(aus "Konstitution und Klassenkampf") von Hans-Jürgen Krahl Die naturwüchsige Bindung von Produktion und Destruktion aneinander, die eine neue Qualität der Deformation der Menschennatur herstellt, trennt die deformativ befriedigten Bedürfnisse von der Befriedigung emanzipatorischer Bedürfnisse. Mit wachsender Naturbeherrschung wächst faktisch die Herrschaft von Menschen über Menschen, obwohl diese doch durch die erweiterte Fähigkeit, den Naturstoff zu appropriieren, überflüssig wird. So tritt ein Stadium ein, in dem aktuell die Bedürfnisbefriedigung einen qualitativ neuen Stand erreicht hat, ohne ihren Möglichkeiten nachzukommen, und Herrschaft sich zugleich verfestigt hat wie nie zuvor. Die Beherrschung der Naturbeherrschung ist nicht gelungen. Es scheint, als verfestige sich die Internalisierung der Arbeits- und Leistungsnormen im Zeitbewusstsein der Ausgebeuteten in dem Maasse, in dem die technische Leistung die Abschaffung der Arbeit ermöglichen könnte. Verinnerlichung ökonomischer Gewalt heisst vor allem: die Internalisierung der Arbeitsnormen ins Zeitbewusstsein, das Bewusstsein der Lohnarbeiter über ihre objektive Stellung im Produktionsprozess und damit die Erinnerung an Ausbeutung auszulöschen, die Bildung von Klassenbewusstsein zu verhindern. Die Vernichtung des wie auch immer religiös kanalisierten emanzipatorischen Zeitbewusstseins lässt die Lebenszeit zur Arbeitszeit werden. Darauf beruht also das zentrale Naturgesetz der kapitalistischen Entwicklung. Arbeitszeit ist verdinglichte Zeit, auf ihr Gegenteil, den Raum, rein quantitative Ausdehnung reduziert. Die emanzipatorische Lebenszeit wäre aber mit der kapitalistischen Produktionsweise nicht nur religiös kanalisiert, sondern als geschichtlich qualifizierte Zeit der Freiheit - Konstituens der Individualität - möglich. Arbeitszeit ist deren Gegenteil - entzeitlichte und ontologisierte Zeit. Es liegt im Interesse des Kapitals, dass die Herabsetzung der Arbeitszeit und die darin implizierte Möglichkeit einer Befreiung von gesellschaftlich überflüssiger Arbeit den Arbeitern als unmöglich sich darstellt. Zeit - das Medium des Lebens und der Geschichte - wird zu ihrem Gegenteil, einem blinden Naturgesetz. Nicht erfüllen die Menschen ihr Wesen in der Zeit, sondern die Zeit subsumiert sich schicksalhaft naturwüchsig die Menschen - so wie die Kantische Natur, der Hegelsche Weltgeist, das Selbstbewusstsein. Zeit - das was nicht dinglich ist - erscheint als verdinglicht, im Geld; Zeit - das was nicht natürlich ist (dreidimensional) erscheint als naturwüchsig; Zeit, der Inbegriff qualitativer Veränderungen erscheint als unveränderliche - bloss auszufüllende - Form. Die Vernichtung emanzipatorischen Zeitbewusstseins durch ausserökonomische Zwangsgewalt, die Verdinglichung der Lebenszeit zur rein quantitativen Arbeitszeit ist eine Bedingung der Möglichkeit des allgemeinen Wertgesetzes, des sich verwertenden Werts dessen Qualität die reine Quantität der Arbeitszeit, reine Grösse ist. Die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation führt
mit Notwendigkeit den Untergang einer zwar geschichtlichen, aber ihren geschichtlichen Charakter permanent revozierenden Gesellschaftsformation herbei - sie führt mit Notwendigkeit zur letzten Krise des Systems, an der es unvermeidlich zerbricht. Damit führt Marx durchaus keine objektivistische Auffassung von den Naturgesetzen der kapitalistischen Entwicklung ein; denn die Krise, aus der der Kapitalismus keinen Ausweg mehr weiss, führt nicht ohne Zutun der Unterschichten in den Sozialismus, sondern etwa in ein dem neuen Stand der Produktivkräfte zwar angemessenes, aber barbarisches Herrschaftsverhältnis, einen industriellen Faschismus. Automation ist Kapitalvernichtung; sie bedeutet vom geschichtsphilosophischen Begriff der Produktivkräfte her, die das Kriterium für die objektive Möglichkeit der Machbarkeit der Geschichte darstellen, dass die Menschen von Arbeit befreit werden können; es könnten aber auch die Arbeiter abgeschafft und zu einem Heer von beherrschten und dem Wohlwollen des Herrschaftsapparates ausgelieferten Rentnern werden. Die in der kapitalistischen Gesellschaftsformation vorgebildeten, zentralisierten, bürokratisierten und totalitären Herrschaftsverhältnisse würden sich als der technologischen Rationalität instrumenteller Vernunft des automatisierten Maschinenwesens durchaus angemessen erweisen. Das heisst, das strategische Ziel, für das Marx und Engels kämpften, die Sozialisierung der Produktionsmittel, ist nicht mehr als eine allerdings unabdingbare Bedingung der Möglichkeit einer vernünftigen Gesellschaft, aber garantiert sie nicht. Schliesslich gelingt es dem Kapitalismus, zu einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise selbst zu gelangen und sich in diesem Widerspruch durch eine ungeheure Expansion abstrakter Arbeit und Vermehrung der Arbeitszeit auch in die Freizeit totalitär zu reproduzieren. Die aktiengesellschaftliche Unternehmungsform»fordert die Staatseinmischung«heraus; die Überflüssigkeit der Kapitalistenklasse und der Klassencharakter der Gesellschaft können nicht mehr länger verschleiert werden. An die Stelle des individuellen Arbeitsvertrags, der die Illusion von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit vorspiegelte, an die Stelle des bürgerlichen Paradieses der Zirkulation tritt der sozialreformerisch erkämpfte Tarifvertrag der koalierten Klasse, der nun alsbald vom reformerischen Mittel zum revolutionären Zweck zum wirksamen Integrationsinstrument des Monopolkapitals selbst werden sollte. Wenn die Klassen nun schon einmal nicht mehr zu verschleiern sind, sollen die unschlichtbaren Antagonismen der Klassenfeinde wenigstens mit dem partnerschaftlichen Schein pluralistisch ausgleichbarer Interessengegensätze ausgestattet werden (siehe auch Neumann und Korsch). Sozialpolitik und Koalitionsrecht mit der Tendenz zur faschistischen Zwangsorganisation
ausgestattet sowie betriebliche Mitbestimmung werden zu Instrumenten sozialversichernder Repression, um die Massen an der selbsttätigen Wahrnehmung ihrer Interessen zu hindern (dazu Verselbständigung der Massenorganisationen, Horkheimer, Pannekoek). Die Dialektik von Reform und Revolution unterliegt zugunsten des Reformismus, der zum wichtigsten Herrschaftsinstrument der Konterrevolution wird; das Monopolkapital kann nur bestehen, wenn der autoritäre Sozialstaat für die Integration der Organisationsformen der Arbeiterklassen sorgt. Das Instrument ist die Sozialreform -es entspricht dem von oben eingesetzten Wirtschaftsinstrumentarium des Keynesianismus. Die abstrakte Arbeit ist nicht mehr imstande, ihre isolierenden Beziehungen von sich aus in die Gesamtgesellschaft zu verallgemeinern und ihre repressiven Abstraktionsfordernisse, die sie der Masse der Produzenten auferlegt, von ihrer empirisch bedürftigen Subjektivität abzusehen, zu institutionalisieren. Die Wertsubstanz verliert ihre ökonomische Legitimationsbasis politisch-staatlicher und rechtlich-moralischer Herrschaft; die freie Konkurrenz von einander feindseligen Individuen und der gerechte Äquivalententausch von einander gleichgeltenden und gleichgültigen Warenbesitzern hat mit monopolistischer Preismacherei und oligopoler Marktabsprache kaum noch etwas gemein. Die Zirkulation hört auf, als ideologieproduzierender Garten Eden bürgerlicher Gründerakte und republikanischer Freiheiten zu existieren. (Horkheimer, Vernichtung der Zirkulation.) Die Wertsubstanz kann deshalb ihre Herrschaft nicht länger auf alle Ebenen des gesellschaftlichen Verkehrs transponieren. Sie bedarf der direktem politischen Legitimation (Habermas), des manipulativen oder nötigenfalls terroristischen Einsatzes von oben. Der politische Einsatz aller technischen Verkehrsmittel hat den Boykott des gesellschaftlichen Verkehrs selbst um den Preis der Zersetzung bürgerlicher Öffentlichkeit als der Gesellschaft der Bürger zu besorgen und zu garantieren. (Horkheimer, Karl Schmitt.) Dass die Organisationsformen des Proletariats selbst falsches Bewusstsein materialisierten, ist die Geschichte des Reformismus; er erlaubt die Anerkennung des Koalitionsrechts auch für die lohnabhängigen Massen und betreibt zugleich die Integration ihrer Assoziationen. Der Monopolkapitalismus ist darauf angewiesen, die Organisierung der lohnabhängigen Massen zur Klasse rechtlich und staatlich anzuerkennen und diese zugleich zu neutralisieren, durch Sozialgesetzgebung und Sozialreform, was nur gelingen kann, wenn die Organisationsformen der Arbeiterklasse selbst reformistisch werden. (Die Sozialreform als point d'honneur wird nicht blutig niedergeschlagen, weil integriert; in den Klassenkämpfen in Frankreich bedurfte es der blutigen Niederschlagung.) Die organisatorische Verfestigung des reformistisch und manipulativverfälschten Klassenbewusstseins ist ein Element der Potenzierung der Klassen sich - dem Konglomerat isolierter Individuen. Mit dem Monopolkapital verunmöglicht sich die Verschleierung des Ausbeutungsverhältnisses durch den Zusammenbruch der Basisideologie der freien Konkurrenz, der Erscheinungsform des Arbeitslohns; durch die tendenzielle Liquidation der ambivalenten Freiheit des freien Arbeiters
entschleiert sich die verschleiernde Rechtssubstanz und die Identität von Ausbeutungsarbeit und ausgebeuteter Arbeit. Die reformistischen Organisationsformen der lohnabhängigen Massen sind Instrumente der herrschenden Klasse, mit pluralistischen Ideologien der Nivellierung von Klassenantagonismen diese zu ausgleichbaren Interessengegensätzen zu harmonisieren. Die Ideologien der formierten Gesellschaft sind nur Emanation' des Pluralismus, entweder faschistisch formiert oder pluralistisch. Die Drohung der herrschenden Klasse, sie könne das vitale Minimum der Existenz nicht sichern, diese müsse sich auf Verelendung und Kampf einstellen, wird zur ontologischen Dignität eigentlichen Existierens verklärt. Die Existenz mythologisiert sich an sich selber zum Schicksal.>>Das eigentliche Sein zum Tode... ist der verborgene Grund des geschichtlichen Daseins... Das in der Entschlossenheit liegende vorlaufende Sichüberliefern an das Da des Augenblicks nennen wir Schicksal.<< Die eigentliche Existenz schrumpft zusammen zur monadologischen des aussichtslosen Augenblicks. Die von Marcuse revolutionär gedeutete existentielle Radikalität zeigt offenbar ihren repressiven Inhalt; die vorlaufende Entschlossenheit zum Tode, die fürs autonome Subjekt konstitutive Aktivität, besteht in nichts anderem als der stumpfsinnigen Entschlossenheit zur politischen Apathie, sich zum blinden Werkzeug in den Händen der herrschenden Klasse degradieren zu lassen und den eigenen vitalen Lebensinteressen zu entsagen. Formalisierung der Freiheit:»unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen lässt Freiheit sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln.<< Manipulation leistet die Umsetzung gesellschaftlicher in individuelle Bedürfnisse. Das bedeutet, dass die Gesellschaft im Vergleich zu früheren Stadien der bürgerlichen Gesellschaft auf eine sittlich anspruchsvolle Moral weitgehend Verzicht leisten kann. Denn Manipulation leistet die Abstraktion von den besonderen Bedürfnissen qualitativer Art, von der sinnlichen Struktur - Entfremdung. Sexualität ist repressiv entsinnlicht worden, eine zivilisierte Bestialität. Manipulation bietet den Rechts- und Moralersatz, wie sie den Verkehr destruiert, dessen Zerstörung ihre Voraussetzung war. Wo früher durch die Drohungen und Versprechen, Sanktionen und Gratifikationen durch Recht und Moral die Abstraktionen von den gesellschaftlich entwickelten sinnlichen Bedürfnissen der Individuen -durchaus unter weitgehendem Verzicht auf unmittelbare Gewalt erzwungen wurde, fällt heute dieser Zwang durch seine Manipulation Verinnerlichung fort. Franz Neumann verweist auf die Effizienz von Gewalt als Straf justiz und Terror, letzteres Instrument des Faschismus; Manipulation heute heisst Internalisierung des Terrors, so dass er im Innern der eigenen Gesellschaft weitgehend vermitteibar ist, während die Individuen gegen den Terror, der draussen praktiziert wird, weitgehend abgestumpft sind. Recht und Moral, selbst die Zirkulation hatten eine emanzipatorische Dimension.
Manipulation nimmt nur noch die Funktion der repressiven Abstraktion von den Bedürfnissen wahr. Eindimensionalisierung, die Einebnung der Differenz von Wesen und Erscheinung (wobei das Wesen an sich selber wahr und falsch ist - abstrakte Arbeit) bedeutet die Eskamotage der emanzipatorischen Dimension. "Gerade hochzivilisierte Bedürfnisbefriedigung aber ist die geschichtliche Voraussetzung, den Massen wirklich emanzipative Vernunftinteressen zu vermitteln. Mit Recht wird darauf hingewiesen," schreibt Merleau-Ponty, daß es durchaus nicht das tiefste Elend ist, welches die bewußtesten Revolutionäre hervorbringt, doch versäumt man, auch die Frage zu stellen, warum häufig ein Aufschwung der Konjunktur die Radikalisierung der Massen nach sich zieht. Dies hat darin seinen Grund, daß die Abnahme des Drucks auf das Leben eine Umstrukturierung des sozialen Raumes ermöglicht: Die Horizonte sind nicht mehr eingeengt auf die unmittelbaren Bedürfnisse, es entsteht ein Spielraum, Raum für einen neuen Lebensentwurf. (Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 506) Gleichwohl ist das spätkapitalistische System auf seiner Basis hochzivilisierter Bedürfnisbefriedigung imstande, den von den unmittelbaren gesellschaftlichen Produzenten hergestellten Reichtum und Kultur technologisch und kulturindustriell so einzusetzen, daß die Bedürfnisse und das Bewußtsein der Massen in den Bannkreis materieller Existenzsicherung fixiert bleiben. Der entfremdete Zustand, daß die Menschen weiterhin, wie Marx sagt, leben, wo sie nicht arbeiten, und arbeiten, wo sie nicht leben, hat sich nur verschärft. Die Bedürfnisse allerdings, auf die sich der Versuch revolutionärer Aufklärung richten müßte, sind immaterieller geworden, in dem Maße, in dem das Reich der Freiheit möglicher geworden ist. Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeiten bestimmt ist, aufhört. Es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion." (Marx)"