Türkei offensiv. Zeitschrift für internationale Politik. Welt Trends
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1 Welt Trends Zeitschrift für internationale Politik Nr. 90 Mai/Juni 2013 Türkei offensiv Neo-osmanische Außenpolitik? Partner auf Zuruf Rolle im Syrienkonflikt Israel Der ungeliebte Freund Modell im Arabischen Herbst? WeltBlick Argentinien: Somos Papa! Einsatz in Mali At the Crossroads: China Japan Analyse Schwedens Neutralität Kommentar Hans Küng zum neuen Pontifex Bücher & Tagungen
2 2 WeltTrends 90 Inhalt 1 Editorial 4 WeltBlick 5 Der argentinische Papst José Luis Pizzi 10 Frankreichs Mali-Politik Stefan Brüne 15 Rohstoffpartner Chile Rüdiger Schwarz 21 China-Japan Relations at a Crossroads Dong Wang 26 Zwischenruf von Attila Kiraly 28 Thema: Türkei offensiv 31 Neo-osmanische Außenpolitik? Udo Steinbach 40 Türkei und Mittlerer Osten Savaş Genç 49 Erdoğan in Tunesien Mathieu Rousselin 58 Israel Der ungeliebte Freund Thilo Schöne 65 Problem Nordzypern Stefan Gebauer 72 Türkische Entwicklungspolitik Jeannine Hausmann 80 Modell für Arabien? Ludwig Schulz
3 Inhaltsverzeichnis 3 LipGlosse: Paradies auf Erden 88 Analyse: Schwedens Neutralität Gregor Putensen 90 Porträt: Adam Rapacki Holger Politt 102 Streitplatz: Was wird aus dem Westen? 106 Wider den westlichen Sonderweg 107 Sibylle Tönnies Realitäten zur Kenntnis nehmen 111 Ainura Asakeyeva Bücher und Tagungen 116 Graphic Novels 117 Literaturbericht von Heike Imhof-Rudolph Wiedergelesen: David Mayhew Congress The Electoral Connection 122 Rezensionen 125 Annotationen 133 Impressum 135 Neuerscheinungen 136 Konferenzen 138 Papsttum im 21. Jahrhundert Kommentar von Hans Küng 143 Wort und Strich 144
4 Habemus Papam, nostrum? Eine argentinische Sicht auf den neuen Papst José Luis Pizzi Lateinamerika, Argentinien, Vatikan Wurde uns ein neuer Star geboren? Die Begeisterung im globalen Süden, sofern katholisch, und besonders in Argentinien, die mit der Wahl von Jorge María Bergoglio zum Papst Franziskus verbunden war, scheint dies zu belegen. Diese Freude ließ die Probleme, die mit der Wahl dieses neuen Papstes sowohl in der katholischen Kirche als auch mit seiner argentinischen Geschichte verbunden sind, in den Hintergrund, ja fast in Vergessenheit geraten. Ohne Zweifel war diese Papstwahl in der Geschichte des Papsttums eine von historischem Gewicht. Erstmals ist mit dem argentinischen Erzbischof Bergoglio ein nichteuropäischer Papst auf dem Stuhle Petri. Seit im 4. Jahrhundert der katholische Glaube offizielle Religion des Römischen Imperiums geworden war, ist der Katholizismus die vorherrschende Religion Europas, und so kamen auch alle Päpste von diesem Kontinent. Es ist das erste Mal in der Geschichte der katholischen Kirche, dass ein Papst keinen Namen eines (von ihm bewunderten) Vorgängers wählte. Bergoglio brach mit dieser Tradition und wählte als Namensgeber Franziskus von Assisi, einen Heiligen aus dem 12./13. Jahrhundert, der für Armut und Hinwendung zu den Armen steht (und zu Lebzeiten vom Vatikan deshalb als Häretiker angesehen wurde). Erstmals gehört ein Papst den Jesuiten, der Gesellschaft Jesu (Sociedad de Jesús, SJ), an, einem Orden, der im 18. Jahrhundert verfolgt und (für einige Jahrzehnte) vom Vatikan verboten wurde. Last, but not least, erstmals wurde ein Papst aus Lateinamerika gewählt, was das Gewicht dieses katholischen Subkontinents zum Ausdruck bringt. Die Wahl von Franziskus sollte primär aus der Krise der katholischen Kirche, einer tief korrumpierten Institution, heraus interpretiert werden. Somit ist diese Wahl eher als eine Reaktion auf die internen Skandale, seien es die pädophilen Netzwerke, Wikileaks oder die Machenschaften des Istituto per José Luis Pizzi, geb. 1959, argentinischer Rechtsanwalt und Schriftsteller. WeltTrends Zeitschrift für internationale Politik 90 Mai/Juni Jahrgang S. 5-9
5 6 WeltTrends 90 le Opere di Religione (der Vatikanbank), zu verstehen denn als Rückkehr der Kirche zu den (armen) Gläubigen. Ich denke, dass diese Krise der Schlüssel zum Verständnis der Entscheidung im Konklave für einen Papst vom Ende der Welt ist. Es bedarf angesichts dieser ökonomischen und moralischen Korruption einer Wende; einer Wende in Richtung Süden, also dorthin, wo (noch) die Mehrheit der Katholiken lebt wo sich viele bereits den evangelikalen Kirchen zugewandt haben. Auch diese Abwanderung soll mit dieser Wahl gestoppt werden. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man die Wahl auch als Marketingaktion der katholischen Kirche verstehen. Dazu passten vom ersten Tag an die theatralischen Gesten von Franziskus: Das Küssen eines Kranken und eines behinderten Kindes, der Verzicht auf große Limousinen und auf rote Schuhe. Vielleicht werden mit den neuen Papst Veränderungen kommen, sicher eher im Vatikan als in der Gesamtheit der katholischen Kirche. Eine historische Chance? Weiterlesen: Widerstand und Wandel Soziale Bewegungen in Süd- und Mittelamerika WeltTrends 61 Der ehemalige Bischof von Buenos Aires kennt aus eigener Erfahrung Ungerechtigkeit und Ungleichheit und er weiß, dass man nicht mit abstrakten Versprechungen die Herzen der Armen erobern kann. Armut und Ungleichheit sind in Lateinamerika aber nicht Ergebnis der Natur, sondern Resultate eines ungerechten Systems, das über Jahrhunderte von der katholischen Kirche sanktioniert worden ist. Und wenn der Versuch unternommen wurde, dieses zu verändern, dann war und ist es bis zum heutigen Tage die katholische Hierarchie, die sich mit den konservativsten Kräften verbindet und dagegenhält. Und wenn einige ihrer Priester zu den Ursprüngen zurückkehren wollen und sich für die Armen engagieren, dann werden sie von den eigenen Leuten denunziert oder gar verfolgt, wie Bischof Enrique Angelelli, der in der Militärdiktatur seinen sozialen Einsatz mit dem Tode bezahlte, oder Padre Carlos Mugica, der von der parastaatliche Terrorgruppe Triple A ermordet wurde, um nur zwei Beispiele aus Argentinien zu nennen. Kann die neue Autorität im Vatikan einen neuen Weg beginnen, einen Weg mit Erinnerung, aber auch mit Wiedergutmachung? Für die Regierungen Lateinamerikas eröffnet sich hier eine historische Möglichkeit für ein friedliches Zusammenwirken
6 WeltBlick 7 wichtiger politischer Kräfte für demokratischere und sozialere Gesetze. Aber die Wahrheit ist auch, dass sich diese Kirche oft gegen Versuche stemmte, wenn es um neue Gesetze im Interesse der ärmeren Schichten oder von Minderheiten ging. Der neue Pontifex hat sich in der Vergangenheit geradezu als militanter Homophober erwiesen, der von vielen als Führer einer äußerst reaktionären Opposition gesehen wurde, wenn es um solche Minderheitenforderungen ging. Reaktionen am Rio de la Plata In Argentinien wurde die Wahl Bergoglios zunächst als Wahl eines Gegners der Regierung von Cristina Fernández de Kirchner angesehen. Die Opposition in ihrer Gesamtheit jubelte. Dazu muss man wissen, dass Bergoglio in seiner Position als Erzbischof von Buenos Aires (seit 1998) und als Präsident des argentinischen Episkopats (zwischen 2005 und 2011) zweifellos neben dem Medienkonzern Grupo Clarin, dem Industriekonzern Techint Group und dem oppositionellen Flügel der Arbeitnehmerorganisation CGT (Moyano) zu den bekanntesten Personen der Opposition zählte. Dagegen waren die offiziellen Reaktionen zurückhaltend. Nur eine kleine Gruppe von Intellektuellen formulierte ihre berechtigten Bedenken. Dazu gehörten Horacio Gonzáles, der Direktor der Nationalbibliothek, und der bekannte Journalist Horacio Verbitsky. Zugleich äußerten sich bekannte Menschenrechtler wie Adolfo Pérez Esquivel, Friedensnobelpreisträger von 1980, zu den Vorwürfen hinsichtlich einer Komplizenschaft Bergoglios mit der Militärdiktatur zwischen 1976 und Er wies diese Vorwürfe zurück. Verhältnis zur Militärdiktatur Der Vatikan beeilte sich unmittelbar nach der Wahl, mögliche Verbindungen des damaligen Chefs der Jesuiten in Argentinien mit der Verhaftung von zwei argentinischen Priestern, Francisco Jalic und Orlando Yorio, durch die Militärs zu dementieren. Es gibt jedoch Zeitzeugen, die ihn beschuldigen, er habe die beiden Priester nicht verteidigt. Die Vorwürfe, mit dem damaligen Militärregime zusammengearbeitet zu haben, wurden vor zwei Jahren erhoben. Zu jener Zeit lief der Prozess zur Escuela de
7 8 WeltTrends 90 Weiterlesen: R. Pauli, Cristina Kirchners neuer, alter Politikstil WeltTrends 85 Mecánica der argentinischen Armee (ESMA), die als Gefängnis und Folterstätte genutzt wurde. Bergoglio trat damals als Zeuge auf. Es gab Personen, die ihm vorwarfen, er habe es abgelehnt, die beiden Jesuitenpriester zu schützen. Bergoglio hat diese Vorwürfe stets von sich gewiesen. Jedoch war er der höchste Amtsträger des Jesuitenordens in Argentinien und hatte somit Verantwortung auch für die Priester, die sich in den Armenvierteln, den villas miserias, engagierten. Der damalige Bischof von Morón, Miguel Raspanti, versuchte, die beiden zu schützen. Sie sollten seiner Jurisdiktion unterstellt werden. Bergoglio habe seinerseits sehr schlechte Referenzen zu den beiden Priestern verfasst, sodass sie letztlich ohne jeden kirchlichen Schutz waren. Schließlich wurden sie entführt und gefoltert. Nach fünf Monaten fand man sie, halbnackt und mit Drogen vollgestopft, am Stadtrand von Buenos Aires. Die Tatsache, dass der Aufstieg Bergoglios in die erste Reihe der kirchlichen Hierarchie Argentiniens mit dem Machtantritt der Militärs zusammenfällt, hat immer wieder solche Vorwürfe genährt. Wie beim Großteil der katholischen Hierarchie, so hat es auch in diesem Fall zwar keine explizite Unterstützung, so doch eine schweigende Komplizenschaft gegeben. Zugleich muss gerechterweise betont werden, dass auch Zeugen auftraten, die Bergoglios Unterstützung für viele Menschen hervorhoben, denen er verholfen habe, vor der Diktatur zu fliehen. Verhältnis zur Regierung Kirchner Bergoglios Beziehungen zu den Kirchners waren immer schlecht. Das galt besonders für die Zeit unter Präsident Nestor Kirchner ( ), dem verstorbenen Ehemann der jetzigen Präsidentin. Dieser hatte mehrmals Bergoglio als Chef der Opposition bezeichnet und kritisiert, dass die Kirche die Anstrengungen der Regierung zur wirtschaftlichen Sanierung des Landes nach der Krise von 2001 weder anerkannte noch unterstützte. Mehr noch: So manches Gesetz betrachtete die Kirchenspitze als Angriff gegen katholische Grundprinzipien, wenn nicht gar als Blasphemie. So das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Es führte zur harten Konfrontation. Erzbischof Bergoglio, der zwar eingetragene Partnerschaften, jedoch nicht als der Ehe gleichwertige Verhältnisse akzeptierte, formulierte damals in einem Brief an den argentinischen Klerus: Seien wir nicht naiv: Es handelt sich
8 WeltBlick 9 hierbei nicht um einen einfachen politischen Kampf; dies ist die Anmaßung, den Plan Gottes zu zerstören. Bereits vorher hatte er sich vehement gegen die Legalisierung der Abtreibung ausgesprochen. Viele Beobachter in Argentinien sind der Meinung, dass Bergoglio seine Überzeugungen nicht verändern wird. Im Gegenteil! Er wird versuchen, nun als Pontifex seine Ziele erweitern und zu erreichen. So zum Beispiel könnte es sein, dass er die katholische Kirche zu einer Plattform gegen die aktuell dominante linke Ausrichtung vieler Regierungen Lateinamerikas formiert. Zugleich kommt es zu einer (scheinbaren) Öffnung zur Linken: Er predigt gegen die Gier des Kapitalismus, der für ihn ein System sei, das Millionen von Menschen in faktische Sklaverei zwinge. Bei einem Menschen, der so stark in konservativen Traditionen verankert ist, könnte dies als Ankündigung konkreter Aktionen zugunsten der Armen, speziell in Lateinamerika, interpretiert werden. Gegenwärtig hat es den Anschein, dass sich das Verhältnis zwischen dem neuen Papst und der argentinischen Regierung entspannt. Die Tatsache, dass der Papst Cristina Kirchner als erste Staatschefin empfing, könnte ein Signal sein, dass man in Rom auf Entspannung setzt. Von Cristina Kirchner wurde dies dankbar und devot aufgenommen. Auch sie ist an einem konfliktarmen Verhältnis zum argentinischen Pontifex interessiert, der ja weiterhin großen Einfluss unter den (gläubigen) Massen Argentiniens hat. Inwieweit es zu einer Annäherung zwischen argentinischer Regierung und katholischer Kirche kommen wird, bleibt abzuwarten. Dann würde, wie es in einem jetzt oft zitierten (spöttischen) Wort heißt, Gott, der natürlich ein Argentinier ist, persönlich in Rom dienen. Staatschefin und Gottesdiener Aus dem Spanischen von César A. Chamorro.
9 Themenhefte 90 Türkei offensiv 89 Russland und Wir 88 China und die Welt 87 Weltunordnung Neue Weltordnung Brasilien Land der Gegensätze 84 Ernährung garantiert? 83 Arabische Brüche 82 Autoritarismus Global 81 Atomare Abrüstung 80 Japan in der Katastrophe 79 Rohstoffpoker 78 Polen regiert Europa 77 Vom Fremden zum Bürger 76 Herausforderung Eurasien 75 Exit Afghanistan 74 Vergessene Konflikte 73 Klimapolitik nach Kopenhagen 72 Südafrika und die Fußball-WM 71 Selektive Grenzen 70 Brodelnder Iran 69 Europäische Brüche 68 NATO in der Sinnkrise 67 Außenpolitik in Schwarz-Rot 66 Energiesicherheit Deutschlands 65 Naher Osten Ferner Frieden 64 Konfliktherd Kaukasus 63 Geopolitik Ost 62 Zerrissene Türkei 61 Soziale Bewegungen in Lateinamerika 60 Russische Moderne 59 EU-Außenpolitik nach Lissabon 58 Regionalmacht Iran 57 Ressource Wasser 56 Militärmacht Deutschland? 55 G8 Alternativ 54 Identität Europa 53 Rotes China Global 52 Deutsche Ostpolitik 51 Geheime Dienste 50 Kerniges Europa Bestellen Sie mit einer Mail an 49 Militär in Lateinamerika 48 Internet Macht Politik 47 Europäische Arbeitspolitik 46 Globale Finanzmärkte 45 Von Dynastien und Demokratien 44 Modernisierung und Islam 43 Großmächtiges Deutschland 42 Europäische Außenpolitik 41 Transatlantische Perspektiven II 40 Transatlantische Perspektiven I 39 Wohlfahrt und Demokratie 38 Politisierung von Ethnizität 37 Vergelten, vergeben oder vergessen? 36 Gender und IB 35 Krieg im 21. Jahrhundert 34 EU-Osterweiterung im Endspurt? 33 Entwicklungspolitik 32 Balkan Pulverfaß oder Faß ohne Boden? 31 Recht in der Transformation 30 Fundamentalismus 28 Deutsche Eliten und Außenpolitik Jahre Transformation in Polen 26 (Ab-)Rüstung Wohlfahrtsstaaten im Vergleich 21 Neue deutsche Außenpolitik? 20 Demokratie in China? 19 Deutsche und Tschechen 18 Technokratie 17 Die Stadt als Raum und Akteur 16 Naher Osten Region im Wandel? 14 Afrika Jenseits des Staates 12 Globaler Kulturkampf? 11 Europa der Regionen 8 Reform der UNO 7 Integration im Pazifik 6 Zerfall von Imperien 5 Migration 3 Realer Post-Sozialismus 2 Chaos Europa 1 Neue Weltordnung
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