Materialien zu G. E. Lessings MISS SARA SAMPSON Schauspiel Dortmund 2010
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- Sarah Maurer
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1 Materialien zu G. E. Lessings MISS SARA SAMPSON Schauspiel Dortmund 2010 Regie: Christoph Mehler / Bühne und Kostüme: Nehle Balkhausen / Musik: Oliver Urbanski / Licht: Rolf-Dieter Giese / Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz / Mit: Jele Brückner, Ekkehard Freye, Luise Heyer, Bettina Lieder, Jakob Schneider Premiere am 2. Oktober 2010 im Studio
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3 - 3 - Die neue Zeit England. Ein Mann zwischen zwei Frauen. Der von Geldsorgen geplagte Mellefont hat sich in die junge Sara Sampson verliebt und ist mit ihr geflohen vor seiner langjährigen Geliebten Marwood und Saras Vater. Doch sie werden in dem heruntergekommenen Wirtshaus, in dem sie vorübergehend Quartier bezogen haben, nicht lange alleine bleiben. Denn Marwood und Vater Sampson haben ihre Fährte längst aufgenommen. Träumen, Schmerzen, Moralvorstellungen und Sehnsüchten prallen aufeinander: Marwood will Mellefont zurück, Sara will heiraten doch was will Mellefont? Und Saras Vater? Und dann ist da noch die kleine Arabella schrieb der damals sechsundzwanzigjährige Gotthold Ephraim Lessing dieses Liebes- und Beziehungsdrama der Jurist und Journalist Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr erinnert sich in Aufzeichnungen aus dem Jahre 1792, dass alles mit einer Wette zwischen zwei Freunden begonnen hatte: Leßing war mit Mendelsohn bey der vorstellung eines der französischen weinerlichen dramen zugegen. Der letzte zerfloß in thränen. Am ende des stücks fragte er seinen freund, was er dazu sagte? Das es keine Kunst ist, alte weiber zum heulen zu bringen, versetzte Leßing. Das ist leicht gesagt, aber nicht so leicht gethan, antwortete Mendelsohn. Was gilt die wette,
4 - 4 - sagte Leßing, in sechs wochen bringen ich ihnen ein solches stück. Sie giengen die wette ein, und am folgenden morgen war Leßing aus Berlin verschwunden. Er war nach Potsdam gereiset, hatte sich in eine dachstube eingemiethet, und kam nicht davon herunter. Nach verlauf von sechs wochen erschien er wieder bei seinem freunde, und Miß Sara Sampson war vollendet. Lessing, geboren 1729 im sächsischen Kamenz als Sohn eines Pastors, gab seinem Stück den Untertitel Ein bürgerliches Trauerspiel MISS SARA SAMPSON wird als das erste deutschsprachige Bürgerliche Trauerspiel in die Literaturgeschichte eingehen. Lessing-Experte Volker Badstübner zum Begriff: Das Bürgerliche Trauerspiel verlagert den Ort der Handlung in die Intimität des Privatbereichs. Die Trennung der Gesellschaft in einen politisch-öffentlichen und einen moralisch-privaten Bereich ist charakteristisch für das bürgerliche Gesellschaftsbild im 18. Jahrhundert. Der politisch-öffentliche Bereich wurde vom Hof repräsentiert, dem das klassizistische Drama eine seiner Repräsentationsformen war. Die politischen Machtverhältnisse und eine erstarrte feudale Sozialordnung beides nicht mehr adäquater Ausdruck der ökonomischen Erstarkung des Bürgertums verhinderten eine politische Emanzipation des Dritten Standes. Literatur und Familie waren Freiräume, in denen die bürgerlichen Ideale artikuliert bzw. praktiziert wurden, deren Realisierung im politischen Bereich vorerst noch Utopie bleiben musste. Innerlichkeit, Empfindsamkeit, Moralität bestimmten das Ethos des Bürgerlichen Trauerspiels, dem als Ideal eine harmonische Gesellschaftsordnung zugrunde liegt. Der Held ist in erster Linie Mensch, nicht Angehöriger einer sozialen Schicht. Die Gleichheit im ethischen Handeln hebt die sozialstrukturell bedingte Ungleichheit auf. MISS SARA SAMSPON bringt einen frischen Wind ins deutschen Theater, steht als Bürgerliches Trauerspiel für ein Theater, das emotional und inhaltlich näher an sein (bürgerliches) Publikum rückt, Repräsentant ist für das Zeitalter der Aufklärung, für ein neues Zeitgefühl und auch eine neue Gefühls-Zeit. Der Journalist und Regisseur Gerhard F. Hering schreibt 1979 in der Berliner Tagesszeitung Der Tagesspiegel : Ich verstand und verstehe die SARA nicht als ein Vorläuferchen von Gerhart Hauptmann, sondern als eine mächtige tragische Schicksalsfabel von den Möglichkeiten, ein Mensch zu sein in einem Netz von tragischen Verhältnissen, mit einem rapiden Sturz nicht in den Keller wehmütiger Untergänge, sondern mit einem erschütternden Aufwärts in die Versöhnung. (...) Mellefont ist bis in seinen Tod einer der frühesten Selbstanalytiker unserer Dichtung. Einer, der hineinspäht in den tiefen Schacht und Abgrund, der ein jeder von uns sich ist und bleibt. Unübersehbar werden die unterschiedlichsten Möglichkeiten der Liebe durchgespielt. Vom Entbrennen der
5 - 5 - Körper bis zur Vermählung der Seelen. Wer das kunstvoll geknüpfte Gewebe dieses meisterhaft auf sein Ende hin gebautes Stück im einzelten zu entflechten unternimmt, der staunt über die Fülle von Einsichten, die ein junges Genie hier Lessing ist sechsundzwanzig Jahre alt äußert über das Rätsel Mensch. Der Glaube an die Aufklärung, an die grundsätzliche Wichtigkeit der Freiheit, zieht sich wie ein roter Faden durch Lessings ganzes Leben. Auch mit MISS SARA SAMPSON wollte sich der junge Lessing durchaus deutlich abgrenzen und emanzipieren von herrschenden gesellschaftlichen Normen z.b., als Autor, von der damals im deutschsprachigen Theater vorherrschenden Tendenz, die französischen Tragödien als Maß aller Dinge zu sehen. In der Zeitschrift Briefe, die neueste Literatur betreffend attackiert Lessing 1759 beispielsweise den einflussreichen deutschen Literaturtheoretiker und Schriftsteller Johann Christoph Gottsched, wirft ihm eine zu große geschmackliche Nähe zu den damals auch die deutschen Bühnen dominierenden französischen Tragödien vor und macht den Vorschlag, man solle sich auf dem Weg zu einer besseren Literatur anstelle der Franzosen lieber Shakespeare zum Vorbild nehmen: Unsre Staats- und Helden-Aktionen waren voller Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz. Unsre Lustspiele bestanden in Verkleidungen und Zaubereien; und Prügel waren die witzigsten Einfälle derselben. Dieses Verderbnis einzusehen, brauchte man eben nicht der feinste und größte Geist zu sein. Auch war Herr Gottsched nicht der erste, der es einsahe; er war nur der erste, der sich Kräfte genug zutraute, ihm abzuhelfen. Und wie ging er damit zu Werke? Er verstand ein wenig Französisch und fing an zu übersetzen; (...) er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen? Eines Französierenden; (...) Er hätte aus unsern alten dramatischen Stücken, welche er vertrieb, hinlänglich abmerken können, daß wir mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen; daß wir in unsern Trauerspielen mehr sehen und denken wollen, als uns das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken gibt; daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische, besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte; daß uns die zu große Einfalt mehr ermüde, als die zu große Verwickelung etc. Er hätte also auf dieser Spur bleiben sollen, und sie würde ihn geraden Weges auf das englische Theater geführet haben. Lessing selber wählte dann auch natürlich einen anderen Schwerpunkt als die von ihm so kritisierten französischen Tragödien, in deren Focus zumeist in deutlicher Stilisierung die Welt der Götter, Könige und andere hochrangige Adlige stand: die Welt der Menschen. Lessing-Forscher Axel Schmitt: Lessings Kunstgriff in MISS SARA SAMPSON <liegt v.a. darin>, die Abkehr von der französischen tragédie classique zu einem
6 - 6 - bürgerlichen Trauerspiel mit den Mitteln der zeitgenössischen Empfindungspsychologie vollzogen zu haben. An die Stelle des überpersönlichen Schicksalsdiskurses der antiken Tragödie tritt nun die Diskursivierung der Gefühle und Empfindungen des Menschen als Konstituenten des bürgerlichen Trauerspiels. MISS SARA SAMPSON ist ein Lehrstück über die Handlungsohnmacht der mitleidigen Seele par excellence. Mit MISS SARA SAMPSON beginnt die Zeit der menschlichen Gefühle im deutschen Theater. Weitere Bürgerliche Trauerspiele folgen, z.b. EMILIA GALOTTI (ebenfalls von Lessing) oder auch Schillers KABALE UND LIEBE. Eine neue Ära hat begonnen, im Land und auch in seinen Theatern. Lessing schlägt sich für ein paar Wochen in die Büsche eines Potsdamer Gartenhauses, so Lessing-Biograph Dieter Hildebrandt, und als er zurück kehrt in die Welt, die da Berlin heißt, bringt er eine neue Gegenwart. Hat eine literarische Epoche verabschiedet und eine neue begonnen. Fotos: Seite 2: Jakob Schneider, Luise Heyer / Seite 3: Luise Heyer, Jakob Schneider, Jele Brückner Quellen: Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr, 1792, zitiert nach Richard Daunicht: DIE ENTSTEHUNG DES BÜRGERLICHEN TRAUERSPIELS IN DEUTSCHLAND. Berlin 1965 Volker Badstübner in: Wilfried Barner (u. A.): LESSING. EPOCHE-WERK-WIRKUNG. München 1981 Gerhard F. Hering im Berliner Tagesspiegel, 21. Januar 1979 Gotthold Ephraim Lessing: 17. LITERATURBRIEF. Zitiert nach LESSING: BRIEFE, DIE NEUESTE LITERATUR BETREFFEND, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur Axel Schmitt in: Gotthold Ephraim Lessing: MISS SARA SAMPSON. TEXT UND KOMMENTAR. Frankfurt/Main 2003 Theater Dortmund. Spielzeit 2010/2011. Geschäftsführende Direktorin: Bettina Pesch. Schauspieldirektor: Kay Voges. Redaktion: Anne-Kathrin Schulz. Probenfotos: Birgit Hupfeld
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