Erika Schellenberger-Diederich (Hg.) Mein Lieblingsgedicht Prominente antworten. Von Elke Heidenreich bis Richard von Weizsäcker

Transkript

1 Unverkäufliche Leseprobe Erika Schellenberger-Diederich (Hg.) Mein Lieblingsgedicht Prominente antworten. Von Elke Heidenreich bis Richard von Weizsäcker 128 Seiten, Gebunden ISBN: Verlag C.H.Beck ohg, München

2 Altwerden All der Tand, den Jugend schätzt, Auch von mir ward er verehrt, Locken, Schlipse, Helm und Schwert, Und die Weiblein nicht zuletzt. Aber nun erst seh ich klar, Da für mich, den alten Knaben, Nichts von allem mehr zu haben, Aber nun erst seh ich klar, Wie dies Streben weise war. Zwar vergehen Band und Locken Und der ganze Zauber bald; Aber was ich sonst gewonnen, Weisheit, Tugend, warme Socken, Ach, auch das ist bald zerronnen, Und auf Erden wird es kalt. Herrlich ist für alte Leute Ofen und Burgunder rot Und zuletzt ein sanfter Tod Aber später, noch nicht heute. Hermann Hesse ( ) 13

3 Ihm verdanke ich so manches meiner «Lieblingsgedichte»: Hermann Hesse. Er war der erste, der mir schon in jungen Jahren unsere Endlichkeit beinahe versöhnlich nahebringen konnte. Er blieb mir bis heute ein verlässlicher, Mut machender, gedanklicher Wegbegleiter beim Durchschreiten der Lebensräume. Ausgehend von «Stufen» habe ich bei ihm immer wieder das selbstverständliche Miteinander von Lebenslust und Lebensernst gefunden, eingefangen in schlichten, ergreifenden, schmunzelnd befreienden Worten. Mit diesem soeben entdeckten Hesse-Gedicht schaue ich getrost in den nächsten Lebensraum, an dessen Anfang ich nun stehe und den ich wie die bisherigen möglichst lange bewusst und dankbar durchschreiten möchte. Rolf Zuckowski 14

4 An die Freude Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken Himmlische, dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, Was der Mode Schwert geteilt; Bettler werden Fürstenbrüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Chor Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen. Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein; Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wers nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund! 15

5 Chor Was den großen Ring bewohnet, Huldige der Sympathie! Zu den Sternen leitet sie, Wo der Unbekannte thronet. Freude trinken alle Wesen An den Brüsten der Natur, Alle Guten, alle Bösen Folgen ihrer Rosenspur. Küsse gab sie uns und Reben, Einen Freund, geprüft im Tod. Wollust ward dem Wurm gegeben, Und der Cherub steht vor Gott. 16

6 Chor Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahndest du den Schöpfer, Welt? Such ihn überm Sternenzelt, Über Sternen muß er wohnen. Freude heißt die starke Feder In der ewigen Natur. Freude, Freude treibt die Räder In der großen Weltenuhr. Blumen lockt sie aus den Keimen, Sonnen aus dem Firmament, Sphären rollt sie in den Räumen, Die des Sehers Rohr nicht kennt! Chor Froh, wie seine Sonnen fliegen, Durch des Himmels prächtgen Plan, Laufet, Brüder, eure Bahn, Freudig wie ein Held zum Siegen. Aus der Wahrheit Feuerspiegel Lächelt sie den Forscher an. Zu der Tugend steilem Hügel Leitet sie des Dulders Bahn. Auf des Glaubens Sonnenberge Sieht man ihre Fahnen wehn, Durch den Riß gesprengter Särge Sie im Chor der Engel stehn. 17

7 Chor Duldet mutig, Millionen! Duldet für die beßre Welt! Droben überm Sternenzelt Wird ein großer Gott belohnen. Göttern kann man nicht vergelten, Schön ists, ihnen gleich zu sein. Gram und Armut soll sich melden, Mit den Frohen sich erfreun. Groll und Rache sei vergessen, Unserm Todfeind sei verziehn, Keine Träne soll ihn pressen, Keine Reue nage ihn. Chor Unser Schuldbuch sei vernichtet! Ausgesöhnt die ganze Welt! Brüder überm Sternenzelt Richtet Gott, wie wir gerichtet. Freude sprudelt in Pokalen, In der Traube goldnem Blut Trinken Sanftmut Kannibalen, Die Verzweiflung Heldenmut Brüder, fliegt von euren Sitzen, Wenn der volle Römer kreist, Laßt den Schaum zum Himmel sprützen: Dieses Glas dem guten Geist. 18

8 Chor Den der Sterne Wirbel loben, Den des Seraphs Hymne preist, Dieses Glas dem guten Geist Überm Sternenzelt dort oben! Festen Mut in schwerem Leiden, Hülfe, wo die Unschuld weint, Ewigkeit geschwornen Eiden, Wahrheit gegen Freund und Feind, Männerstolz vor Königsthronen, Brüder, gält es Gut und Blut Dem Verdienste seine Kronen, Untergang der Lügenbrut! Chor Schließt den heilgen Zirkel dichter, Schwört bei diesem goldnen Wein: Dem Gelübde treu zu sein, Schwört es bei dem Sternenrichter! Rettung von Tyrannenketten, Großmut auch dem Bösewicht, Hoffnung auf den Sterbebetten, Gnade auf dem Hochgericht! Auch die Toten sollen leben! Brüder trinkt und stimmet ein, Allen Sündern soll vergeben, Und die Hölle nicht mehr sein. 19

9 Chor Eine heitre Abschiedsstunde! Süßen Schlaf im Leichentuch! Brüder einen sanften Spruch Aus des Totenrichters Munde! Friedrich Schiller ( ) Die 9. Sinfonie des Komponisten Ludwig van Beethoven mit ihrer imposanten Melodie und ihrem wunderbaren Text ist ein lyrisches und musikalisches Meisterwerk. Mich bewegt die Symbolkraft der Worte, die ein freudiges und friedvolles Miteinander ausdrücken ein Miteinander aller Menschen dieser Erde. Nicht umsonst hat dieser zukunftsweisende Grundgedanke die Europäische Union dazu bewogen, Beethovens 9. Sinfonie als Europahymne zu etablieren. Mit Wien, der traumhaften Stadt, in der Beethoven seine 9. Sinfonie vollendet hat, verbinden mich auch persönlich freudige Augenblicke. Die Lyrik und die Komposition stimmen versöhnlich und lassen auf eine friedvolle Zukunft hoffen. Charlotte Knobloch 20

10 An Zimmer n Die Linien des Lebens sind verschieden Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen. Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden. Friedrich Hölderlin ( ) Die späten Gedichte Friedrich Hölderlins las ich erst, als ich den Plan fasste, über ihn zu schreiben. Die großen Hymnen und Oden verstellten mir gleichsam den Weg zu ihnen. Die «Turmgedichte» während der Arbeit an dem Manuskript verfi el ich ihrer Lakonie, ihrer Bilderkraft. Nur mit Mühe lerne ich Gedichte auswendig. Doch den Vierzeiler, den der alternde Turminsasse für seinen Pfl eger, den Schreinermeister Ernst Zimmer schrieb, konnte ich im Nu. Vielleicht brauchte das philosophische Arioso des ersten Verses unbedingt seine Fortsetzung. Seither redet der Vierzeiler mit mir. Oder rufe ich ihn mir ins Gedächtnis? Es ist gleich. Er ist da. Er spricht für mich. Er spricht mich aus. Peter Härtling 21