb - auch wenn Sie für sich lesen: Sprechen Sie den Text leise mit, wenn Ihr Kind in der Nähe ist. Viele Kinder wissen gar nicht, was ihre Eltern machen, wenn sie in ein Buch oder in eine Zeitung gucken (s.o.). Außerdem wird das Kind so vielleicht neugierig auf das, was Sie lesen. Sie können dann mit ihm über das Foto im Zeitungsartikel reden und gleichzeitig auf den Text zeigen: Hier steht übrigens noch... So wird ihm der Unterschied zwischen dem Zeichnen/Malen von Bildern und Lesen/Schreiben von Schrift bewusst wie auch durch einen funktionalen Einsatz von Schrift Das ist unser Vormittag Kommentieren Sie Ihre eigenen Lese- und Schreibaktivitäten. Ich bin da! Reden Sie auch, wenn Sie Ihren Einkaufszettel schreiben. Fragen Sie Ihr Kind: Was muss ich noch aufschreiben, damit wir es beim Einkaufen nicht vergessen?" Lesen Sie im Geschäft den Zettel wieder laut vor: Hier steht noch: 1 Kilo Zucker - wo finden wir den? Ah, da steht Zucker! Sprechen Sie leise mit, wenn Sie in den Regalen im Supermarkt nach einer Ware suchen: Da steht Zucker drauf, da steht Salz auf der Packung - wo steht denn Mehl?" Lassen Sie Ihr Kind raten, was Schilder und Aufschriften bedeuten auf der Straße, in der Werbung, auf Packungen. Machen Sie es aufmerksam auf Ähnlichkeiten von Wörtern, für die es sich interessiert: Siehst du: Polizei sieht vorne genauso aus wie Post - und die Wörter hören sich am Anfang auch beim Sprechen gleich an: Po_st Po_lizei. Schilder in der Umwelt (I): gleicher Kontext verschiedene Bedeutung Shell nicht Benzin Aber üben Sie nicht mit dem Kind das Alphabet oder die Schreibweise einzelner Wörter Belassen Sie es bei gelegentlichen Hinweisen und bei kurzen(!) Antworten auf ausdrückliche Fragen des Kindes. nicht Benzin, sondern Aral 4
Die Form der Schrift richtet sich nach der Lautung, nicht nach der Bedeutung des Wortes Zeigen Sie den Kindern Wortkarten und fragen Sie: Was meinst du, auf welcher Karte steht wohl <Marienkäfer> und auf welcher <Mond>? Auf welcher <Lokomotive> und auf welcher <Zug>?. Spielen Sie Sprachspiele Achtung: Nicht buchstabieren, sondern nur den Laut sagen! Welche Wörter hören sich am Anfang gleich an? Machen Sie die Aufgabe durch eigene Beispiele klar: Lampe Licht Luft Oder spielen Sie Roboter: "Ich bin ein Roboter. Der spricht immer so abgehackt. Was meint er wohl, wenn er sagt: O M - A? - Jetzt sprich du mal wie ein Roboter. Fingerspiele Rhythmische Sprech- und Bewegungsspiele Reime erfinden Singen, dazu klatschen, schnalzen, hüpfen etc. Auch Reime und Aufgaben wie: Ich sehe was, was du nicht siehst, das [Wort] fängt mit O an" fördern die Sprachbewusstheit. So wird das Kind auf die Laute der Sprache aufmerksam, an denen die Schrift ja mit den Buchstaben anknüpft. Wenn ein Kind Bilder malt sprechen Sie mit ihm über das, was es malt. Schreiben Sie zu dem Bild auf, was ihr Kind erzählt, evtl. etwas vereinfacht. Bieten Sie ihm das Gesagte als Titel für die Zeichnung an, z.b.: Ah, das Auto rast - soll ich das darunter schreiben?" Sprechen Sie langsam beim Schreiben, so dass das Kind erlebt, wie Sprache zur Schrift wird. Fragen Sie gelegentlich, etwa beim Malen eines Bildes: Willst du auch deinen Namen dazuschreiben?" (ggf. in Blockbuchstaben vorschreiben, möglichst groß) 5
Geschichte vom Wochenendausflug (Wolf-Weber) Basteln Sie mit dem Kind eigene kleine Hefte, Büchlein, auch Poster. Helfen Sie ihm, Wörter und Bilder nach seinen Wünschen selbst zu malen, auszuschneiden, aufzukleben, aufzuschreiben.... Bieten Sie ihm immer wieder Ihre Dienste als Sekretär/in an: Soll ich dir aufschreiben...?" Basteln Sie dem Kind ein schönes Kästchen für seine eigenen Wörter, die Sie ihm nach und nach auf kleinen Kärtchen schenken. Mit Schrift lässt sich Bedeutung festhalten und mitteilen Regen Sie Verwandte oder Freunde an, Ihrem Kind Karten, Briefe, Mails zu schreiben. Lesen Sie ihm vor, was die anderen geschrieben haben. Bieten Sie ihm an aufzuschreiben, was es auf den Brief antworten will. Lesen Sie zwischendurch die ersten Stücke und am Ende den ganzen Brief wieder vor: So, jetzt haben wir geschrieben..." Und irgendwann probieren die Kinder es selber: mit Schrift und zur Sicherheit auch noch Bild Akzeptieren Sie solche Schreibversuche (und schon das Kritzeln!) Ihres Kindes. Nehmen Sie ernst, was das Kind dazu erzählt. Würdigen Sie seine Fortschritte: Fehler sind nicht schlimm. Auch die gesprochene Sprache hat Ihr Kind über fehlerhafte Zwischenstufen gelernt. Erkennen Sie die Schreibweisen des Kindes als seine Leistungsstufe an. Schreiben Sie dem Kind Wörter nur vor, wenn es dies ausdrücklich will. 6
C Was haben diese Kinder geschrieben? A B E D H E A I D B Vier Häuser Alles falsch und doch große Fortschritte mit je eigener Logik H F I G J J F G C 5.000 Jahre Schriftgeschichte in weniger als fünf Jahren Vier Thesen zum Hintergrund 1. Der Schulanfang ist keine Stunde Null in der Lese- und Schreibbiografie der Kinder. 2. Die Unterschiede in den Vorerfahrungen sind dramatisch. 3. Frühe Lese- und Schreibversuche sind Ausdruck aktiver kognitiver Strukturierung individueller Erfahrungen. 1. Der Schulanfang ist keine Stunde Null im Durchschnitt können Schulanfänger 10+ Buchstaben benennen und sie können 1-2 Wörter schreiben außerdem 4. Fehler sind normal als Zwischenstufen bei der Annäherung an die Norm ( von der Konstruktion zur Konvention ) haben sie schon Vorstellungen von der Funktion und vom Aufbau der Schriftsprache Eveline (I) Eveline (II): Emotionale und kognitive Bedeutung Die fünfjährige Eveline muss sich jeden Morgen ihre langen blonden Haare mit dem ziependen Kamm frisieren lassen. Viel Zeit für schmerzhafte Gedanken über den Sinn des Lebens und die Ungerechtigkeiten in der Welt. Um so mehr erstaunt die Mutter, als plötzlich ein leises Lächeln über das Gesicht ihrer Tochter huscht und diese sagt: Jetzt weiß i endlich, warum i drei Kämm in mei m Nam n hab! Wie kann ich das <E> vom >F> unterscheiden? Die Form der Schrift hat etwas mit mir als Person zu tun. 7
2. Die Leistungsunterschiede betragen drei bis vier Jahre 5-10 % der Schulanfänger sind Frühleser weitere 5-10% kennen mehr als 20 Buchstaben und können einzelne Wörter erlesen - ABER: in derselben Klasse gibt es auch Kinder, o o o die nur zwei, drei - oder gar keinen Buchstaben kennen, die noch nie ein Bilderbuch in der Hand gehabt haben denen nur selten vorgelesen worden ist. Unterschiede: Erste Schritte (Remo Largo) 3. Lernen als Konstruktion statt Kopie Das internationale Kinder-E 8
4. Fehler als Fortschritte: Drei Kinder schreiben über s Kino und welches ist orthographisch am weitesten? Der Weg zur Schrift ist eine Denkentwicklung... KINO KINNO KIENO... dieser Prozess verläuft nicht immer bewusst und auch nicht von selbst: Er braucht Anregung durch den Umgang mit Schrift und Unterstützung durch die Umwelt immer bezogen auf den individuellen Entwicklungsstand jedes Kindes Qualitativer Karawaneneffekt in der Rechtschreibung May (1990) Qualitativer Karawaneneffekt in der Rechtschreibung May (1990) PZR Maja -- Sven -- Lea 1 M FA-R-T 1 E FA--RAT 2 M Lernzuwachs heißt nicht richtig statt falsch, sondern bessere Fehler PZR Maja -- Sven -- Lea 1 M FA--RAT FA-R-T 1 E FA--RAT 2 M Gute Rechtschreiber machen dieselben Fehler wie der Durchschnitt 2 E 3 M 3 E 4 M FAHRRAD Wann wurde Fahrrad unterrichtet? 2 E 3 M 3 E 4 M FAHRRAD FAHRRAD Wann wurde Fahrrad unterrichtet? 4 E 4 E Lernzuwachs heißt nicht einfach richtig statt falsch oder weniger Fehler sondern bessere Fehler. Und diese folgen zudem einer Entwicklungslogik. Gute Rechtschreiber machen dieselben Fehler wie der Durchschnitt Qualitativer Karawaneneffekt in der Rechtschreibung May (1990) PZR Maja -- Sven -- Lea 1 M FA--RAT FA-R-T F------ 1 E FA--RAT F---R-T 2 M FA--R-T Schwache Rechtschreiber sind zum falschen Zeitpunkt normal 2 E FA--RAT 3 M 3 E FAHRRAD Wann wurde Fahrrad 4 M FAHRRAD unterrichtet? 4 E 9
Mehr dazu, wie Kinder lesen und schreiben lernen und wie man sie dabei unterstützen kann, finden Sie in: Brügelmann, H./ Brinkmann, E. (1998): Die Schrift erfinden Beobachtungshilfen und methodische Ideen für einen offenen Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben. Libelle: CH-Lengwil. Dehn, M., u. a. (2012): Kinder & Sprache(n) Was Erwachsene wissen sollten. Klett/ Kallmeyer: Seelze-Velber. Klein, H. (2005): Kinder schreiben. Erste Erfahrungen mit Schrift im Kindergarten. Kallmeyer: Seelze-Velber. Zinke, O., u. a. (Hrsg.) (2005): Vom Zeichen zur Schrift. Begegnungen mit Schreiben und Lesen im Kindergarten. Beltz: Weinheim/ Basel. 10