titelthema Ehemaliges Jugoslawien: Der Eisberg 20 Jahre nach Kriegsende Vergessen unmöglich, verzeihen?

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1 58 FreeStyle Ehemaliges Jugoslawien: Der Eisberg 20 Jahre nach Kriegsende Vergessen unmöglich, verzeihen?

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3 60 FreeStyle Laute Schreie rissen mich aus dem Schlaf. Mein Ehemann warf mir einen Rucksack vor die Füße. Etwas Essbares und Wasser, rief er voller Aufregung. Fassungslos und fragend blickte ich ihn an. Sein Gesichtsausdruck, seine Augen, ich hatte in diesem Moment nicht gewusst, dass ich sie nie wieder sehen würde. Plötzlich krachte die Decke über uns ein und riss mich aus dem Gleichgewicht. Zuletzt sah ich den schwarzen Horizont

4 eiszeit im leben FreeStyle 61 über mir und der Gestank nach verbranntem Holz kroch mir in die Nase. Mein Bewusstsein verließ mich und mir wurde schwarz vor Augen. Das damalige Jugoslawien teilte sich in sieben Länder, die heute Kroatien, Serbien, Slowenien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Kosovo und Montenegro sind. Anfang der 90er Jahre beherrschten heftige Konflikte das Land, in dem immer mehr Hass entstand. Nachbarn, welche jahrelang eine gute Freundschaft gepflegt hatten, wurden zu Feinden. Die Gründe dafür hatten zwei Ursprünge: Die Religionszugehörigkeit und/ oder die Nationalität. Die Aufstände wurden immer schlimmer, da sich einige Länder nun offiziell von Jugoslawien trennten und nun ein eigenes Land wurden. Dies war das Ende der Harmonie. Die Situation eskalierte 1992 und der Krieg der verbliebenen Länder, Serbien, Bosnien und Kroatien begann. Im Klartext bedeutete dies, dass sich Katholiken (Kroaten), Muslime (Bosnier) und Orthodoxe (Serben) gegenseitig bekämpften. Es war ein Krieg gegen jede Ehre, gegen jeden Verstand, gegen jede Regel. Kurz gesagt: Jeder kämpfte gegen jeden. Sogar Menschen, die die gleiche Nationalität hatten, aber unterschiedlicher Religionen angehörten, führten Krieg. Ein tiefer Schmerz durchdrang meinen Körper. Ich schrie. Ich fühlte den Schweiß, der an meiner Stirn herunterlief. Erschrocken schlug ich um mich. Wo bin ich? Wo bin ich? Einige versuchten mich zu beruhigen. Diese Stimmen, welche mir nicht vertraut waren, verstand ich nicht. Dies war nicht meine Muttersprache. Ich war nicht mehr in meinem Kozluk. Eine ältere Dame kam auf mich zu und sagte mir, ich sei weit weg von zu Hause. Sie versuchte mit mir zu kommunizieren, mir alles zu erklären, doch ich brach zusammen und schrie aus tiefster Seele nach meinen Kindern. Frauen und Kinder wurden in Zügen und Lkws massenhaft aus dem Kriegsgebiet, zum Beispiel nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz geschafft, denn in ihrem eigenem Land gab es keinen Schutz mehr. Dort fanden die Frauen und Kinder dann zumeist in Asylheimen einen Platz. 12- jährige Jungen zogen in den Krieg und ließen ihr Leben. Geliebte Männer, Söhne und Väter kamen nie wieder nach Hause. Als das hohe Fieber nachließ, erfuhr ich, dass ich in Wien gestrandet bin, wie, mit wem, ich weiß es nicht. Irgendeine Hilfsorganisation hatte sich meiner angenommen und mich aus dem Grauen ausgegraben, alle anderen Erinnerungen verschwimmen in meinem Kopf. - Im Frauenheim kümmerten sie sich gut um uns. Ich schrieb jeden Tag Briefe, mit der Hoffnung, etwas über meine Familie zu erfahren. Nie kam eine Antwort. Jeder Kontakt war unmöglich. Wöchentlich kam ein Bote und verkündete die Namen der Gefallenen. Die Nächte waren qualvoll. In der Stille der Nacht hörte man die Leiden der Witwen, die verzweifelten Schreie der Mütter. Jede Nacht betete ich zu Gott. Jede Nacht hielt mich die Angst wach. Amerika und die europäische Union versuchten, den blutigen Krieg zu stoppen, doch ohne Erfolg wurde Srebrenica, eine Stadt in Bosnien, und Herzegowina zur Schutzzone durch Blauhelm-Soldaten erklärt. Die Menschen hatten nun endlich eine Zuflucht gefunden. Aus allen Verstecken und Wäldern versammelten sich Frauen, Kinder und verletzte Männer mit der Hoffnung beschützt zu werden, doch dies war für viele der Fehler ihres Lebens. Der serbische Kommandeur Ratko Mladic stürmte mit seiner Armee, trotz Verbot, Srebrenica. Dies gilt bis heute noch als das größte Massaker nach dem zweiten Weltkrieg. Irgendwann bekam ich die Nachricht, dass auch mein Mann gefallen war. Meine Augen waren rot wie Blut, mein Gesicht bleich wie das einer Toten, mein Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen. Der Tod so gewollt und doch nicht möglich. Mein Herz war gebrochen. Der einzige Gedanke war Selbstmord. Viele Versuche waren gescheitert. Mit der Klinge in der Hand fuhr ich mir langsam über die Pulsadern und das Blut strömte förmlich aus mir heraus. Mir wurde langsam warm und ein helles Licht erschien mir. Bin ich im Himmel? Bei meinen Kindern und meinem Ehemann? Ich fühlte mich befreit vom Schmerz, der mich

5 62 FreeStyle zerstörte. Gleich wäre es endlich vorbei. Das restliche Europa versuchte zwar, den Vorfall möglichst schnell zu vertuschen bzw. vergessen zu machen, doch es kommt immer irgendwann die Wahrheit ans Licht und die geprägten Mütter von Srebrenica verspüren noch heute einen Hass auf die ganze Welt. Begraben sind die Opfer von Srebrenica in Potocari, doch die meisten Massengräber wurden noch nicht gefunden. Ich hatte überlebt. Durch Gottes Hand? Ich weiß es nicht. Im Krankenhaus musste ich mich einer Therapie unterziehen und erfuhr, dass ich im 4. Monat schwanger war. Sie wachten über mich und gaben mir die notwendige Kraft, um mein kleines Mädchen zu kämpfen. Ich bin froh darüber. Ich bin nicht mehr allein. Fast 18 Jahre sind vergangen und Provokationen und Beleidigungen sind trotz der Jahre immer noch aktuell. Ob die Menschen jemals wieder Frieden finden? Ich glaube nicht. Der Verlust und der Schmerz sind zu stark und die Kinder geprägt von den Geschichten der Eltern. Der Hass wird einem in die Wiege gelegt. Vergessen kann man nicht, verzeihen muss man irgendwann. Anmerkung der Redaktion Die Augenzeugen-/Erlebnis berichte sind wahrheitsgetreu. Es handelt sich um eine gute Freundin der Familie der Autorin, die heute wieder in Bosnien lebt. Ihre inzwischen erwachsene Tochter studiert heute in Wien. Kozluk liegt im Grenzgebiet Serbien/Bosnien Nadina Tersic, Pia Weilnhammer, 10b Oben: Massengrab, mitte: Gefängnis, unten: Soldaten, die im Krieg kämpften