38 Serie: Psychotherapie, Teil 7



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Transkript:

38 Serie: Psychotherapie, Teil 7 Gesprächspsychotherapie: Die Gefühle erkunden und sich selbst finden Bedingungslose Zuwendung, Empathie und Echtheit: Gesprächspsychotherapeuten begegnen ihren Klienten mit einer ganz besonderen Haltung. Damit ermöglichen sie ihnen neue Beziehungserfahrungen und eine eigenständige Veränderung ihres Selbstkonzeptes Ulfried Geuter PSYCHOLOGIE HEUTE Januar 2008

Serie: Psychotherapie, Teil 7 39 Mit drei Jahren musste sie manchmal allein ins Bett gehen, allein zu Hause bleiben und morgens allein aufstehen. Als sie fünf war, setzte die Mutter sie in Berlin in den Zug, damit sie zur Oma nach Schwerin fahre. Um diese Zeit trennte sich ihre Mutter vom Vater und verbot ihr, den Vater fortan zu sehen. Als Kind hielt sie das für normal. Geschwister hatte sie nicht. Die Glasermeisterin Julia B. wuchs mit ihrer Mutter in einem kleinen Dorf in Brandenburg auf. Als Jugendliche wollte sie so schnell wie möglich von zu Hause fort.mit 17 zog sie aus. Mit 20 beschloss sie, ihren Vater zu suchen. Da erklärte ihr die Mutter, sie nie mehr wieder sehen zu wollen. Sie flüchtete sich in die Ehe mit einem Alkoholiker. Aber dessen Alkoholismus wollte sie nicht wahrhaben. Sie wollte sich beweisen, dass sie das Leben zum Besseren wenden könnte. Bis sie der Unberechenbarkeit ihres Mannes nicht mehr gewachsen war. Sie trennte sich, aber machte sich Sorgen wegen ihres Kindes und suchte eine Beratungsstelle auf. Gisela Borgmann, die Psychotherapeutin, stellte ihr eine Frage, die sie stark beschäftigte: Ob es denn ein Zufall sei, dass sie sich einen alkoholkranken Mann ausgesucht habe. Borgmann erinnert sich heute, dass Julia B. erst gar nicht sehen wollte, dass die Probleme mit ihrem Ehemann irgendetwas mit ihr und ihrem bisherigen Leben zu tun haben könnten: Sie hatte den Konflikt mit ihrer Mutter nicht bewältigt. Sie hatte vor der Mutter Angst, und sie hatte auch Angst davor, von anderen Menschen aus dem Konzept gebracht zu werden. Gegen Widrigkeiten konnte sie sich nicht durchsetzen. Sie konnte flüchten, aber nicht standhalten. Sie hatte ein geringes Selbstbewusstsein. Ihre Angst mischte sich mit Depressionen. Julia B. begann bei Gisela Borgmann eine Gesprächspsychotherapie, um, wie sie sagt, in meinem Leben aufzuräumen. Im Laufe der Behandlung erkannte sie, dass sie sich die abwertenden Botschaften ihrer Mutter zu eigen gemacht hatte: Jahrelang habe ich jeden Tag gehört, ich sei stinkend faul und völlig bescheuert. Das hörte ich wahrscheinlich öfter als meinen Namen. Irgendwann glaubt man das, auch wenn man sich selbst sagt, dass man es nicht glaubt. In der Sprache der Gesprächspsychotherapie: Die mütterliche Botschaft wurde zum Bestandteil ihres Selbstkonzeptes. Darunter wird das Bild

40 Serie: Psychotherapie, Teil 7 verstanden, das ein Mensch von sich selbst hat. Dieses Bild steht nicht für alle Zeiten fest, sondern formt sich immer wieder neu.aber es kann beherrscht werden von frühen, negativen Erfahrungen. Julia B. hatte in der Beziehung zu ihrer Mutter nicht erfahren, ein wertvoller Mensch zu sein.daher konnte sie sich später selbst nicht ausreichend wertschätzen und sich nicht wehren, wenn andere, wie zum Beispiel ihr Mann, sie respektlos behandelten. Im Gegenteil: Eine solche Behandlung passte zu ihrem Selbstbild. Ihre eigenen Bedürfnisse nahm sie nicht mehr wahr. Erst in der Therapie begegnete ihr ein Mensch, dem es ganz um ihr Wohl ging. Heute bezeichnet sie es als eine elementare Erfahrung, dass Gisela Borgmann sie ernst nahm und sie spüren ließ, dass sie sie schätzte. Die Grundzüge der Gesprächspsychotherapie entwickelte der US-amerikanische Psychologe Carl Rogers in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Rogers vertrat ein optimistisches Menschenbild, das Menschenbild der Humanistischen Psychologie. Diese betrachtet den Menschen als ein Wesen, das danach strebt, seine inneren Möglichkeiten zu verwirklichen und seine schöpferischen Fähigkeiten zu entfalten. Rogers war der Ansicht, dass die Psychotherapie den Menschen dabei helfen soll, die Hindernisse auszuräumen, die ihnen das Voranschreiten auf ihrem individuellen Lebensweg versperren. In einem seiner Texte erwähnt er den Satz des chinesischen Philosophen Laotse: Wenn ich vermeide, sie zu beeinflussen,werden die Menschen sie selbst. Während die Psychoanalyse unbewusste Konflikte deutet und die Verhaltenstherapie neue Lernerfahrungen ermöglichen will, wollte Rogers den Hilfesuchenden er sprach im Unterschied zum Begriff des Patienten aus der Medizin vom Klienten unterstützen, sich selbst in seinem Erleben zu erforschen. Dazu, so meinte Rogers, müsse ein Therapeut drei Bedingungen bereitstellen: Er muss sich seinem Klienten bedingungslos positiv zuwenden. Dies versteht Rogers als Haltung des Therapeuten und nicht als Technik. Er soll versuchen, den Klienten in seinem Erleben einfühlsam zu verstehen und dessen Gefühle als Teil seiner inneren Welt wahrzunehmen. Schließlich soll der Therapeut echt und wahrhaftig in der Begegnung mit dem Klienten sein und sich nicht hinter der Rolle des Experten verstecken. Nur wenn ein Therapeut diese Haltungen einnehme, meinte Rogers, könne eine Therapie Erfolg haben. Die Qualität der Beziehung zwischen Therapeut Therapie ist die Begegnung zweier Menschen Die Personzentrierte Psychotherapie von Carl Rogers Was in Deutschland Gesprächspsychotherapie heißt, wurde vom Begründer dieser Therapierichtung, Carl Rogers, Klientenzentrierte oder Personzentrierte Psychotherapie genannt. In seinem Begriff der Person bezieht sich Rogers auf die Existenzphilosophie: Der Mensch strebe danach, er selbst zu sein (Kierkegaard), und lebe sein Leben immer in Begegnung mit dem anderen. Im Sinne der phänomenologischen Philosophie von Edmund Husserl, einer weiteren philosophischen Quelle von Rogers, wird die subjektive Lebenswelt als Ausgangspunkt der Erfahrung angesehen. Nach der Theorie der Persönlichkeit von Rogers ist die Realität immer eine subjektiv wahrgenommene. Erfahrungen werden vom Selbst strukturiert, das in der sich ständig wandelnden Welt subjektiver Erfahrung eine fließende, wechselnde Gestalt hat. Verhalten lässt sich am besten aus dem inneren Bezugssystem eines Menschen verstehen, nicht aus den äußeren Reizen. Der Organismus strebt laut Rogers danach, all seine Möglichkeiten zu entwickeln. Dies nannte er die Aktualisierungstendenz. Stimmt das innere Bezugssystem, das Selbstkonzept, nicht mit den organismischen Erfahrungen überein, kommt es zur Inkongruenz, einem Zustand von Spannungen und Konfusion. Dieser ist die Grundlage von Angst und damit der Boden für psychische Störungen. Seelische Gesundheit hingegen stellt sich in einem Zustand der Kongruenz ein, in dem ein Mensch seine Erfahrungen in sein Selbstkonzept integrieren und so in Übereinstimmung mit sich selbst leben kann. Therapie ist für Rogers vor allem eine Begegnung zweier Menschen. Denn nach dem dialogischen Prinzip des Philosophen Martin Buber kann sich das Selbst eines Menschen nur im Kontakt vom Ich zum Du entwickeln, und nicht, wenn ein Mensch zum Objekt der Betrachtung oder Behandlung durch einen anderen wird. Der Therapeut als dieses Du soll dem Klienten helfen, sein Selbst zu aktualisieren. Ulfried Geuter PSYCHOLOGIE HEUTE Januar 2008

Serie: Psychotherapie, Teil 7 41 und Klient wird heute in der Forschung allgemein als wichtigster Faktor für jede Änderung durch eine Psychotherapie angesehen. Rogers aber war der Erste, der diesen Gedanken in den Mittelpunkt einer therapeutischen Theorie stellte. Der deutsche Psychologe Reinhard Tausch verbreitete den Ansatz von Rogers in den 1960er Jahren in Deutschland. Denn er war tief beeindruckt von seiner Theorie und seiner einfühlsamen Art. Hatte Rogers anfangs von Klientenzentrierter Therapie gesprochen, weil er den Menschen und nicht das Symptom in den Mittelpunkt stellen wollte, so erfand Reinhard Tausch den Begriff der Gesprächspsychotherapie, und zwar aufgrund eines skurrilen Umstands. Als er am Psychologischen Institut der Universität Hamburg Ende der 1960er Jahre Psychotherapie anbot, wollten ihn die zwei anderen Professoren des Instituts beim Gesundheitsamt anzeigen, weil nur Ärzte befugt zur Psychotherapie seien: Deswegen habe ich es Gesprächspsychotherapie genannt. Denn Gespräche konnten sie mir nicht verwehren. Das war also eigentlich ein Tarnname. Aus dem Tarnnamen wurde in Deutschland ein Markenzeichen. Unter klinischen Psychologen fand die Methode viele Anhänger. Die Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie wurde zu einem der größten Therapeutenverbände. Wie im Sinne der Theorie von Rogers die therapeutische Beziehung gestaltet wird, empfand Julia B. als hilfreich und angenehm: Ich habe meiner Therapeutin Aug in Aug gegenübergesessen. Sie hat ein hohes Maß an Empathie und Verständnis gezeigt. Und sie hat mir viel erklärt, was mich sehr viel weitergebracht hat. Gisela Borgmann war eine echte Gesprächspartnerin, die sich zeigte und Fragen beantwortete. Sie forschte nicht nach Dingen, die eine Theorie ihr vorschrieb, sie war nicht bestrebt, nach Unbekanntem zu suchen oder unbekannte Konflikte aufzudecken, sondern befasste sich mit der inneren Welt und der Lebenswelt der Patientin. Sie ging mit der Patientin den Weg, den diese selbst beschreiten wollte, um ihre Ängste und ihre Selbstwertzweifel loszuwerden. Das war der Weg,sich mit ihrer Kindheit auseinanderzusetzen. Und auch wenn sich die Gesprächspsychotherapie als ein nichtdirektives Verfahren bezeichnet, ging Borgmann teilweise sehr direkt auf die Vergangenheit zu: Ich habe die Klientin zum Beispiel gefragt, ob sie hören möchte, wie ich mir ihre Lebenssituation als Kind vorstelle, oder auch, ob es sie interessiert, was die psychologische Forschung dazu sagt. Dieses Wissen habe ich ihr zur Verfügung gestellt. Ziel der Gesprächspsychotherapie ist, das Erleben zu vertiefen, das heißt die Gefühle und Gedanken zu erkunden, die hier und heute auftreten, wenn man die Vergangenheit lebendig werden lässt. Zum Beispiel dachte Julia B. in der Therapie einmal daran, wie sie im Alter von sechs Jahren mit ihrer Mutter in den Nachbarort lief und die Mutter, dort angekommen, etwas aufschreiben wollte. Sie fragte die Tochter, ob sie einen Stift habe, aber diese hatte keinen dabei. Die Mutter schimpfte, man müsse als Sechs-

42 Serie: Psychotherapie, Teil 7 Standespolitisches Gerangel Die Anerkennung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland jährige einen Stift dabeihaben. Weil die kleine Julia Angst hatte, einen fremden Mann nach einem Stift zu fragen, ließ die Mutter sie als erzieherische Maßnahme gegen Verklemmtheit in den Ort zurücklaufen, um genau das zu tun. Gisela Borgmann geht es im Sinne der Theorie von Rogers darum, das Erlebnis von damals ins Hier und Jetzt zu holen und gleichzeitig zu erforschen, welche Gefühle und Gedanken sich heute dabei einstellen. In der Therapie kam an diesem Punkt eine sehr große Wut auf die Mutter auf, wofür sich die Klientin schämte, weil sie dachte, sie dürfe diese Wut nicht empfinden. In der Sprache von Rogers: Diese Wut war nicht Teil ihres Selbstkonzeptes. Als Kind hatte sie die Wut nicht fühlen dürfen, weil sie nie wusste, was als nächste Reaktion von ihrer Mutter drohte.so kam es zu einer Erfahrung von Inkongruenz (siehe Kasten Seite 40). In der Therapie machte Julia B. eine neue Erfahrung: Sie durfte fühlen, was sie fühlte, und denken, was sie dachte. So kam sie verlorenen oder verbotenen Gefühlen und Gedanken wieder auf die Spur. Jochen Eckert, Professor für Psychotherapie an der Universität Hamburg, sieht darin ein Wirkprinzip der Therapie: Indem der Therapeut auf dem Weg der Empathie beim Patienten Erfahrungen erkennt und benennt, die In Österreich und der Schweiz ist die Gesprächspsychotherapie entsprechend den gesetzlichen Grundlagen seit langem ein anerkanntes Psychotherapieverfahren. Nur in Deutschland ist diese Anerkennung umstritten. Bis zum Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes 1999 zahlten hier die Krankenkassen gesprächspsychotherapeutische Behandlungen auf dem Weg der Kostenerstattung. Als Leistung auf Krankenschein waren allerdings nur psychoanalytische und tiefenpsychologische Therapie und Verhaltenstherapie zugelassen. Denn über diese Zulassung entscheidet ein Ausschuss der Ärzte und Krankenkassen, in dem seit damals und bis heute vonseiten der Psychotherapeuten Vertreter der Psychoanalyse und Verhaltenstherapie sitzen, die die Gesprächspsychotherapie als Konkurrenz außen vor halten. Mit dem Psychotherapeutengesetz wurde unter anderem geregelt, welche Psychotherapieverfahren für die Berufsausübung und -ausbildung zugelassen sind. Zunächst betraf das die Verfahren, die bereits als Kassenleistung anerkannt waren. Weitere Verfahren sollten nur dann erlaubt sein, wenn ein sogenannter Wissenschaftlicher Beirat ihnen die Wissenschaftlichkeit attestierte. Aber auch in diesem Beirat saßen fast nur Vertreter der etablierten Verfahren. Sie versuchten lange Zeit aus berufspolitischen Gründen, die Anerkennung der Gesprächspsychotherapie auf alle erdenkliche Weise zu verhindern. Und das, obwohl die Gesprächspsychotherapie das erste Therapieverfahren war, das mit systematischer Therapieforschung begann, und sie an allen Universitäten des Auslands breit vertreten ist (in Deutschland aufgrund der massiven Vorherrschaft der Verhaltenstherapie an allen psychologischen Universitätsinstituten allerdings nicht). Erst nach wiederholter Vorlage zahlreicher wissenschaftlicher Studien und Protesten von Wissenschaftlern sprach der Beirat 2002 der Gesprächspsychotherapie die Anerkennung aus. Damit dürfen Psychotherapeuten in diesem Verfahren eine Ausbildung erhalten, die zur Approbation führt. Den Antrag, die Gesprächspsychotherapie daher auch als Kassenleistung zuzulassen, wies der dafür zuständige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen jedoch 2006 ab. Während eines jahrelangen Prüfverfahrens änderte er mehrfach seine Bewertungskriterien. Konnte die Gesprächspsychotherapie bislang gültige Kriterien erfüllen, wurde der Antrag mit neuen Bedingungen zurückgewiesen. Die Entscheidung des Gremiums hat das Bundesgesundheitsministerium beanstandet. Eine Posse des willkürlichen Umgangs mit Recht und Macht seitens der Konkurrenten zum Ausschluss der Gesprächspsychotherapie zieht sich somit seit Jahren und bis heute noch hin. Ulfried Geuter PSYCHOLOGIE HEUTE Januar 2008

Serie: Psychotherapie, Teil 7 43 dieser nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbaren kann, wird dem Patienten die Möglichkeit eröffnet, bisher abgelehnte Erfahrungen als die seinen anzunehmen und in sein Selbstkonzept zu integrieren. In einigen neueren Richtungen der Gesprächspsychotherapie wird die Gefühlswelt des Patienten nicht allein im Gespräch erforscht.eugene Gendlin, der Nachfolger von Rogers an der Universität Chicago, entwickelte die Methode des Focusing, bei der der Zugang zum inneren Wissen über die körperlichen Empfindungen in der Brust und im Bauch gesucht wird. Ist der Klient mit einem bestimmten Problem beschäftigt, lenkt der Therapeut beim Focusing dessen Aufmerksamkeit zunächst auf seinen Körper: Welches Gefühl entsteht im Brust- und Bauchraum, wenn er einmal nicht weiter nachdenkt? Dieses Gefühl soll der Patient absichtslos wahrnehmen, es schätzen und akzeptieren, ohne es zu werten. In einem nächsten Schritt wird er aufgefordert, ein Wort, einen Satz oder ein Bild zu finden, mit dem sich das körperliche Gefühl ausdrücken lässt. Zum Beispiel sagt jemand flau oder eingeengt. Dann wiederum wird gefragt, ob dieses Wort zu dem aktuellen Körpergefühl passt. Jetzt antwortet er zum Beispiel: Ja, aber es ändert sich etwas, ich bekomme Angst. Zeigt sich dabei eine körperliche Reaktion, etwa ein Seufzen oder ein tiefer Atemzug, wertet der Therapeut dies als ein Signal des Körpers, dass die Wörter stimmen. Focusingtherapeuten nennen dies einen body-shift. Was der Patient jetzt erfahren hat, kann ein hilfreicher Kommentar zu dem Problem sein, über das er am Anfang nachdachte. In der Prozess- und Erlebnisorientierten Therapie von Leslie Greenberg, Robert Elliott und Germain Lietaer wird die Klientenzentrierte Psychotherapie mit emotionstheoretischen Überlegungen verknüpft. Auch hier werden wie beim Focusing körperliche und expressive Elemente als Bestandteil von Gefühlen angesehen. Daher bedienen sich die Therapeuten aktiver Techniken zum Aufdecken emotionaler Anteile des Selbst, die über den sprachlichen Austausch hinausgehen, zum Beispiel der Technik des heißen Stuhls aus der Gestalttherapie. Hier setzt sich der Klient auf einen Stuhl im Zimmer und soll über seine Empfindungen sprechen; der Therapeut teilt dabei seine Beobachtungen der Körpersprache des Klienten mit, um ihn in Kontakt mit seinen aktuellen Bedürfnissen und Gefühlen zu bringen. Gisela Borgmann praktizierte bei der Behandlung von Julia B. solche Methoden nicht. Aber sie lenkte die Aufmerksamkeit der Patientin auf eine genaue Erkundung ihrer Ängste: Welche Angst hatte sie vor der Mutter, wie fühlte sich diese Angst körperlich an, von welchen Gedanken, von welchen weiteren Gefühlen war sie begleitet das sind die Annäherungsformen der Gesprächspsychotherapie. Man bleibt nicht stehen bei der Feststellung Ich habe Angst,sondern die Selbstreflexion wird erweitert. Indem Julia B. ihre eigenen Gefühle kennen- und anzunehmen lernte, gelang es ihr auch, ihre Mutter mit mehr Abstand zu betrachten. So wusste sie schon immer, dass die Mutter zwei Schwestern hatte, die im Kindesalter starben. Als sie ihre Großmutter fragte, wie die Mutter als Kind auf den Tod ihrer Schwestern reagiert habe, meinte diese, sie habe mit ihr nicht darüber gesprochen, denn sie sei ja damals zu klein gewesen, um das mitzubekommen. Aber die Mutter war beim ersten Tod acht Jahre alt gewesen und beim zweiten elf. Dass die Großmutter nicht mit der Mutter sprach, ist für Julia B. schwer zu verstehen. Aber dieses Wissen half ihr, Verständnis für ihre Mutter zu gewinnen. Julia B. ist durch die Therapie ausgeglichener und selbstbewusster geworden. Sie fand einen neuen Mann und ist mit ihrem Leben wieder zufrieden: Nach dieser Therapie, würde ich behaupten, bin ich ein sehr heiterer, lebensfroher, zufriedener Mensch. Das war ich vorher mit Sicherheit nicht. Ohne diese jahrelange seelische Reinigung wäre ich nicht dahin gekommen. Heute kann ich sagen, dass eine hässliche Kindheit durchaus positive Aspekte hat. Alles Üble hat man schon einmal hinter sich. Man kann die Welt wesentlich gelassener sehen. PH Literatur J. Eckert, E. Biermann-Ratjen, D. Höger (Hg.): Gesprächspsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis. Springer, Heidelberg 2006 E. T. Gendlin: Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. Reihe Leben lernen 119, Pfeiffer bei Klett-Cotta, Stuttgart 1998 Unsere achtteilige Therapieserie endet in der nächsten Ausgabe mit einer Vorstellung der Spirituellen Psychotherapie. Die Serie basiert auf einer Sendereihe, die im Frühjahr 2007 in SWR2 Leben zu hören war. Audiodateien der Sendungen gibt es unter www.swr2.de/leben. Neun Beiträge der Reihe gibt es als CD-Edition Therapien für die Seele unter www.shop-psy chologie-heute.de oder im Buchhandel. Die Psychologie Heute-Serie Psychotherapie : Heft 7/07: Integrative Therapie Heft 8/07: Psychoanalyse Heft 9/07: Verhaltenstherapie Heft 10/07: Körperpsychotherapie Heft 11/07: Hypnotherapie Heft 12/07: Systemische Familientherapie Heft 1/08: Gesprächspsychotherapie Heft 2/08: Spirituelle Psychotherapie J. Kriz: Grundkonzepte der Psychotherapie. Beltz, Weinheim 2001 M. Lux: Der Personzentrierte Ansatz und die Neurowissenschaften. Reinhardt, München 2007 R. Tausch, A.-M. Tausch: Gesprächspsychotherapie. Hogrefe, Göttingen 1990