pro natura magazin Spezial Fledermäuse: Heimliche Heldinnen der Nacht

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1 pro natura magazin Spezial 2012 Fledermäuse: Heimliche Heldinnen der Nacht

2 Dietmar Nill Nicole Bass, Redaktorin Christoph Mächler Die längsten Ohren der Welt An dieser Stelle sollte ich Ihnen eigentlich ein Erlebnis aus meiner Kindheit erzählen. Wie sich das für ein Editorial so gehört. Aber beim besten Willen: An eine Begegnung mit einer Fledermaus kann ich mich nicht erinnern. Meine Lieblingstiere waren Elefanten und Löwen. Je exotischer, desto besser. Hätte ich damals schon das Braune Langohr (Plecotus auritus) gekannt, wären meine Favoriten wohl ernsthaft in Bedrängnis geraten. Kein anderes Tier hat im Verhältnis zum Körper längere Ohren als die Langohren: vier Zentimeter Ohren auf fünf Zentimeter Körperlänge. Da können Elefanten einpacken. Aber das ist noch nicht alles. Das Tier des Jahres beherrscht Loopings und den Rüttelflug. Wie ein Turmfalke kann es an Ort und Stelle flattern und dabei Nachtfalter von Bäumen und Sträuchern pflücken. Seinen riesigen Ohren entgeht auch nicht das leiseste Krabbelgeräusch. Wer sich bewegt, wird geschnappt. Tausende von Insekten verschwinden so in seinem Magen, in einer einzigen Nacht. Kein Wunder, spielen Fledermäuse in unserer Natur eine wichtige Rolle und werden auch «Vögel der Nacht» genannt. Falls Sie diese unscheinbaren Heldinnen bis jetzt ebenso verpasst haben wie ich, wünsche ich Ihnen viele Entdeckungen bei der Lektüre dieses Magazin Spezial über Fledermäuse. 2 pro natura magazin Mitgliederzeitschrift von Pro Natura Schweizerischer Bund für Naturschutz von der Zewo als gemeinnützig anerkannt. Impressum:. Beilage zum Pro Natura Magazin 2/2012. Das «Pro Natura Magazin» erscheint fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN Idee und Konzept, Chefredaktion: Nicole Bass. Mitarbeit an dieser Ausgabe: Bastien Amez-Droz, Michael Casanova, Nicolas Gattlen, Marcel Liner, Susanna Meyer, Urs Tester. Redaktion: Nicole Bass (Deutsch), Florence Kupferschmid-Enderlin (Französisch), Luca Vetterli, Serena Wiederkehr (Italienisch). Fachlektorat: Hubert Krättli, Hans-Peter Stutz, Urs Tester. Bildredaktion: Nicole Bass. Illustration: Res Zinniker. Layout/DTP: Birgit Leifhelm, Nicole Bass. Lithos und Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Auflage: ( deutsch, französisch, 3200 italienisch). Anschrift: Pro Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel (9 12 und Uhr), Fax , mailbox@pronatura.ch; PK Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutzunion IUCN und Schweizer Mitglied von Friends of the Earth International. Titelfotos: Dietmar Nill (vorne), Thomas Stephan

3 4 6 8 Die Unbekannte. Fledermäuse sind faszinierende Wesen der Nacht. Die Vielfalt. In der Schweiz sind rund 30 Fledermausarten zu Hause. Die Jagd. Von Pirouetten, Loopings und anderen Kunststücken. Sind Fledermäuse fliegende Mäuse? Mit einer Maus haben Fledermäuse, bis auf das Fell und den Namen, nicht viel gemein. Sie bilden eine eigene Ordnung: die Fledertiere (Chiroptera). Diese sind die einzigen Säugetiere, die aktiv fliegen können. Mäuse hingegen zählen zu den Nagetieren (Rodentia), der weltweit artenreichsten Säugetierordnung Das Fledermausjahr. Mehrmals im Jahr wird die Wohnung gewechselt. Die Reportage. Mit Hansueli Alder im Rheinhardwald bei Schaffhausen. Das Interview. Was unsere Wälder fledermausfreundlich macht. Der Schutz. Pro Natura fördert vielfältige und vernetzte Landschaften. Das Rätsel. Für grosse und kleine Schlaumeier. Der Tipp. Biodiversität im Alltag und Fledermäuse auf Papier. 3

4 Die unbekannten Nachbarn Fledermäuse sind nachtaktiv. Tagsüber verkriechen sie sich in Ritzen und Spalten, manche wohnen unbemerkt in unseren Häusern. Wer sind diese sonderbaren Wesen, nicht Vogel und nicht Maus? War das eben eine Fledermaus? zenden, womöglich Hunderten schrieb der Naturforscher Kon- Oder bloss ein Vogel, der zwei- Artgenossen? rad Gesner im 16. Jahrhundert. mal um die Gartenleuchte und dann knapp über unsere Köp- Die Fledermaus ist der mysteriöse Nachbar. Man bekommt Fliegen mit den Händen fe hinweg flitzte? Wir konnten sie kaum zu Gesicht, weil sie Doch der Schein trügt. Fleder- das Flügelwesen nicht erken- in der Nacht jagt und tagsüber mäuse gehören zur Ordnung nen. Zurück bleibt an diesem in einem Versteck ruht. In Fil- der Chiroptera «Handflügler». Sommerabend ein dumpfes, un- men und auf Fotos erkennt man: Diese haben als einzige Säuge- heimliches Gefühl. Was wollte ein pelziges Wesen mit schar- tiere die Fähigkeit zum aktiven das Tier in unserem Garten? Wo- fen Zähnen, kleinen Augen und Flug entwickelt. Wohl sind auch her kam es so plötzlich wie es weit gespannten Flughäuten. Flughörnchen oder die Riesen- wieder verschwand? Kam es aus «Ein Mittelthier zwischen dem gleitflieger fähig, von einem unserem Dach geflogen? Oder Vogel und der Mauss, also dass Baum abzuspringen und mit ih- hat es sich im nahen Wald ein- man sie billich eine fliegen- ren Flughäuten bis zu 100 Me- 4 gerichtet, zusammen mit Dut- de Mauss nennen kann.» Das ter weit zu segeln. Aber sie kön- Pro Natura Pro Natura Magazin Magazin Spezial Spezial

5 Sind Fledermäuse blutsaugende Vampire? Von den weltweit fast 1200 bekannten Fledertierarten ernähren sich gerade mal drei südamerikanische Arten vom Blut anderer Säugetiere und Vögel. Dazu ritzen sie mit ihren Zähnchen ein kleines Loch in die Haut ihrer Opfer und lecken 20 bis 30 Milliliter Blut. In Südosteuropa kursieren schon lange Legenden von «Vampiren» (ein serbisches Wort) ganz unterschiedlicher Gestalt: Graf Dracula, Wölfe, Eulen und selten auch Fledermäuse. Die «Vampirfledermäuse» haben ihren Namen also von der Sagengestalt und nicht umgekehrt. nen nicht aktiv mit den Flügeln schlagen und wieder an Höhe gewinnen. Das ist ein Privileg der Fledermäuse und Flughunde. Mit Mittelhand- und Fingerknochen spannen sie ihre elastischen Flughäute auf. Eine weitere Besonderheit ist die Befruchtung der Fledermaus- Weibchen. Wer denkt: «Ein bisschen schwanger gibts nicht», hat die Rechnung ohne die Fledermäuse gemacht. Männchen und Weibchen können sich im Herbst Thomas Stephan Geheimnisvoll: Fledermäuse leben unerkannt ganz in unserer Nähe. der Eizelle erst im Frühling stattfindet. Die Spermien bleiben den Winter über in der Gebärmutter des Weibchens am Leben und stehen nach dem Winterschlaf zur Verfügung. Sehen mit den Ohren Einmalig unter den Landtieren ist auch die Ultraschall-Orientie- den Mund oder die Nase kurze, für Menschen nicht hörbare Rufe aus und fangen das Echo mit den Ohren wieder auf. Aus den reflektierten Signalen gewinnen sie ein «Hörbild» der Umgebung, das unserem optischen Bild praktisch gleichkommt. So können Fledermäuse in raschem Flug Hindernissen ausweichen und Insekten erbeuten. Ein weiterer Vorteil: Die Echoortung hat die Fledermäuse vom Tageslicht befreit; sie ermöglicht ihnen die Jagd in der Nacht, wenn Konkurrenz (Vögel) und Feind (Greifvögel) ruhen. So konnten die Fledermäuse in 60 Millionen Jahren eine erstaunliche Vielfalt an ökologischen Nischen erobern. In den Tropen gibt es neben den Insektenjägern auch Fleisch-, Früchte- und Blattfresser. Einige der weltweit rund 1200 Fledertierarten haben sich auf Fischfang spezialisiert, andere sind reine Vegetarier. Die «Kolibris der Nacht» ernähren sich von Nektar und Blütenpollen, den sie im Rüttelflug nächtlich geöffneten Blüten entnehmen. So tragen sie zur Verbreitung vieler tropischer Pflanzen bei. NICOLAS GATTLEN arbeitet als paaren, während die Befruchtung rung. Fledermäuse stossen durch ten. Hier finden auch viele Ar- Journalist in Kaisten. 5 Pro Natura Pro Natura Magazin Magazin Spezial Spezial ten ihre Schlafquartiere und Wochenstuben für die Aufzucht der Jungen. Doch solch kleinräumige Strukturen verschwinden zusehends. Waldbesitzer fällen die Bäume im jugendlichen Alter von 100 Jahren und tolerieren keine Stämme mit Spalten oder Fäulnishöhlen. Bauern räumen ihre Weiden aus und gehen auf ihren Äckern mit Pestiziden gegen Unkraut und Insekten vor. Bei der Sanierung von Dachstöcken werden alle Zugänge verschlossen; die Fledermäuse verlieren ihre Quartiere. Das alles hat seit Mitte des 20. Jahrhunderts in ganz Mitteleuropa zu einem Rückgang der meisten Fledermausarten geführt. Was die Populationen besonders verletzlich macht: Fledermäuse haben meist nur ein Jungtier pro Jahr. Es dauert deshalb Jahrzehnte, bis sich eine geschwächte Art erholt. In der Schweiz sind die Kleine und die Grosse Hufeisennase sowie die Mopsfledermaus vom Aussterben bedroht. Viele Arten sind gefährdet, unter Schutz stehen alle dreissig. Der erste Schritt zu ihrem Schutz ist ein besseres Verständnis. Man zuckt wohl weiterhin zusammen, wenn einem nachts eine Fledermaus über den Kopf fliegt. Doch wenn man genau hinschaut, wird der Schrecken rasch der Freude weichen, der Faszination für diese einzigartigen Tiere. Fledermäuse sind bedroht Fledermäuse in der Schweiz, bis heute sind 30 Arten bekannt, ernähren sich hauptsächlich von Insekten. Sie jagen bevorzugt in Wäldern und strukturreichen Landschaften mit Hecken, Gewässern, Baumgruppen und Obstgär-

6 Von Langohren, Zwergen und Hufeisennasen Fledermaus ist nicht gleich Fledermaus: In der Schweiz wurden bisher 30 Arten nachgewiesen. So vielfältig wie ihre Namen, so unterschiedlich ihre Ansprüche an Schlafquartiere und Jagdgebiete. Die Schwindelfreie Bulldoggfledermaus Faltige Lippen, Geruch nach Maggi und ein Schwanz, der zur Hälfte aus der Flughaut ragt, machen sie unverwechselbar. Die Bulldoggfledermaus bewohnt Spalten in hohen Felswänden, an Brücken oder Hochhäusern. Nachtfalter sind die Hauptbeute dieser grossen Fledermaus, die im geradlinigen Flug bis zu 65 km/h erreicht. Die Nasenruferin Grosse Hufeisennase Ein bizarr geformtes Megaphon sitzt auf ihrer Nase. Hufeisennasen können daher auch mit vollem Mund Ultraschallrufe aussenden. Am Tag schlafen sie kopfüber in verwinkelten Dachstöcken, eingewickelt in ihre Flughaut. Thomas Stephan Dietmar Nill 6 Die Dachstock-Fledermaus: Grosses Mausohr Mausohr-Weibchen hängen dicht gedrängt von den Balken grosser Dachstühle, etwa in Kirchen. Nachts jagt das Grosse Mausohr in Wäldern mit wenig Unterwuchs und über Wiesen, wo es nach Laufkäfern und Schnaken sucht. Der Winzling Zwergfledermaus Sie passt in eine Zündholzschachtel und wiegt kaum mehr als ein Stück Würfelzucker. Die Zwergfledermaus zwängt sich tagsüber in enge Fassadenspalten. Im schnellen Zick-Zack- Flug jagt sie nachts an Waldrändern, Gewässerufern und um Strassenlaternen nach Mücken und kleinen Faltern.

7 Fledermausarten der Schweiz Familie der Hufeisennasen (Rhinolophidae) Rhinolophus Kleine Hufeisennase Grosse Hufeisennase Mittelmeerhufeisennase * Familie der Glattnasen (Vespertilionidae) Myotis Kleines Mausohr Grosses Mausohr Bartfledermaus Brandtfledermaus Nymphenfledermaus * Wimperfledermaus Fransenfledermaus Bechsteinfledermaus Wasserfledermaus Langfussfledermaus Der Superflieger Grosser Abendsegler Bereits bei Sonnenuntergang verlassen Abendsegler ihre Tagesverstecke in ehemaligen Spechthöhlen. Mit schmalen Flügeln von 40 Zentimetern Spannweite jagen sie pfeilschnell und hoch am Abendhimmel nach Fluginsekten. Das Tier des Jahres 2012 Braunes Langohr Riesige Ohren, Knopfaugen und ein flauschiges Fell. Das Braune Langohr ist eine Waldfledermaus, die tagsüber gerne in Höhlen und Spalten von alten Bäumen schläft. Seine Jungen zieht das Tier des Jahres in Baumhöhlen oder im Estrich von Gebäuden auf, häufig versteckt in Hohlräumen der Dachkonstruktion. Gejagt wird nachts im Wald, an gestuften Waldrändern, Hecken und Hochstammobstbäumen. Die wendigen Langsamflieger orten ihre Beute nicht nur via Ultraschall. Ihren Ohren, die beinahe so lang sind wie der Körper, entgeht auch nicht das leiseste Rascheln. Mit 24 Zentimetern Flügelspannweite und 5 bis 12 Gramm Gewicht zählt das Braune Langohr zu den mittelgrossen Arten. In der Schweiz ist es vom Flachland bis in die Bergregionen verbreitet. Zum Verwechseln ähnlich sehen ihm seine «Geschwisterarten» Graues Langohr und Alpenlangohr. Texte: NICOLE BASS Pipistrellus Zwergfledermaus Mückenfledermaus Rauhautfledermaus Weissrandfledermaus Nyctalus Kleiner Abendsegler Grosser Abendsegler Riesenabendsegler * Plecotus Braunes Langohr Graues Langohr Alpenlangohr Eptesicus Nordfledermaus Breitflügelfledermaus Hypsugo Alpenfledermaus Vespertilio Zweifarbenfledermaus Barbastella Mopsfledermaus Miniopterus Langflügelfledermaus * Familie der Bulldoggfledermäuse (Molossidae) Tadarida Bulldoggfledermaus * Keine Jungenaufzucht in der Schweiz nachgewiesen 7