Rechte Seite außen: Eine Bauzeichnung

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Gerrit Kurzmann
vor 8 Jahren
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1 DIE (NEUE) NYSE: DIE ENTSTEHUNG VON 18 BROAD STREET Die New Yorker Aktienbörse erinnert an einen griechischen Tempel des Geldes. Wuchtig thront das massive Bauwerk aus weißem Marmor an der 18 Broad Street, nur wenige Schritte von der Wall Street entfernt. Sechseinhalb Stunden dauert der dort abgehaltene Gottesdienst täglich von 9.30 bis 16 Uhr. Weihrauch gibt es keinen, Opfergaben aber reichlich. Zumindest an schwachen Handelstagen. Dann müssen Investoren Blut lassen. Die Entscheidung, eine neue Börse zu bauen, fiel im Jahr Ein eigens dafür gegründeter Ausschuss erwarb das zu Western Union gehörende Grundstück an der 16 Broad Street und 18 Broad Street. Nach dem Kauf eines weiteren Grundstücks an der Nordseite des Gebäudes fingen am 1. Mai 1901 die Abrissarbeiten an. Eigentlich sollte die neue NYSE im Frühling des Folgejahres bezugsfertig sein. Doch es kam anders. Aufgrund zahlreicher Komplikationen wurde das mit wuchtigen Säulen versehene Gebäude erst am 22. April 1903 eingeweiht. Erbaut wurde es von dem Stararchitekten George B. Post; mit Kosten von 4 Millionen Dollar war es vier Mal so teuer wie geplant. Mit einer Grundfläche von 33 42,5 Metern galt der Handelsraum selbst für New Yorker Verhältnisse als einzigartig groß. 22 Meter über den Köpfen der dort arbeitenden Broker schwebt die Decke, in welche riesige Oberlichter eingebaut wurden. So wird das Parkett stets mit Tageslicht durchflutet. Da sich die Börse auf einem Hügel befindet, nehmen die Treppenläufe den Anstieg des Geländes auf und passen sich der Landschaft an. Auf der Suche nach dem Ausgang sorgt diese Tatsache bei Besuchern auch heute noch für Verwirrung. Architektonisch betrachtet gehört die New Yorker Börse zu den beeindruckendsten und schönsten Bauten der Stadt. Der Eindruck ist massig, schwer und blockhaft. Typisch für Bauten im Stil der römischen Renaissance. Der Marmor wurde eigens aus dem Bundesstaat Georgia angeliefert. Auf Ornamentik wurde größtenteils verzichtet. Die Griechen waren die Ersten, die Massivität als Grundlage für Ästhetik und Schönheit ansahen. Die klassische Periode dieser Architektur dauerte bis etwa 350 nach Christus. Die Formen wurden im Hellenismus weiterverwendet und gelangten von dort in die römische Baukunst bis hin zur klassischen Architektur der Gegenwart. Die sechs korinthischen Kapitelle der Fassade sind durch Arkanthusblätter erweitert und symbolisieren jungfräuliche Zartheit. In dem darüberliegenden Pediment stehen elf Statuen, entworfen von den amerikanischen Bildhauern John Quincy Adams Ward und Paul Wayland Bartlett. Die Modelle wurden zur Umsetzung an den in der Bronx lebenden Steinmetz Getulio Piccerilli weitergereicht. Mit Hammer und Meißel ging der Achtzehnjährige an die Arbeit und stellte die Figuren im Frühling 1903 fertig. Ward gab seinem Werk den Titel»Integrity Protecting the Works of Man«. Die weibliche Zentralfigur, die ihre Arme weit nach vorne streckt, steht für Integrität. Zu ihren Füßen sitzen zwei Kinder, die Buch darüber führen, welche Waren von den anwesenden Statuen gebracht werden. Die Figuren zur rechten Seite repräsentieren Wissenschaft und Technik. Links von der Zentralfigur stehen die Vertreter der Landwirtschaft und anderer Erzeugnisse der Erde. Die männlichen Figuren in der rechten Ecke stellen Minenarbeiter dar. Wie sich herausstellte, hielt sich John Quincy Adams Ward nicht immer an die Angaben des Architekten George B. Post. Wards klassisch gewählte Posen und Bekleidung komplettierten Posts Arbeit aber gekonnt und rundeten das Gesamtbild der Börse auf harmonische Weise ab. Noch vor Installierung der Statuen bemerkte Post jedoch gravierende Schäden am Marmor des Dreiecksgiebels und der Statuen. Wegen des hohen Gewichts der elf Figuren, rund neunzig Tonnen, drohte»integrity«den Brokern auf den Kopf zu fallen. Im Zuge des zunehmenden Verfalls entschied sich die Börse 1936, die Statuen auszuwechseln. Nach den gleichen Baumethoden, die bei der Freiheitsstatue verwendet worden sind, wurden Nachbauten aus Kupferblech angefertigt, die mit weißem Blei überzogen wurden. Das Gewicht reduzierte sich dadurch auf magere zehn Tonnen. Die Originalstatuen wurden nach dem Abtransport vernichtet. Rechte Seite oben: Nach sechs Jahren Bauzeit öffnete 1842 die Merchants Exchange ihre Tore. Der Handelsraum fasste bis zu 3000 Händler. Auch die Broker der NYS&EB, wie die New Yorker Aktienbörse einst hieß, waren dort angesiedelt. Das Gebäude an der Wall Street existiert noch heute und wurde bis vor einigen Jahren vom Regency Hotel genutzt. Rechte Seite außen: Eine Bauzeichnung der heutigen New York Stock Exchange, gezeichnet vom Architekten George B. Post. Darin noch nicht sichtbar sind die später von John Quincy Adams Ward entworfenen Figuren im Dreiecksgiebel. Rechte Seite innen: Das erste ständige Zuhause der New Yorker Börse wird 1865 eingeweiht. Der Handelsraum befand sich im zweiten Stock. Das Gebäude wich später dem Bau der heutigen NYSE. Seite 30 und 31:»Integrity Protecting the Works of Man«nannte John Quincy Adams Ward sein aus elf Figuren bestehendes Kunstwerk. 28 BACKSTAGE WALL STREET

Sechseinhalb Stunden dauert der dort abgehaltene Gottesdienst täglich von 9.30 bis 16 Uhr. Weihrauch gibt es keinen, Opfergaben aber reichlich. Zumindest an schwachen Handelstagen.

6 Links oben: Eilboten waren Anfang des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Bestandteil der Wall Street. Sie hatten Zugang zum Parkett und reichten Kauf- und Verkaufsaufträge an die Broker weiter. Sie übermittelten auch Nachrichten an den Telegrafendienst. Links unten: Konfettiparaden gibt es an der Wall Street seit Hier wird im Jahr 1927 Charles Lindberghs Alleinflug über den Atlantik gefeiert. Rechts unten: Mitarbeiter der Börse bedienen um etwa 1927 die mit den Brokerbuden auf dem Parkett verbundene Rohrpost. BACKSTAGE WALL STREET 33

Sie übermittelten auch Nachrichten an den Telegrafendienst. Links unten: Konfettiparaden gibt es an der Wall Street seit 1888.

7 Das Parkett im Zeichen der Zeit. Bilder von 1907 (links oben) bis heute (rechts unten). Rechte Seite: 1930 wurden siebzehn neue hufeisenförmige Trading Posts fertiggestellt. 34 BACKSTAGE WALL STREET

10 Linke Seite: Marvin Newmans Aufnahme aus dem Jahr 1957 zeigt die hufeisenförmigen Trading Posts auf dem Parkett. Links oben: NYSE-Reporter schreiben den Namen der gehandelten Aktie, den Ausführungskurs und die Stückzahlen auf. Die Daten wurden danach in den Ticker eingegeben. Um Links unten und rechts oben: 1970 wird das elektronische Händlerbuch vorgestellt. Broker bekommen Einsicht in alle offenen Kauf- und Verkaufsaufträge einer Aktie. Heute werden die Aufträge mit Handheld-Computern ausgeführt. Auf Papier verzichten die Broker. BACKSTAGE WALL STREET 37

Die Daten wurden danach in den Ticker eingegeben. Um 1907. Links unten und rechts oben: 1970 wird das elektronische Händlerbuch vorgestellt.

11 38 BACKSTAGE WALL STREET Oben und rechte Seite: Einhergehend mit der Modernisierung der Trading Posts Anfang der 80er-Jahre wurde ein riesiges Stahlgestell installiert. In den Rohren befinden sich Stromund Datenkabel. Auch die Klimatisierung des Raums wird dadurch gesichert. Um das schwere Gestell in großen Bauteilen auf das Parkett zu bekommen, mussten die Glasscheiben der Fassade teilweise entfernt werden.

In den Rohren befinden sich Stromund Datenkabel.

13 Es war Donnerstag, der 16. September Ein unbekannter Mann fährt mit einer Kutsche an der Ecke von Wall und Broad Street vor, steigt ab und verschwindet in der Menschenmenge. Wenige Minuten später erschüttert eine gewaltige Explosion den Finanzdistrikt. Scheiben zerbrechen, auch die der New Yorker Börse. Besonders hart trifft es die Zentrale des Bankhauses J.P. Morgan. Noch heute sind die Einschläge der Bombe an der Außenwand sichtbar (rechte Seite). An diesem dunklen Tag in der Geschichte der Wall Street verlieren dreißig Menschen ihr Leben. Der mächtige Bankier Pierpont Morgan bleibt aber unverletzt. Vermutlich galt der Anschlag ihm. Wer hinter dem Attentat steckte, ist bis heute ein Rätsel. 40 BACKSTAGE WALL STREET

Besonders hart trifft es die Zentrale des Bankhauses J.P. Morgan. Noch heute sind die Einschläge der Bombe an der Außenwand sichtbar (rechte Seite).

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