Der Weg des Gebens: die Geschichte von Satyakama Jabala

Transkript

1 Der Weg des Gebens: die Geschichte von Satyakama Jabala nach einer Geschichte aus der Chandogya Upanishad Vor langer Zeit lebte in Indien einmal ein Knabe namens Satyakama, dessen Name Liebe zur Höchsten Wahrheit bedeutet. Satyakama sehnte sich danach, die Natur Gottes, die Höchste Wahrheit, zu erkennen. Er wusste, dass nur ein Guru, ein Meister, der eins mit der Höchsten Wahrheit geworden war, ihn lehren konnte. Eines Tages sagte Satyakama seiner Mutter Jabala Lebewohl und machte sich auf den Weg zum Ashram des berühmten Gurus Gautama. Er hoffte von ganzem Herzen, dass Gautama ihn als seinen Schüler annehmen würde. Als sich Satyakama dem Haus von Gautama näherte, begrüßte ihn der Duft von Sandelholz und Jasmin. Blumen tanzten und Singvögel erfüllten die Luft mit ihren süßen Melodien, so als ob die ganze Natur sich daran erfreute, einen Erleuchteten in ihrer Mitte zu haben. Und dort auf der Türschwelle stand, sehr zu Satyakamas Überraschung, der Meister, als ob er auf Satyakamas Ankunft gewartet hätte. Helles Licht strahlte von Gautama aus wie das Licht der aufgehenden Sonne. Nach diesem Augenblick hatte sich Satyakama gesehnt. Als sich ihre Blicke trafen, spürte Satyakama in seinem Herzen die Sehnsucht, in der Gesellschaft des Einen zu sein, der ihm die Höchste Wahrheit über seine eigene Existenz lehren konnte. Voller Demut verneigte sich Satyakama. Erlauchter Herr!, sagte der Knabe. Bitte unterweist mich in der Höchsten Wahrheit.

2 Gautama blickte den Knaben mit großer Liebe an. Wessen Sohn bist du? fragte er. Ich kenne den Namen meines Vaters nicht, Guru ji, aber der Name meiner Mutter ist Jabala. Mein Name ist Satyakama Jabala. Der Guru, der die vollkommene Ehrlichkeit und das aufrichtige Verlangen des Dorfjungen wahrnahm, lächelte. Du sprichst die Wahrheit mit reinem Herzen. Ich nehme dich als meinen Schüler an und werde dir eine Aufgabe geben. Satyakamas Herz hüpfte vor Freude. Wie gesegnet er war, ein Schüler von jemandem zu sein, der die Höchste Wahrheit kannte! Gautama führte den Knaben auf ein freies Feld, wo vierhundert magere Kühe grasten. Nimm diese Rinder, mein Lieber, sagte der Guru, und sorge für sie. Mit gefalteten Händen und breitem Lächeln verbeugte sich Satyakama vor Gautama. Was für ein günstiges Schicksal, eine Anweisung von seinem Meister zu bekommen, eine Gelegenheit zu haben, ihm seine Liebe und Hingabe zu zeigen! Als Satyakama in die Wildnis hinausging, war sein Herz von Dankbarkeit erfüllt. Ihm war klar, dass jede Kuh heilig und sehr wertvoll war. Wie gesegnet ich bin!, dachte er. Welch große Ehre ist mir zuteil geworden, dass ich für die Rinder meines Meisters sorgen darf. Ich werde mich von ganzem Herzen um diese kostbaren Tiere kümmern und zurückkehren, wenn sie kräftig sind und ihre Zahl auf eintausend angewachsen ist! Jahre vergingen. Satyakama wuchs zu einem starken jungen Mann heran. Er lebte friedlich im Wald und betreute die Kühe des Gurus mit großer Liebe und Hingabe.

3 Jeden Morgen stand er mit der Sonne auf und erneuerte seine Absicht, alle seine täglichen Verrichtungen seinem Guru zu widmen. Er betrachtete jedes der Tiere so, als ob sie Gautama selbst wären. Durch seine unerschütterliche Hingabe und Disziplin begann Satyakama, die stille Weisheit der Natur zu sehen und zu hören. Das stille Flüstern der Natur stärkte seine Wahrnehmung und sein Wissen. Er lernte, welche Pflanzen und Kräuter die beste Nahrung für seine Herde boten, und indem er die feinen Zeichen beachtete, die einen Wetterwechsel ankündigten, führte er stets jede Kuh auf sicheres Gelände. Seine innere Freude wuchs ins Unermessliche, während er sich selbstlos der Anweisung seines Gurus hingab. Als Satyakama eines Morgens die Herde fütterte, näherte sich ihm der kräftigste der Bullen und sagte: Satyakama, wir sind jetzt tausend an der Zahl. Es ist Zeit, zu unserem Herrn zurückzukehren. Weil du die Anweisung deines Gurus befolgt hast, werde ich dir eine der vier Eigenschaften Gottes offenbaren. Voller Ehrfurcht und Staunen verneigte sich Satyakama mit den Worten: Bitte, mein Herr, ich lausche. Gott ist im Osten, im Westen, im Süden und im Norden. Gott ist überall und in allem. Erkenne dies als die herrliche Eigenschaft Gottes. Der Schüler, der über die Herrlichkeit meditiert, nimmt herrliche Welten in sich selbst wahr. Nun geh! Führe uns zurück zu Gautama, und bald wird dir eine weitere Eigenschaft Gottes offenbart werden. Mit diesem Wissen über die Herrlichkeit Gottes verbeugte sich Satyakama vor dem Bullen. Sein Herz war voller Verwunderung und Dankbarkeit, als er sich auf die Reise vorbereitete und sich auf den Weg zu Gautamas Haus machte. Die tausend Rinder folgten ihm. Nachdem Satyakama so weit wie möglich gelaufen war, fütterte er am Abend die Herde und sorgte dafür, dass die Rinder ein sicheres Nachtlager hatten. Dann zündete

4 er ein Lagerfeuer an und begann mit seinen Abendgebeten. Sehr zu seinem Erstaunen begann das Feuer zu sprechen. Satyakama, dafür, dass du die Anweisung deines Gurus befolgt hast, will ich dir die zweite der vier Eigenschaften Gottes erklären. Bitte, mein Herr, verneigte sich der Junge, ich lausche. Die Erde, der Ozean, der Himmel und der ganze Weltraum wisse, dass all das Gott und ohne Anfang und ohne Ende ist. Dies ist die unendliche Eigenschaft Gottes. Der Schüler, der auf das Unendliche meditiert, erlangt unendliche Welten in sich selbst. Satyakama faltete dankbar die Hände vor dem Feuer und sank in tiefe Meditation. Am nächsten Abend ging Satyakama, nachdem er sein Lager in der Nähe eines kristallblauen Sees aufgeschlagen hatte, zwischen den Kühen umher, beruhigte sie mit sanften Klängen und wünschte ihnen schöne Träume. Als die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verschwanden, flog ein Schwan aus dem Himmel herab und landete vor Satyakamas Füßen. Satyakama, sagte der Schwan, dafür, dass du die Anweisung deines Gurus befolgt hast, werde ich dich mit der dritten der vier Eigenschaften Gottes erleuchten. Bitte, mein Herr, verneigte sich der Junge. Ich lausche. Gott ist das höchste Licht. Er ist die Sonne, der Mond, das Feuer und der Blitz. Erkenne dies als die leuchtende Eigenschaft Gottes. Der Schüler, der auf das meditiert, was leuchtet, gewinnt leuchtende Welten in sich selbst. Mit diesem Wissen der Höchsten Wahrheit verbeugte sich Satyakama vor dem Schwan und verbrachte den Abend damit, über all das nachzudenken, was er gelernt hatte.

5 Nachdem Satyakama sich am letzten Abend seiner Heimreise um die Tiere gekümmert und das Feuer angezündet hatte, bekam er Besuch von einem magdu, einem Wasservogel, der auf seiner Schulter landete. Der Vogel sagte: Satyakama, dafür, dass du die Anweisung deines Gurus befolgt hast, gewähre ich dir das Wissen über die letzte der vier Eigenschaften Gottes. Gott ist die Macht und Lebenskraft im Atem, im Auge, im Ohr und im Geist. Erkenne diese Lebenskraft als den Wohnsitz Gottes. Der Schüler, der auf diese Eigenschaft Gottes meditiert, weiß, dass er immer ein Zuhause in dieser Welt hat. Du brauchst nicht weit zu reisen, Satyakama. Gott wohnt in deinem Inneren. Satyakama bot seinen tiefsten pranam dar und setzte nun, da er von den vier Eigenschaften Gottes erfahren hatte, seine Reise in einem Zustand der Glückseligkeit fort. Am nächsten Tag führte Satyakama die eintausend Rinder zu ihrem Herrn und erreichte das Haus seines Gurus. Genau wie damals vor all jenen Jahren erschien Gautama auf der Türschwelle, so als ob er wüsste, dass Satyakama nach Hause kommen würde. Freudentränen strömten Satyakamas Wangen hinunter, als er seinen Meister erblickte. Satyakamas Herz floss über vor Dankbarkeit. Er legte das Joch des kräftigsten Bullen seinem Guru zu Füßen und kniete vor Gautama nieder. Durch eure Gnade bin ich standhaft bei der Erfüllung eurer Anweisung geblieben, sagte er. Ich bringe diese tausend starken und gesunden Rinder euren Lotusfüßen dar, denn nur durch euch habe ich diese Aufgabe erfolgreich bewältigen können.

6 Gautama bedeutete seinem Schüler, sich zu erheben. Er schaute Satyakama liebevoll an und fragte ihn: Mein Lieber, ich kann sehen, dass das Wissen der Höchsten Wahrheit in dir leuchtet. Wer hat dich gelehrt? Guru ji, Wesen, die keine Menschen sind, haben mir dieses Wissen offenbart. Verkünder der Wahrheit der Bulle, das Feuer, der Schwan und der magdu-vogel haben mir die vier Eigenschaften Gottes offenbart. Dieses Wissen hat mich mit Freude erfüllt, doch ich sehne mich nach der Erfahrung dieser Höchsten Wahrheit, die mir nur jemand gewähren kann, der im Zustand der Höchsten Wahrheit lebt. Mit demütigem Herzen bitte ich euch, Guru ji, um dieses endgültige Wissen. Gautama lächelte. Der heilige Augenblick war gekommen. Als der Meister seinem Schüler in die Augen schaute, hüllte die beiden eine liebevolle Stille ein. Gautama lehnte sich zu seinem geliebten Schüler hinüber und flüsterte die letzte Lehre in sein Ohr, und in diesem Moment erfüllte sich der Herzenswunsch des Dorfjungen Satyakama Jabala, der sich nach der Höchsten Wahrheit sehnte. Über die Chandogya Upanishad Die Upanishaden, die vor Jahrtausenden aufgezeichnet wurden, sind die Inspiration der alten Weisen Indiens. Sie dienen als Zeugnis ihrer spirituellen Erleuchtung und sind ein Lehrbuch für Suchende, die nach der Einheit mit dem Höchsten Selbst streben. Sie bilden den Abschluss der Veden und sind das Herzstück der Philosophie des Vedanta. Die Chandogya Upanishad, eine der ältesten der 108 Upanishaden, ist für ihr singendes Versmaß bekannt und lehrt den Anwärter mit Hilfe von Poesie, Geschichten und Lehrsätzen. Nacherzählung von Morgan Hooper Illustrationen von Angela Steer 2018 SYDA Foundation. Alle Rechte vorbehalten.