Blindes Vertrauen. Selbstversuch

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1 Selbstversuch Blindes Vertrauen In der Schweiz sind 400 bis 450 Blindenführhunde im Einsatz. Mit ihrer Hilfe können sich sehbehinderte Menschen selbstständig bewegen. Die Hunde sind mehr als treue (und teure) Hilfsmittel. Ein Selbstversuch zeigt, welch anspruchsvolle Arbeit sie leisten und wie die Hunde dabei Herzen erobern. (Lesen Sie den Bericht dazu auf den folgenden Seiten.)

2 Von Andreas Krebs Nun soll ich blind einem fremden Hund vertrauen. Mit verbundenen Augen Labrador Chica folgen, und das im Eiltempo! Hansjörg Adler, langjähriger Schulleiter des Vereins für Blindenführhunde und Mobilitätshilfen (VBM), sagt: «Wir bilden auch langsamere Hunde aus.» Das hilft mir jetzt wenig. Hansjörg Adler ist in Südafrika auf den Hund gekommen. Als 22-Jähriger hat er sich von seiner Freundin verabschiedet für drei Monate. Adler gefiel es in Südafrika, die Zeit verflog. Der gelernte Schreiner jobbte in einer Gärtnerei, die nachts von Nelly, einer Deutschen Schäferhündin, bewacht wurde. «Ziemlich aggressiv», erinnert sich Adler. Nelly habe sich immer wieder aus dem Zwinger befreit und die Leute herumgejagt, «sie hatte Spass daran, und alle Angst vor ihr», erinnert sich Adler. «Aber zu mir war sie freundlich.» So kam es, dass Nelly fortan auch tags aus dem Zwinger durfte, wenn der seltsame Schweizer, ein Hundeflüsterer!, Zeit für sie hatte. «Wir hatten viel Spass zusammen. Nelly hat etwas Angeborenes in mir geweckt. Sie hat mir gezeigt, dass man mit einem Hund arbeiten kann. So hat Nelly mich ausgebildet.» Adler ist kein «Hündeler» Später übernahm Adler der noch heute von sich sagt: «Ich bin kein Hündeler!» in Südafrika die Leitung eines Hundeclubs. Erst 12 Jahre später ist Adler heimgekehrt; er hat die Frau wieder getroffen, von der er sich als Freund verabschiedet hatte für drei Monate und die beiden haben geheiratet! In der Tierwelt hat Adler ein Inserat entdeckt: «VBM geboren Hundetrainer gesucht.» Adler bewarb sich. Und wurde der erste Lehrling von VBM-Gründer Walter H. Rupp. Seit nunmehr 22 Jahren trainiert Adler Blindenführhunde; von 1993 bis im April diesen Jahres amtete er zudem als Schulleiter des VBM. Über 300 Blindenführhunde hat der Verein in dieser Zeit ausgebildet und sehbehinderten Personen vermittelt. «Vai Chica!» «Wir spielen jetzt Blindenführhund», sagt Adler. Für Chica sei das ein Spiel, ich solle es doch auch so sehen. Aber ich sehe gar nichts. Adler hat mir eine Augenmaske aufgesetzt, eine von der Art, die man in Fliegern häufig sieht. Ich solle nicht schummeln, das verwirre nur. Adler befiehlt Chica zu mir, sie müsse Kontakt aufnehmen, sagt er. Tatsächlich, Chica schmiegt sich an mein linkes Bein, berührt mit ihrer kühlen Nase meine Hand. Wenn er angeleint ist, gehe ein gut ausgebildeter Führhund links neben seinem Meister ohne zu ziehen. Ist er hingegen im Führgeschirr, dürfe er ziehen. «Die meisten Hunde lieben das», sagt Adler. Ich solle jetzt den Führbügel greifen. Kaum habe ich den U-förmigen, in Leder gefassten Metallbügel ertastet, gibt Adler den Befehl: «Vai Chica!» Die US-Amerikanerin Allison Avery arbeitet für ein Jahr beim VBM in Magden. Sie lehrt Königspudel El Zorro, auf was ein Blindenführhund zu achten hat. Internationale Trainer Die Labradorhündin eilt mit mir durch Magden, ein Dorf, das ich erst heute Morgen kennen gelernt habe bei ei- 32 Schweizer Hunde Magazin 4/09

3 nem Spaziergang mit Blindenführhund El Zorro, einem rassenreinen Königspudel, und Instruktorin Allison Avery, einer US-Amerikanerin, die in Kalifornien für «Guide Dogs for the Blinds» arbeitet, mit 1200 Hunden eine der grössten Schulen der Welt. Wieso kommt jemand von Kalifornien nach Magden, in ein kleines Nest im Unteren Fricktal? Von der grossen Schule zu einem kleinen Verein, der zehn bis fünfzehn Hunde im Jahr ausbildet und knapp 100 Hunde im Einsatz hat? «Ich kann hier viel lernen», sagt Allison. Beim VBM macht ein Ausbilder alles, von der Auswahl der Welpen über die Spezialausbildung bis hin zur Betreuung der ausgebildeten Hunde und der Klienten. «Das ist spannend.» Bei grossen Schulen werden die Arbeiten aufgeteilt, die Mitarbeiter sind spezialisiert. Neben der Amerikanerin Allison Avery arbeitet auch die Griechin Lia Stavoravdi beim VBM. Sie ist im dritten Lehrjahr der «sehr, sehr strengen» (Adler) Lehre zur Blindenführhundinstruktorin. Hansjörg Adler trainiert seit nunmehr 22 Jahren Blindenführhunde. Momentan gehört El Zorro zu seinen Schützlingen. Der VBM hat über 300 Hunde ausgebildet. Bitte nicht ablenken Ich könne Chica vertrauen, meint Adler, sie sei ein guter Führhund, stehe kurz vor Abschluss ihrer Ausbildung. Doch blind gehen fällt schwer. Der Gleichgewichtssinn spielt verrückt, immer wieder stosse ich gegen Chica. Sie nimmt es ohne zu knurren. Geduldiger Hund. Zwar geht das blinde Gehen bald besser. Aber es bleibt ein mulmiges Gefühl, sich ohne seinen wohl wichtigsten Sinn fortzubewegen. Währenddessen erzählt Adler: «Blindenführhunde sind bei der Arbeit voll konzentriert. Es ist wichtig, dass man die Hunde nicht ablenkt, etwa ungefragt streichelt. Das kann verheerende Folgen haben!» Deshalb gilt es bei einer Begegnung mit Blindenführhunden einige Regeln zu beachten (siehe Kasten Seite 34). Viele Rassen geeignet Der VBM arbeitet mit vielen Rassen: Labrador, Golden Retriever, Airedale Terrier, Appenzeller, Collie, Riesenschnauzer, Königspudel und viele Mischlinge werden zu Blindenführhunden ausgebildet. «Vielfalt ist uns wichtig. So können wir möglichst gut auf die Bedürfnisse der blinden Personen eingehen», sagt Adler, der nicht verhehlt, dass der Königspudel zu seinen liebsten Rassen gehört. «Königspudel sind die gescheitesten Hunde», sagt er. «Sie nehmen Dinge persönlich und sind nachtragend.» Auch der Labrador sei in der Regel gut geeignet. Wenn nur die Verfressenheit nicht wäre: «Der frisst dem Klienten noch das Poulet weg.» Ein Blindenführhund darf kein Guezli von Fremden annehmen oder ein Stück Brot vom Boden fressen. Er muss führen, ohne zu schnuppern. Ausserdem wird im Dienst nicht herumgetollt, nicht in Bächen geplanscht, nicht Stöckchen geholt. Für das ist die Freizeit da. «Rohmaterial» wird getestet Die Ausbildung ist anspruchsvoll, für Hund und Ausbilder. Für die Hunde beginnt sie mit dem so genannten Welpentest. «Mit sieben Wochen sind die Hunde noch wenig beeinflusst von Menschen», sagt Adler. «Wir achten auf das Angeborene, auf das, was man nicht mehr ändern kann.» Die Ausbilder des VBM testen die Welpen ausgewählter Züchter. Ist der Hund nervös? Schreck- Schweizer Hunde Magazin 4/09 33

4 Regeln für die Begegnung mit Blindenführhunden Blindenführhunde im Einsatz erkennt man am Führgeschirr. Sie können ihre anspruchsvolle Aufgabe nur erfüllen, wenn sie dabei nicht gestört werden. Deshalb gelten bei einer Begegnung mit Blindenführhunden diese Regeln: Hundehalter rufen ihren Hund zu sich, nehmen ihn an die Leine und machen sich bei der sehbehinderten Person bemerkbar. Das Gespann ungestört passieren lassen oder mit dem eigenen Hund die Strassenseite wechseln. Keine Kontaktaufnahme mit dem Führhund: nicht rufen, streicheln, füttern. Den Führhund nicht erschrecken, z. B. durch Knallkörper, Hupen und dergleichen. Wenn Sie mit der handicapierten Person Kontakt aufnehmen möchten, etwa um ihr zu helfen, sprechen Sie die Person direkt an, also nicht erst den Hund. Unangekündigte Berührungen können Halter und Hund verunsichern. Die handicapierte Person ist auf ihren Hund angewiesen gestatten Sie deshalb den Zutritt auch dort, wo Hunde sonst nicht zugelassen sind. Auch ein Blindenführhund braucht Freizeit zum Spielen; dann geniesst er gerne den Kontakt mit Menschen und Artgenossen. haft? Selbstbewusst? Sucht er Kontakt zu Menschen? Ist der Spieltrieb gross? Um das herauszufinden, nehmen die Hundeinstruktoren die Welpen weg von Mutter und Geschwister und setzen sie in fremder Umgebung neuen Situationen aus. Der Welpe wird auf eine Treppe gestellt trifft er selber eine Entscheidung? Vor ihm wird ein Regenschirm geöffnet rennt er verängstigt weg? Greift er den Schirm an? Beides ist nicht gut: Blindenführhunde dürfen keine Angst haben, Respekt und Vorsicht sind aber eminent wichtig. Die wichtigste Eigenschaft überhaupt, die ein Hund mitbringen muss, ist der Spieltrieb. Denn auf diesem basiert die Ausbildung. «Spielfreudige Hunde sind auch Stimmungsaufheller für zu Depressionen neigende Klienten», sagt Adler. «Freiheitsliebende Hunde hingegen, sind das Schlimmste, was es gibt.» Franken Ausbildungskosten Ausgewählte Welpen wachsen bei einer von derzeit 24 Pflegefamilien auf, die für den VBM Hunde vorbereiten. «Diese Familien sind enorm wichtig», sagt Adler. «Sie tragen 50 Prozent bei zu einem guten Blindenführhund. Die Junghundetrainer fördern die positiven, angeborenen Eigenschaften der Hunde.» Dabei werden sie vom VBM begleitet. Die Arbeit ist ehrenamtlich, Junghundetrainer erhalten lediglich eine Entschädigung von 70 Franken pro Monat. Ihr Ziel müsse es sein, eines Tages den blinden Menschen kennen zu lernen, der mit ihrem Hund unterwegs ist. Nach ein- bis eineinhalb Jahren kommt der Hund für die sechs- bis achtmonatige Spezialausbildung zu einem der sieben Blindenführhundeinstruktoren des VBM. Dieser nimmt den Hund bei sich zu Hause auf. «Wir sind die einzige Schule der Schweiz Die Labradorhündin Chica führt Hansjörg Adler souverän durch den Laden und sicher nach Hause. ohne Zwingerhaltung», sagt Adler. «Durch die Integration des Hundes in die Familie lernt der Ausbilder den Hund besser kennen und kann ihm, falls nötig, noch Manieren beibringen.» Ausserdem sei die Zwingerhaltung ein nicht zu unterschätzender Kostenfaktor. Die Ausbildung des Hundes kostet rund Franken, die der blinden Person ; hinzu kommen zwecks Weiterbildung rund 2000 Franken pro Jahr. Der Hund bleibt im Besitz des VBM; er wird der sehbehinderten Person vermietet für 350 Franken pro Monat; die Miete wird bezahlt von der Invalidenversicherung. Hundesprache ist Italienisch «Der Hund muss nicht arbeiten, das ist wichtig», erklärt Adler das Prinzip der Ausbildung. Der Hund solle immer das Gefühl haben, dass eine Handlung zu seinem Vorteil sei. «Wir kombinieren einzelne Lernschritte so, dass sie in der entsprechenden Situation zum Erfolg führen. Wir geben dem Hund immer Recht und loben ihn. So löst er seine Aufgaben mit Freude.» Mittlerweile hat sich mein Gleichgewichtssinn an die neue Situation gewöhnt. Ich marschiere vertrauensvoll dem Hund hinterher, während Adler weiter erzählt. Die Ausbildung sei umweltgerichtet, also nicht menschbezogen. Das bedeute, dass der Hund etwas nicht wegen dem Meister macht, sondern wegen der Umwelt. «Unsere Hunde müssen den Blick immer auf die Umwelt richten.» 36 italienische Befehle müssen Blindenführhunde beherrschen: piede bei Fuss; passare überqueren; avanti vorwärts; casa nach Hause; etc. «Italienisch ist sehr melodiös», erklärt Adler, das sensible Hundeohr nehme die vielen Vokale besonders gut wahr. So sei Italienisch im Strassenlärm deutlicher zu hören als etwa Deutsch. 34 Schweizer Hunde Magazin 4/09

5 Indem sie stehen bleibt, zeigt Chica auch dem Journalisten die Treppe an. Adler. «Vertrauen ist die Grundlage für ein harmonisches Führgespann.» Es komme selten vor, dass ein Paar getrennt werden muss. Anstrengende Arbeit Ein Anfängerhund beginnt mit einer Trainingseinheit von fünf Minuten. Dann muss er all die Gerüche und anderen Eindrücke verarbeiten. Mit einem ausgebildeten Hund muss man nach zwei Stunden eine Pause machen. Neben dem Abschlusstest gibt es mehrere medizinische, orthopädische und neurologische Untersuchungen. Erfahrungsgemäss genüge die beste Ausbildung des Hundes allein nicht, damit das Tier seine Aufgaben erfüllen kann, sagt Adler. Deshalb müsse die sehbehinderte Person über den richtigen Umgang mit ihrem Hund unterrichtet sein. Zudem muss sie sich selbstständig mit dem Langstock bewegen können und ziemlich fit sein. Denn: «Zwei bis zweieinhalb Stunden pro Tag muss der Hund draussen aktiv sein.» Es gibt Hunde, die schnell laufen, es gibt Morgenmuffel, solche die Hektik mögen und in eine Stadt gehören, und andere, die auf dem Land glücklich werden. Es gibt auch Frauen- respektive Männerhunde. Dies alles gelte es zu berücksichtigen, wenn ein Hund vermittelt wird, sagt Gut gemacht, Chica! Streicheleinheiten statt Guezli. Spüren, was Chica sieht Chica und ich passen gut zusammen, finde ich. In flottem Tempo umschifft Chica enge Passagen, führt mich auf Trottoirs, an geparkten Autos vorbei. Dann und wann bleibt sie stehen, signalisiert so ein Hindernis. Der Führbügel geht ein wenig hoch eine Treppe: Chica ist mit den Vorderpfoten auf die erste Stufe gestiegen. Der Blindenführhund ersetzt dem Blinden nicht die Augen, aber er sieht für ihn. «Vai Chica», weiter geht s. Ich bin verblüfft, wie gut wir vorankommen. Chica bleibt wieder stehen. Mit Fuss und Kurzstock ertaste ich nichts. Chica macht einen Bogen um nichts? «Ein Ast auf Kopfhöhe», erläutert Adler die Situation. Ein Blindenführhund muss die Umwelt auch weit über seinem normalen Blickfeld wahrnehmen. Wir kommen an die Hauptstrasse, der Autolärm verrät es. Chica bleibt stehen. Ich hebe den Kurzstock in die Höhe. Das Zeichen verpflichtet Autofahrer anzuhalten und die sehbehinderte Person über die Strasse zu lassen, auch wenn kein Fussgängerstreifen in der Nähe ist. «Vai Chica». Wir eilen über die Strasse. «Bei Strassen sind Hund und sehbehinderte Person verantwortlich», erklärt Adler, «Autos muss die blinde Person hören, Velofahrer aber muss der Hund anzeigen. Er muss stehen bleiben, auch wenn der Meister befiehlt, weiterzugehen.» Blindenführhunde müssen aussergewöhnlich selbstständig sein. Bald befiehlt Adler: «Casa Chica!» Bevor wir zurückkehren, lotst Chica mich zu einer freien Sitzbank. Dort gibt es keine Guezli für den Hund, dafür aber ein dickes Lob und eine Extraportion Streicheleinheit. Mit einem Blindenführhund können sehbehinderte Menschen selbstständig durchs Leben gehen. Der Verein für Blindenhunde und Mobilitätshilfen (VBM)... ist eine von vier Schulen, die als gemeinnützige Institution anerkannt und somit steuerfrei sind. Der VBM wurde 1986 gegründet; Sitz ist im aargauischen Magden. Gut 20 ehrenamtliche Junghundetrainer bereiten die Hunde optimal vor auf die Ausbildung. Derzeit bilden sieben Blindenführhundetrainerinnen und -trainer zehn bis fünfzehn Hunde pro Jahr aus. Rund 100 Hunde des VBM sind im Einsatz. 14 Hunde sind älter als zehn Jahre. Der VBM hat Mitglieder und ein Budget von 2,5 Millionen Franken pro Jahr. Zirka Franken bezahlt der Bund, der grosse Rest wird hauptsächlich finanziert mit Spenden und Legaten. Der VBM besitzt keine eigene Zucht, sondern arbeitet mit ausgewählten Züchtern zusammen. Die Schule des VBM ist die einzige der Schweiz ohne Zwingerhaltung. Verein für Blindenhunde und Mobilitätshilfen PC-Konto Schweizer Hunde Magazin 4/09 35