1.7 Theodor Fontane: Die Brück am Tay
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- Ralf Holtzer
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1 1.7 Theodor Fontane: Die Brück am Tay Theodor Fontane, 1819 in Neuruppin geboren, entstammt einer Hugenottenfamilie. Wie sein Vater übt er zunächst den Beruf des Apothekers aus, den er nach kurzer Zeit aufgibt geht er für vier Jahre als Korrespondent nach London tritt er in die Redaktion der Berliner Kreuzzeitung ein. Ab 1870 schreibt er bis zu seinem Tod 1898 Theaterkritiken für die Vossische Zeitung. Populär wird er zunächst durch seine Balladen. Von 1862 bis 1882 erscheinen seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Mit dem 1887 veröffentlichten Werk Irrungen, Wirrungen beginnt die Reihe seiner großen Romane: 1892 erscheint Frau Jenny Treibel, 1894/95 Effi Briest, 1897 Der Stechlin. Theodor Fontane ( ): Die Brück am Tay (1880) (28. Dezember 1879) 5 10 When shall we three meet again? Macbeth. Wann treffen wir drei wieder zusamm? Um die siebente Stund, am Brückendamm. Am Mittelpfeiler. Ich lösche die Flamm. Ich mit. Ich komme vom Norden her. Und ich vom Süden. Und ich vom Meer Hei, das gibt einen Ringelreihn, Und die Brücke muss in den Grund hinein. Und der Zug, der in die Brücke tritt Um die siebente Stund? Ei, der muss mit. Muss mit. Tand, Tand Ist das Gebilde von Menschenhand! * Auf der Norderseite, das Brückenhaus Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut ohne Rast und Ruh 41
2 25 Und in Bangen sehen nach Süden zu, Sehen und warten, ob nicht ein Licht Übers Wasser hin Ich komme spricht, Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug, Ich, der Edinburger Zug. 30 Und der Brückner jetzt: Ich seh einen Schein Am anderen Ufer. Das muss er sein. Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum, Unser Johnie kommt und will seinen Baum, Und was noch am Baume von Lichtern ist, Zünd alles an wie zum Heiligen Christ, Der will heuer zweimal mit uns sein Und in elf Minuten ist er herein Und es war der Zug. Am Süderturm Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm, Und Johnie spricht: Die Brücke noch! Aber was tut es, wir zwingen es doch. Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf, Die bleiben Sieger in solchem Kampf. Und wie s auch rast und ringt und rennt, Wir kriegen es unter, das Element Und unser Stolz ist unsre Brück ; Ich lache, denk ich an früher zurück, An all den Jammer und all die Not Mit dem elend alten Schifferboot; Wie manche liebe Christfestnacht Hab ich im Fährhaus zugebracht Und sah unsrer Fenster lichten Schein Und zählte und konnte nicht drüben sein. 55 Auf der Norderseite, das Brückenhaus Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu; Denn wütender wurde der Winde Spiel, Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel, Erglüht es in niederschießender Pracht Überm Wasser unten Und wieder ist Nacht. * 42
3 Wann treffen wir drei wieder zusamm? Um Mitternacht, am Bergeskamm. Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm. Ich komme. Ich mit. Ich nenn euch die Zahl. Und ich die Namen. Und ich die Qual. Hei! Wie Splitter brach das Gebälk entzwei. Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand. A. Einleitung Im Zusammenhang mit den Bemühungen um Pflege und Wiederbelebung der Ballade wurde 1827 in Berlin die literarische Vereinigung Tunnel über der Spree gegründet. Mitglied dieser Dichtergruppe, die sich unter der Führung des Moritz von Strachwitz um die Erneuerung der alten Heldenballade bemühte, war auch Theodor Fontane. In seiner späteren Balladendichtung wandte er sich von historisierenden Themen ab und aktueller Thematik zu die Rolle des Menschen in einer von der rasanten technischen Entwicklung gekennzeichneten Welt steht nunmehr für Fontane im Mittelpunkt. B. Interpretation I. Inhalt und Aufbau Fontane thematisiert in der 1880 entstandenen Ballade Die Brück am Tay das schreckliche Eisenbahnunglück, das sich in der Nacht vom 28. zum 29. Dezember 1879 ereignet hatte: Starke Winde hatten die Eisenbahnbrücke über den Firth of Tay zum Einsturz gebracht, gerade in dem Moment, als der Zug von Edinburgh sie überquerte. Etwa 100 Personen fanden bei dieser Katastrophe den Tod. Das Besondere seiner Ballade liegt darin, dass vordergründiges Geschehen in einen die allgemeine menschliche Situation beleuchtenden Zusammenhang gestellt wird. Charakteristisch für den Aufbau ist die Dreiteilung der Ballade: Die beiden Hexenszenen zu Beginn und am Schluss bilden mit der Planung des Komplotts und der triumphierenden Rückschau den Rahmen für die Darbietung der Gefühle, Hoffnungen, Erwartungen der handelnden Personen. Dieser 5 Strophen umfassende Mittelteil ist auf Spannungssteigerung hin ausgerichtet: Die gleichlautenden Verse bzw betonen die Ängste der handelnden Personen, sodass das von den Versen ausgehende Gefühl der Sicherheit pointiert in seiner ganzen Fragwürdigkeit erscheint. 43
4 Die die Ballade einleitende Hexenszene bildet den Hintergrund, vor dem sich das Geschehen abspielt. Fontanes Rückgriff auf die entsprechenden Szenen in Shakespeares Macbeth (I, 1; I, 3) schafft gleich zu Beginn eine Atmosphäre des Unheimlichen, Gespenstischen, verstärkt durch den Kunstgriff des Dichters, die Hexen zu entpersönlichen und damit auf eine Zuordnung der Aussage zu der jeweiligen Hexe zu verzichten. Dadurch entsteht ein Gewirr von Stimmen, aus verschiedenen Richtungen kommend, vom Norden, vom Süden und vom Meer. Es sind die Stürme, die gemeinsam die Brücke attackieren wollen, sich zu einem Ringelreihn der Zerstörung am Brückendamm und am Mittelpfeiler treffen wollen. Die Katastrophe ist unvermeidlich, nicht vom Menschen zu beeinflussen. Das Stimmengewirr der Hexen schafft eine ungeheure Spannung, gleichzeitig weist es auf Ort, Zeit und Ablauf der Handlung hin. II. Aussage Entscheidend für das Verständnis der Ballade ist die Tatsache, dass die Hexen gewissermaßen Sprachrohr für ein dem Menschen feindlich gesonnenes Schicksal sind, dass sie ihm seine Ohnmacht gerade in dem Augenblick vor Augen führen, wo er durch den Einsatz moderner Technik die ihm von der Natur gesetzten Grenzen glaubt überschreiten zu können. Menschlicher Forscherdrang darf sich nicht von dem Gefühl leiten lassen, dass der Mensch als autonomes Wesen selbstbestimmt handeln kann; er unterliegt Mächten, die sein Geschick steuern. Wie wir selbst, ist auch das von uns Geschaffene vergänglich: Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand! (V. 17/18 Schlussverse) Der Lokomotivführer Johnie, Sohn der Brücknersleut, strahlt grenzenlosen Optimismus aus, ist die Verkörperung des Gefühls menschlicher Allmacht. In vollem Vertrauen auf seine eigene Kraft, auf die Zuverlässigkeit seiner Maschine (V. 39), ist er davon überzeugt, dem Wüten der Naturgewalten standhalten zu können. Die Lokomotive selbst ist Teil der Handlung (V ), lässt Johnies Zuversicht als gerechtfertigt erscheinen (V. 42) Im Zusammenspiel mit der Technik ist der Mensch in neue, bisher ungeahnte Dimensionen vorgestoßen (V. 44). Johnies Preis der Technik und des durch sie ermöglichten Fortschritts wird durch die Angst der Eltern, besonders der Mutter, relativiert. Sie verkörpern die kleinbürgerliche Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts rührend in ihrer Sorge um den Sohn, traditionellen Werten verhaftet (V ). Die Zerstörung dieser Idylle sowie die Vernichtung der Illusion von der absoluten Beherrschung der Technik durch den Menschen erfolgt aus dem Blickwinkel der Eltern: Denn wütender wurde der Winde Spiel (V. 55) sie ahnen, dass ein Katastrophe unmittelbar bevorsteht. Die Natur spielt mit dem Menschen, der den hinter den Erscheinungen stehenden Elementarkräften 44
5 schutzlos ausgeliefert ist. An die Stelle des heldischen Kampfes, wie er sich in den Balladen eines Moritz von Strachwitz zeigt, ist in dieser Ballade die absolute Hilflosigkeit des Menschen getreten, seine Ohnmacht gegenüber Kräften, die sich jedem Zugriff, jeder Einflussnahme entziehen. Was uns Fontane in dieser Ballade vor Augen führt, ist unser aller Los daher geht er im Zusammenhang mit der Katastrophe nicht auf Einzelschicksale ein. Was unser Leben bestimmt, bleibt im Dunkeln: Und wieder ist Nacht (V. 58). III. Sprache und Form Die zwei sich in der Ballade gegenüberstehenden Bereiche des Numinosen und des Menschlichen werden von Fontane sprachlich unterschiedlich gestaltet. Charakteristisch für die an einen dramatischen Dialog erinnernden Strophen 1 und 7 ist das Aufbrechen der Verszeilen und der dadurch bewirkte Eindruck des Musikalischen, Tänzerischen. Wortfetzen, Ellipsen ( Ich mit Muss mit ), Ausrufe und Fragesätze, parallele Satzbildungen Ich komme vom Norden her Und ich von Süden Und ich vom Meer verleihen dem ersten Teil der 1. Strophe, der mit dem Versen Hei das gibt einen Ringelreihn/ Und die Brücke muss in den Grund hinein (V. 11/12) endet, einerseits etwas Spielerisches, andererseits jedoch stellt sich beim Leser das Gefühl von etwas Gespenstischem, Geisterhaftem ein, bedingt durch die schrillen i- und ei-laute, sodass man von Beginn an nicht an einen harmlosen, kindlichen Ringelreihn zu glauben vermag. Das Gefühl einer bevorstehenden Bedrohung wird durch die inhaltlich zunächst nicht einzuordnende Bemerkung: Ich lösche die Flamm (V. 6) verstärkt. Der dann im 2. Teil der 1. Strophe erkennbare unbedingte Zerstörungswille der Schicksalsmächte äußert sich sprachlich in dem anaphorischen Satzbau und der geballten Aufeinanderfolge stimmloser Konsonanten: muss in den Grund muss mit Muss mit (V. 12, 15 f.). Die letzte Strophe, die Rückschau der Hexen auf das vollbrachte Zerstörungswerk, beginnt mit ihrer erneuten Verabredung. Das Dämonische, Unheimliche wird stärker als in der 1. Strophe betont: Um Mitternacht werden sie wieder zusammentreffen, in einer typischen Hexenlandschaft, auf hohem Berg, im Moor es ist eine dem Menschen feindlich gesonnene Welt. Nur ganz knapp weisen sie auf die Katastrophe hin: Die betonten Reimwörter Zahl Qual verdeutlichen das Ausmaß der Leidens; als ob Feuer vom Himmel fiel (V. 56) erinnert in der Formulierung an die in der Bibel geschilderte Zerstörung von Sodom und Gomorrha (I. Buch Moses, 18, 20 ff.; 19, 1 26) über die Menschen ist ein göttliches Strafgericht hereingebrochen. Das letzte Wort in dem Gedicht haben die dämonischen Kräfte: Menschliches Leid bereitet ihnen Vergnügen, ist für sie ein bloßer Ringelreihn. Schadenfreude verrät das Hei!, triumphierend klingt Vers 69 mit seinen vier Hebungen: Wie Splitter brach das Gebälk entzwei. 45
6 Der jeweils letzte Vers der beiden das Geisterhafte, Numinose betonenden Strophen verleiht dem nach Raum und Zeit bestimmten Vorgang Allgemeingültigkeit. Die tontragenden alliterierenden Worte Tand, Tand weisen in Verbindung mit dem durch Betonung und Schluss-Stellung hervorgehobenen Menschenhand auf die Nichtigkeit unseres Tuns hin, Die dreimalige Aufeinanderfolge der and -Klänge hebt lautmalerisch die für die Ballade entscheidende Aussage nochmals hervor. Der das Verhalten und die Empfindungen der Personen thematisierende Mittelteil (Strophen 2 bis 6) ist sprachlich in Abhängigkeit von den Gefühlen der Handlungsträger gestaltet. In Strophe 2 spiegelt die Ellipse der ersten Verszeile die Unruhe der Brücknersleut wieder, verstärkt durch die Alliteration der synonymen Doppelformel ohne Rast und Ruh (V. 21). Die Anaphora der Verse 21/22: Und die Brücknersleut /Und in Bangen heben die Angst der Eltern hervor, ebenso wie das mehrfach wiederholte sehen sehen nach und die Verbindung sehen und warten (V. 23) man spürt, wie die Eltern von bösen Vorahnungen heimgesucht werden. Der Imperativ in Vers 28 ist Beleg für den Versuch des Vaters, der Furcht Herr zu werden der Vers Und in elf Minuten ist er herein (V. 34) wirkt gewollt optimistisch. Die ungeheure Wucht der Elemente wird durch die alliterierenden klangmalenden Verben rast und ringt und rennt (V. 41) hervorgehoben. Die sehr knappe sprachliche Gestaltung der Katastrophe führt uns vor Augen, dass Worte nicht ausreichen, um das Unfassbare zu schildern Und wieder ist Nacht (V. 58). Im Bruchteil einer Sekunde ist der menschliche Traum von der Beherrschung der Technik zerstoben die lange Pause vor der Finsternis der Nacht unterstreicht diesen jähen Umschlag. C. Schluss Die zu Beginn der Ballade von der Hexe geäußerte Absicht: Ich lösche die Flamm (V. 6) erhält am Ende für den Leser ihre wahre Bedeutung: Ausgelöscht ist das Feuer auf dem Rost der Lokomotive, ausgelöscht die Flamme des Lebens, ausgelöscht das Feuer des Prometheus hier in Verbindung zu bringen mit dem Licht und Schein der Lokomotive, das dieser den Menschen brachte, um sie vom Willen der Götter unabhängig zu machen: Der Mensch ist ihnen auf ewig unterworfen. 46
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