SWR2 Musikstunde

Transkript

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2 2 SWR2 Musikstunde Mit Stephan Hoffmann Junge Hure alte Betschwester Die unterschiedlichen Seiten des Paul Hindemith Folge 4: Hindemith, der Musikpraktiker Der Arbeitsausschuss der ersten Donaueschinger Kammermusik-Aufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst im Jahre 1921 hatte reichlich zu tun. 137 Komponisten hatten insgesamt über 600 Werke eingesandt in der Hoffnung, dass man sie während des Donaueschinger Festivals aufführen würde. Der Arbeitsausschuss hatte jetzt zu entscheiden, welche Werke das sein sollten. Er entschied sich für zehn allesamt junge Komponisten, einer davon war Paul Hindemith, dessen drittes Streichquartett opus 16 zur Uraufführung vorgesehen war. Nun ist dieses Streichquartett kein ganz leichtes Stück, die Probenzeit wurde knapp, kurz: das Havemann-Quartett um den Geiger Gustav Havemann, das die Hindemith- Uraufführung spielen sollte, weigerte sich: das Stück sei für die kurze Probenzeit viel zu schwierig. Als Alternative schlug Havemann ein anderes Streichquartett vor, das leichter zu realisieren sei. Da hatte er allerdings seine Rechnung ohne Hindemith gemacht. Der gründete kurzerhand das Amar-Quartett mit Hindemith selbst an der Bratsche, seinem Bruder Rudolf am Cello und den beiden Geigern Licco Amar und Walter Caspar. Hindemith war ein vorzüglicher Streicher, als Geiger war er acht Jahre lang Konzertmeister des Frankfurter Opernorchesters gewesen, inzwischen hatte er sich auf die Bratsche verlegt. Die Uraufführung von Hindemiths drittem Streichquartett konnte also planmäßig am ersten August 1921 stattfinden, sie bescherte dem 26jährigen Komponisten den internationalen Durchbruch, dem offenbar überforderten Havemann-Quartett eine kleine Blamage und dem eher aus Verlegenheit gegründeten Amar-Quartett eine internationale Karriere Musik 1: Paul Hindemith, 3. Streichquartett op Satz. Buchberger-Quartett. Auf: 75 Jahre Donaueschinger Musiktage. Col legno WWE CD 1, Tr. 3. Dauer: 7 15 (unter Beifall ausblenden) Das Buchberger Quartett spielte den letzten Satz aus Paul Hindemiths drittem Streichquartett opus 16.

3 3 Hindemith war schnell: Schnell bei der Organisation scheinbarer Unmöglichkeiten wie der Gründung des Amar-Quartetts, um die Uraufführung dieses Streichquartetts zu ermöglichen; schnell war auch seine Karriere im Musikbetrieb: Schon drei Jahre nach dieser Uraufführung war er Mitglied im dreiköpfigen Arbeitsausschuss, der über das Programm der Donaueschinger Kammermusiktage entschied und der damit eine außerordentlich wichtige Stellung im zeitgenössischen Musikleben innehatte. Und ungewöhnlich schnell war Hindemith schließlich als Komponist: Im Januar 1934 spielte er in London seine Bratschen-Solosonate opus 25 für die Schallplatte ein. Als die Aufnahme fertig war, stellte sich heraus, dass auf der Platte noch etwa vier Minuten Musik fehlten. Hindemith erzählt, wie er auf dieses Defizit reagierte: Am 23. Januar, um 5 Uhr morgens habe ich begonnen, das Stück zu komponieren, um 8 Uhr 20 war es fertig abgeschrieben, um 9 Uhr habe ich mit Feuermann bei der Columbia die Aufnahme gespielt. Es handelte sich um das Duett für Bratsche und Violoncello, Hindemiths Partner war der Cellist Emanuel Feuermann. Musik 2: Paul Hindemith, Scherzo für Viola und Cello. Paul Hindemith, Viola; Emanuel Feuermann, Violoncello. Archiv-Nr CD 1, Tr. 6. Dauer: 3 22 Paul Hindemith, Viola, und Emanuel Feuermann, Violoncello, spielten Hindemiths Duett für diese beiden Instrumente. Es gibt eine Seite an Hindemith, die nicht ganz leicht mit dem Bratschen-Virtuosen oder mit dem weltberühmten Komponisten in Verbindung zu bringen ist: sein Interesse an der Laienmusik, also an einer Musik, die auch von nicht-professionellen Musikern aufgeführt werden konnte. Die Ursache dieses Interesses liegt allerdings auf der Hand: Hindemith und mit ihm viele andere wollten die Kluft zwischen der Kunstmusik und den Menschen überbrücken. Das mag blauäugig gewesen sein, und der berühmte Streit zwischen Hindemith und dem Philosophen Theodor W. Adorno hat genau darin seinen Grund, dass Adorno eben diese Art von Laienmusik, zu der auch die Hinwendung zur Jugendmusikbewegung gehörte, für ein völlig untaugliches Mittel hielt. Hindemith dagegen glaubte fest daran, dass die Kunstferne großer Bevölkerungsteile mit Hilfe von Laienmusik überwunden werden könne. Denn, wie Hindemith schreibt, die wichtigste Frage des heutigen Musiklebens sei die Verbindung von Volk und Kunst. Hindemith war davon überzeugt, dass das

4 4 Konzert in seiner heutigen Form eine Einrichtung ist, die bekämpft werden muss. Er wollte stattdessen versuchen, die fast verloren gegangene Gemeinschaft zwischen Ausführenden und Hörern wieder herzustellen. Um dies zu erreichen, tat er sich zusammen mit dem Musikpädagogen Edgar Rabsch, der am Internat in Plön in Schleswig-Holstein unterrichtete. Hindemith, immerhin ein international bekannter Komponist und Interpret, verabredete mit Rabsch, nach Plön zu kommen und mit den dortigen Schülern einen ganzen Tag musikalisch zu gestalten, eben den Plöner Musiktag. Das begann mit einer Morgenmusik für Blechbläser, dann folgte die Tafelmusik, eine Nachmittags-Kantate und schließlich ein Abendkonzert alles komponiert von Hindemith und im Schwierigkeitsgrad an die Möglichkeiten der Schüler angepasst. Hindemith selbst leitete die zweitägigen Proben in Plön; für einige unmusikalische Kinder, die furchtbar enttäuscht waren, weil sie eigentlich nicht mitspielen sollten, schrieb er eigens eine extrem einfache Schlagzeugstimme; am 20. Juni 1932 fand dieser wohl einmalige Musiktag statt; ein ganzer Tag voller Musik, eigens für diesen Anlass geschrieben von einem der renommiertesten Komponisten Deutschlands. Hier der dritte Satz aus der Morgenmusik. Musik 3: Paul Hindemith, Plöner Musiktag. Morgenmusik. 3. Satz: Bewegt. Archiv-Nr , Tr. 3. Dauer: Das Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf unter Leitung von Jobst Liebrecht spielte den dritten Satz aus der Morgenmusik aus Paul Hindemiths Plöner Musiktag, seiner ausführlichsten Beschäftigung mit dem Thema Laienmusik. Auch die Musiker dieses Orchesters sind jugendliche Laien, also in einer ganz ähnlichen Situation wie die Schüler in Plön damals. Und so leicht war Hindemiths Musik nun auch wieder nicht. Zwar schrieb er, er wolle an alle Ausführenden keine sehr großen technischen Anforderungen stellen. Aber er fährt fort: Trotzdem wird man von einer heute und für heutige Bedürfnisse geschriebenen Musik nicht verlangen, dass sie von jedermann vom Blatt zu spielen ist. Dem Liebhaber werden hier einige Nüsse zu knacken gegeben. Musik 4: Paul Hindemith, Plöner Musiktag. Abendkonzert. Einleitungsstück. Archiv-Nr , Tr. 14. Dauer: 6 39

5 5 Das war noch einmal das Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf unter Jobst Liebrecht, diesmal mit dem Einleitungsstück aus dem Abendkonzert des Plöner Musiktags von Paul Hindemith. Dieser eine Tag in Plön wirkte lange nach. Dass eine solche Arbeit Früchte trägt, sehe ich immer wieder bestätigt, sagte Hindemith später. Jahraus, jahrein erhalte ich von diesen Plöner Kindern, von denen viele schon erwachsen sind, zum Teil aus allen Weltgegenden Briefe, in denen sie mir immer wieder schreiben, wie unvergesslich ihnen diese Tage seien. Zu den vielen Seiten des Künstlers Hindemith gehört auch seine Tätigkeit als Dirigent. Schon 1916 damals lebte er als 21jähriger in Frankfurt am Main hatte er die Uraufführung seines Es-Dur-Cellokonzerts opus 3 dirigiert und seitdem immer wieder Orchester geleitet neben seiner wichtigsten Interpreten-Tätigkeit als weltweit gefragter Bratscher. Natürlich galten seine Dirigate vor allem seinem eigenen Werk, für dessen Entstehung er ganz ähnlich wie Hans Pfitzner einen visionsähnlichen Inspirationsmoment verantwortlich machte. Eines seiner Werke heißt auch so: Nobilissima Visione. Wir alle kennen den Eindruck, den während eines nächtlichen Gewitters ein heftiger Blitzstrahl auf uns macht. Im Zeitraum einer Sekunde sehen wir eine weite Landschaft, nicht nur in ihren allgemeinen Umrissen, sondern in jeder Einzelheit...Musikalische Kompositionen müssen auf dieselbe Weise erschaut werden. Inhaltlicher Hintergrund von Nobilissima Visione sind Giottos Fresken über das Leben des heiligen Franz von Assisi in der Kirche Santa Croce in Florenz. Hindemith sah diese Fresken und schleppte unverzüglich den Choreographen und Tänzer Leonide Massine in die Kirche, damit er die Fresken auch sehen sollte. Denn Hindemith schwebte ein Ballett über das Leben des heiligen Franz vor. Hier der zweite Satz der Nobilissima Visione -Suite. Die Aufnahme mit dem Philharmonia-Orchester unter Paul Hindemith entstand Musik 5: Paul Hindemith, Nobilissima Visione-Suite. Marsch und Pastorale. Archiv-Nr Tr. 8. Dauer: Das Philharmonia-Orchester unter Leitung von Paul Hindemith spielte den zweiten Satz aus dessen Suite Nobilissima Visione. Hindemith dirigierte aber nicht nur seine eigenen Werke, er betätigte sich auch als ganz normaler Dirigent; schließlich hatte er seine musikalische Laufbahn als Interpret begonnen, als Konzertmeister der Frankfurter Oper und als Bratscher im

6 6 Amar-Quartett; und in beiden Funktionen spielte er eben das Repertoire, das jeweils gefordert war. Das gleiche tat er auch als Dirigent. Mit dem Amar-Quartett spielte er Dvorak und Verdi, Mozart und Beethoven ohnehin; mit Hindemith als Dirigent gibt es Aufnahmen von Brahms und Bruckner, auch von ganz alter Musik, etwa von Perotin, der um 1200 lebte und als Erfinder der Drei- und Vierstimmigkeit gilt, aber bis heute im Musikleben außerhalb von Spezialistenzirkeln praktisch keine Rolle spielt; für Hindemith schon. Einer der Komponisten, die Hindemith besonders gern und häufig aufführte, weil er ihn auch besonders verehrte, ist Wolfgang Amadeus Mozart. Es gibt eine Aufnahme von Mozarts d-moll-klavierkonzert, entstanden 1957 beim Festival von Montreux. Solistin ist die große Clara Haskil, die übrigens genauso alt ist wie Hindemith. Die Aufnahme hat inzwischen Kultstatus. - Musik 6: Wolfgang Amadeus Mozart, Klavierkonzert d-moll. 3. Satz (Rondo). Archiv-Nr Tr. 6. Dauer: 7 26 (unter Beifall wegblenden) - Sie hörten Clara Haskil, Klavier, und das Orchester von Radio France unter Paul Hindemith mit dem Finalsatz aus Mozarts d-moll-klavierkonzert KV 466. Hindemith hat viel dirigiert; aber noch mehr hat er Bratsche gespielt; obwohl er zunächst als Geiger ausgebildet wurde und arbeitete, war die Bratsche seit den 1920er Jahren sein Instrument. All seine Bratschenwerke und die schrieb er besonders zahlreich komponierte er zunächst für sich selbst. Darunter ist auch einer der Klassiker für dieses Instrument: Der Schwanendreher. Konzert nach alten Volksliedern für Viola und kleines Orchester, wie der vollständige Titel lautet. Wahrscheinlich jeder professionelle Bratscher hat dieses Werk irgendwann einmal gespielt. Hindemith hat dem Schwanendreher ein mittelalterliches Bild mitgegeben: Ein Spielmann kommt in frohe Gesellschaft und breitet aus, was er aus der Ferne mitgebracht hat: ernste und heitere Lieder, zum Schluss ein Tanzstück. Nach Einfall und Vermögen erweitert und verziert er als rechter Musikant die Weisen, präludiert und phantasiert. Jedem der drei Sätze liegt ein mittelalterliches Volkslied zugrunde. Der Rückzug aufs alte deutsche Volkslied hat wohl auch mit innerer Emigration zu tun: Der Schwanendreher entstand 1935, also genau in der Zeit, in der Hindemith in Deutschland mehr und mehr zur persona non grata wurde. Die Uraufführung durch den Komponisten fand in Amsterdam statt, Hindemith spielte das Werk aber auch auf den vielen Auslands-Tourneen, die er in diesen Jahren unternahm. Zum Beispiel

7 7 auch bei seinem ersten USA-Besuch Fünfmal spielte er dort den Schwanendreher in Konzerten, mindestens einmal am selben Abend kombiniert mit der Sinfonie Mathis der Maler, die Hindemith dirigierte. Vorträge hielt er auf dieser Reise auch, sodass die Amerikaner ihn gleich als komplette Musiker-Persönlichkeit kennen lernen konnten: als Komponisten, als Bratscher, als Dirigenten und als Wissenschaftler. Hier der dritte Satz des Schwanendrehers, die Variationen über das Lied Seid ihr nicht der Schwanendreher? - Musik 7: Paul Hindemith, Der Schwanendreher. Dritter Satz. Tabea Zimmermann, Viola; Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks. Dir: David Shallon. Archiv-Nr Tr. 6 (auf Ende einblenden). Komplett 8 49