AN DER OBERFLÄCHE VON RODIN BIS DE BRUYCKERE. DIE OBERFLÄCHE ALS BEDEUTUNGSTRÄGER IN DER SKULPTUR ON SURFACES HERAUSGEGEBEN VON SÖKE DINKLA WIENAND
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1 AN DER OBERFLÄCHE VON RODIN BIS DE BRUYCKERE. DIE OBERFLÄCHE ALS BEDEUTUNGSTRÄGER IN DER SKULPTUR ON SURFACES HERAUSGEGEBEN VON SÖKE DINKLA BEARBEITET VON THOMAS BUCHARDT UND NINA HÜLSMEIER WIENAND 2
2 GRUSSWORTE 7 AN DER OBERFLÄCHE_ON SURFACES. DIE OBERFLÄCHE ALS BEDEUTUNGSTRÄGER IN DER SKULPTUR SÖKE DINKLA 12 EINE VIELZAHL VON OBERFLÄCHEN. SKULPTUREN ZWISCHEN HANDARBEIT UND MASCHINENÄSTHETIK DIETMAR RÜBEL 28 WERKE AUGUSTE RODIN_ELISABETH GIERS 38 MEDARDO ROSSO_MARION BORNSCHEUER 40 WILHELM LEHMBRUCK_MARION BORNSCHEUER 42 CONSTANTIN BRANCUSI_MARION BORNSCHEUER 48 MAX BILL_MICHAEL KRAJEWSKI 50 MARY VIEIRA_MICHAEL KRAJEWSKI 54 JANET CARDIFF_GUIDO MEINCKE 58 JENNY HOLZER_HEIDE HÄUSLER 62 DANIEL CANOGAR_GUIDO MEINCKE 66 DOROTHEE GOLZ_NINA HÜLSMEIER 70 REBECCA HORN_GUIDO MEINCKE 72 TONY CRAGG_GUIDO MEINCKE 80 KÜNSTLERSTATEMENT_TONY CRAGG 83 CARSTEN NICOLAI_GUIDO MEINCKE 86 JULIAN OPIE_GUIDO MEINCKE 90 GEORG BASELITZ_THOMAS BUCHARDT 94 JEPPE HEIN_THOMAS BUCHARDT 98 ELINA AUTIO_NINA HÜLSMEIER 104 BERLINDE DE BRUYCKERE_ELISABETH GIERS 108 NEZAKET EKICI_FRIEDERIKE FAST 112 STELLA HAMBERG_ELISABETH GIERS 116 EVAN ROTH_ELISABETH GIERS 120 MICHAEL V.KALER_NINA HÜLSMEIER 124 HEIKE WEBER_SABINE ELSA MÜLLER 128 ANHANG 133
3 AN DER OBERFLÄCHE _ON SURFACES. DIE OBERFLÄCHE ALS BEDEUTUNGSTRÄGER IN DER SKULPTUR SÖKE DINKLA 1_Evan Roth, Dances for Mobile Phones: Paraguay, 2015, 13 Videos, präsentiert auf zwei Monitoren 1_Vgl. edu/gsas/dept/fineart/ research/mellon/mellon-surfaces.htm [abgerufen am ]. Die New Yorker Konferenz am Institute of Fine Arts im März 2015 umfasste eine thematisch und historisch weite Spanne: Sie beschäftigte sich mit dem Thema der Oberfläche in der Malerei, Skulptur, Architektur und angewandten Kunst in der Zeit zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert und fragte nach den Beziehungen zwischen Materialität, Bedeutung, Bildhaftigkeit und sinnlicher Wahrnehmung. In Norwich thematisierte das Sainsbury Institute for Art die Implikationen von Oberflächen in einem weitgefassten Rahmen historischer und philosophischer Kontexte von Verfahren der Tierpräparierung in der zeitgenössischen Kunst über Aspekte des Ephemeren bis hin zu neuen künstlerischen Gravurtechniken. 2_Vgl. Wagner, Monika: Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, und Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, hrsg. von Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt, München _Vgl. Wagner, Monika: Auseinandersetzungen mit der Schwerkraft. Materialien und Oberflächen der Skulptur, in: Skulptur Pur, hrsg. von Ulrike Lorenz, Stefanie Patruno und Christoph Wagner, Ausst.-Kat. Kunsthalle Mannheim, 2014, Heidelberg 2014, S _Wagner, Monika: Materialien als soziale Oberflächen, in: Material in Kunst und Alltag, hrsg. von Monika Wagner und Dietmar Rübel, Berlin 2002, S Wohin führt uns die Oberfläche eines Kunstwerks? Was sieht, was fühlt unser tastender Blick? Was erzählt uns die Oberfläche vom Prozess des Gemachtseins, von der Hand der Künstlerin oder des Künstlers? Welche Ideen bringt die Außenhaut eines Kunstwerks in der heutigen technologisierten Zeit hervor, und was verbirgt sich unter der Oberfläche? Diesen Fragen nähert sich die Ausstellung mit Werken von Künstlerinnen und Künstlern, die auf besondere Weise mit Materialien und der Behandlung ihrer Oberflächen arbeiten. Oberflächen bestimmen unsere Umgebung und unser Verhalten in der Welt der Dinge. Sie aktivieren unser visuelles Gedächtnis und unseren taktilen Sinn. Sie sind es, die unser Vorstellungsvermögen und unseren Erfahrungsspeicher ansprechen, Emotionen wecken und einen Prozess der Bedeutungsgenerierung in Gang setzen. Seit der Überlieferung erster Zeichnungen und Höhlenmalereien sind die Oberflächen Träger von Botschaften, in denen sich die Werte einer Kultur vermitteln. Dies gilt für die alltäglichen Oberflächen und ebenso für die Oberflächen eines Kunstwerks. Im Unterschied zu alltäglichen Materialien und Oberflächen entzieht sich das Kunstwerk allerdings der zweckrationalen Logik des Nützlichen und öffnet ein reiches Reservoir an intellektuellen und emotionalen Deutungsmöglichkeiten. In der künstlerischen Gattung der Skulptur ist die Oberfläche einer der zentralen Bedeutungsträger des Werkes. Oberflächen, ihre Beschaffenheit und Materialien sind aufgeladen mit unterschiedlichen Konnotationen. An ihnen entzünden sich nicht nur ästhetische Debatten, sondern sie vermitteln die repräsentativen Ansprüche des Werks. Für die Skulptur des 20. und 21. Jahrhunderts betreten wir mit unserer Ausstellung weitgehend Neuland. Das Thema der Oberfläche in der Kunst, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Skulptur nicht nur die künstlerische Handschrift, sondern eine Haltung zur Welt der Moderne charakterisiert hat, gewinnt gerade in den letzten Jahren an Aktualität: Es steht im Fokus einiger wissenschaftlicher Konferenzen, unter anderem Surfaces an der New York University und The Skin of Objects: Rethinking Surfaces in Visual Culture in Norwich im Juni Bei beiden Konferenzen liegt der Fokus vor allem im Bereich der visuellen Kultur. Im Rahmen ihrer kunsthistorischen Forschungen zur Materialsemantik2 analysierte Monika Wagner die Materialien und Oberflächen von Skulpturen hinsichtlich ihres ästhetischen Potenzials, die Schwerkraft zu überwinden. 3 Darüber hinaus beschrieb sie die soziale Funktion alltäglicher Oberflächen und ihre Materialien im öffentlichen und halböffentlichen Raum unserer Städte. Hier vermitteln Oberflächen soziale Codes, die unser Verhalten bestimmen und als Strategien der Exklusion beziehungsweise Inklu- 5_Jean-François Lyotard im Gespräch mit Jacques Derrida moderiert von Thomas Ferenczi, in: Lyotard, Jean-François u. a.: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S , hier: S. 25. Unsere Duisburger Surface-Ausstellung ist inspiriert von der allgegenwärtigen Präsenz der Oberflächen kleiner Screens unserer mobilen Computer, von der Ästhetik der Glätte und dem Wunsch, die Oberfläche zu durchdringen. Berührungsempfindliche Oberflächen unserer digitalen Geräte, die uns durch den Alltag begleiten, ermöglichen uns den Zugang zu einer scheinbar unendlichen Vielfalt verschiedener virtueller Welten, Datenansammlungen und Informationen, die unsere physische Welt mit einer immateriellen Sphäre der digitalen Daten verweben. Die sensitiven Screens und die Interaktion mit miniaturisierten digitalen Geräten prägen unseren taktilen Sinn und die Art und Weise, wie wir Sinnzusammenhänge aus heterogenen Informationen herstellen. Künstlerinnen und Künstler wie Carsten Nicolai, Janet Cardiff & George Bures Miller und Evan Roth arbeiten auf unterschiedliche Weise mit diesen, unsere heutige Zeit prägenden Qualitäten der Immaterialien und schaffen ästhetische Sphären, in denen sich das Nichtgreifbare, das Immaterielle, auf neue Weise in unserer Wahrnehmung konkretisiert Abb. 1. Schon 1985, als sich die unsere Sinne revolutionierende Veränderung mit der beginnenden Verbreitung des Personal Computers als Massenmedium abzeichnete, beschrieb der französische Philosoph Jean-François Lyotard diesen grundlegenden Wandel hellsichtig: Beim Begriff,Immaterial handelt es sich nun um einen etwas gewagten Neologismus [...] Damit ist lediglich ausgedrückt, daß heute und das hat sich in allen Bereichen durchgesetzt das Material nicht mehr als etwas angesehen werden kann, das sich wie ein Objekt einem Subjekt entgegensetzt. 5 Wie schauen wir heute mit einer solchermaßen konditionierten Wahrnehmung auf die bronzene Eva (1881) von Auguste Rodin? Wie nehmen wir die durchlässig und immateriell erscheinende Haut der Wachsskulptur La portinaia ( ) von Medardo Rosso wahr? Bereichert uns die aktuelle Dominanz des Taktilen, die wir uns in den letzten Jahren im Umgang mit sensuellen Interfaces und Touchscreens angeeignet haben, in der Wahrnehmung von Skulptur? Die Ausstellung An der Oberfläche_On Surfaces stellt die Verbindung her zwischen der Dominanz des Tastsinns in der Konstituierung von Wirklichkeit in unserem heutigen Alltag und dem tastenden Blick, der in der Skulptur seit jeher Berührung imaginiert. Wer kennt nicht das meist unstillbare Verlangen, Skulpturen berühren zu wollen? Viele plastische Werke fordern uns geradezu auf, uns unseres Sehsinns tastend zu versichern, um über Berührungen die Realität der Skulptur zu erfassen und Bedeutung herzustellen. Der Titel der Ausstellung spielt mit unterschiedlichen Assoziationen des Begriffes Oberfläche: Im Zentrum steht die Manifestation der Oberfläche eines Kunstwerks als eine seiner wesentlichen künstlerischen Qualitäten. Die zweite Lesart, die im Titel mit- sion bestimmter Gesellschaftsgruppen fungieren. 4 schwingt, ist die des Oberflächlichen das, was sich einer tiefer gehenden Bedeutung 12 13
4 60 61
5 DOROTHEE GOLZ Diese Tasse ist eine Tasse, keine Tasse 2004 Glasfaserlaminat, Metall, Stoff, Glas Schon der erste Blick auf die Arbeit von Dorothee Golz (geboren 1960 in Mülheim an der Ruhr) erinnert uns an eines der bekanntesten Werke Meret Oppenheims, Déjeuner en fourrure (Frühstück im Pelz) aus dem Jahr 1936, auch bekannt als Die Pelztasse. Die gedankliche Verknüpfung mit dieser Ikone der Kunstgeschichte ist evident und führt über den Titel der Arbeit direkt zu dem weiteren berühmten kulturellen Zitat von Gertrude Stein Rose is a rose is a rose is a rose. Für Kenner der Kunstgeschichte sind diese beiden kunsthistorischen Bezüge offenbar. Aber welche weitere Ebene spricht die Arbeit an? Dorothee Golz hat das Set, bestehend aus einer Tasse, einem Unterteller und einem Kaffeelöffel, mit Kunstharz überzogen. Aus den Rändern der Objekte scheinen zarte, nadelartige Spitzen herauszuwachsen, die aus Glasfasern bestehen. Das Ensemble wirkt auf eine surreale Art gefährlich: Es erscheint als anmutiger Kranz aus spießförmigen Dornen. Die Tasse verunsichert und fasziniert zugleich: Die Verschmelzung der Tassenform mit der starren, aus Glasstacheln bestehenden Oberfläche stört unsere Wahrnehmung und führt die Funktion der Tasse nicht nur ad absurdum, sondern betont das Verletzungspotenzial bei etwaiger Nutzung. Diese Irritation ähnelt der Unbenutzbarkeit der Pelztasse von Meret Oppenheim, deren surrealer Kern in der Gegensätzlichkeit der erwarteten Funktion und des Materials liegt. Dorothee Golz zitiert historische Schlüsselwerke, lotet deren Potenzial als Resonanzpunkt aus und verwandelt sie, so Beate Ermacora, in dreidimensionale Denkbilder. 1 Sie macht das Denken sichtbar 2, wie es der Surrelist René Magritte einmal für seine Kunst formulierte. Magrittes wahrscheinlich berühmteste Arbeit ceci n est pas une pipe war Auslöser für den Diskurs über die fiktive Beziehung von Bild, Realität und Sprache. Diese Gegensätzlichkeit von Abbild und Wirklichkeit kondensiert Dorothee Golz in der Arbeit heraus. Zunächst erkennt der Betrachter die Formen an der Oberfläche und identifiziert sie als Gegenstände aus dem Haushalt: Die Tasse ist ein Objekt, nicht mehr und nicht weniger, allerdings von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst. Sie fungiert zugleich auch als Metapher und ist damit keine ausschließliche Bestätigung dessen, was wir real sehen, sondern ein kulturell definiertes Zitat. Darüber hinaus seziert Dorothee Golz den Bereich über und unter der Oberfläche und dessen Möglichkeiten der Verschiebungen. Sie unterscheidet zwischen einer inneren und einer äußeren Gegebenheit, einer Wahrheit unserer Vorstellungen, die durch kleine Kunstgriffe verrückt werden kann: Eine Sache nehmen, ein bisschen anders tunen und man hat Zugang zu der Psyche der Menschen. 3 In dieser Arbeit findet ein Prozess von Aneignung und Adaption statt, der sich in ihren Werken mal subtil, mal offenkundig einschreibt. Die experimentellen Arrangements von Dorothee Golz zeugen von einem analytischen wie auch humorvollen Ansatz. Davon losgelöst eröffnen die Werke in ihrer an Alltags- gegenstände erinnernden, skulpturalen Form immer neue Möglichkeiten ästhetischer Betrachtung und Deutung, sei es als kunsthistorischer Kommentar, als selbstgenügsames Objekt oder als vielstimmiger Assoziationsraum. Indem Golz Arbeiten die Grenzen von Gebrauchsgegenstand, künstlerischem Zitat und autonomem Werk ausloten, evozieren sie stets auch die Frage, wie sie Kunst sein können und als Kunst erfahren werden. Nina Hülsmeier 1 Ermacora, Beate; Golz, Dorothee (Hrsg.): Dorothee Golz. Digitale Gemälde, Bd. 2, Nürnberg 2014, S René Magritte, Die rätselhaften Visionen René Magrittes, in: Life, , zit. nach: Naredi-Rainer, Paul (Hrsg.): Sinnbild und Abbild. Zur Funktion des Bildes, Kunstgeschichtliche Studien Innsbruck, Neue Folge Bd. 1, Innsbruck 1994, S. 1 22, hier: S Nimmervoll, Lisa: Wahrheit ist nur eine Möglichkeit, in: Der Standard, , siehe auch [abgerufen am ]
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