Beeinträchtigung des Kindeswohls durch elterliche Partnerschaftsgewalt" Charakteristik und Mechanismen häuslicher Gewalt neueste Forschungsergebnisse Marion Ernst, Dipl.-Soziologin Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales Deutsche Richterakademie, Herbstakademie 2006 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 1
Definition Häusliche Gewalt bezeichnet Gewalt(straf)taten zwischen erwachsenen Personen in einer partnerschaftlichen Beziehung, die derzeit besteht, sich in Auflösung befindet oder aufgelöst ist (unabhängig vom Tatort, auch ohne gemeinsamen Wohnsitz) oder die (mit gemeinsamem Wohnsitz) in einem Angehörigenverhältnis zueinander stehen, "Handlungsrichtlinie für die polizeiliche Arbeit in Fällen häuslicher Gewalt"; Ministerium für Inneres, Familie, Frauen und Sport / Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes (HG), Juni 2005 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 2
Gewaltformen Körperliche Gewalt von der Ohrfeige bis zur Tötung: Stoßen, Treten, Schlagen, Verbrennen, Würgen, Waffengebrauch... Sexuelle Gewalt Vergewaltigung, Einführen von Gegenständen, erzwungene Handlungen, Erzwungenes Anschauen von Pornografie Psychische Gewalt Drohungen, Systematische Beschimpfungen und Demütigungen, Verfolgung, Isolation und Kontrolle Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 3
Prävalenzen: Männliche Gewaltopfer Pilot-Studie BMFSFJ keine repräsentativen Aussagen möglich Hinweise auf: * Gewaltbelastung im Erwachsenenalter deutlich geringer als in Kindheit und Jugend * Großteil der Gewalt gegen Erwachsene in der Öffentlichkeit * Täter ganz überwiegend Männer, ohne Beziehung zum Opfer gesicherte Erkenntnis: in der Partnerschaft kann jede Form der Gewalt vorkommen, auch schwere Geschlechtsspezifische Verteilung von Partnerschaftsgewalt hinsichtlich Häufigkeit, Schwere u. Verletzungsfolgen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Gewalt gegen Männer in Deutschland. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland. Pilotstudie 2004 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 4
Prävalenzen: Weibliche Gewaltopfer 25 % der in Deutschland lebenden Frauen zwischen 16 und 85 Jahren haben ein oder mehrmals körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch ihren aktuellen oder einen früheren Lebenspartner erfahren. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, 2004 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 5
Gewaltprävalenzen Migrantinnen BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 60 50 40 30 20 10 auch frühere Partner aktueller Partner 0 Osteurop. alle Frauen Flüchtlinge Türkinnen Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 6
Häufigkeit individueller Gewalterfahrung Fallbasis: Gewaltbetroffene BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 mehr als 10 33% einmalig 31% 2-10 Situationen 36% Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 7
Häufigkeit individueller Gewalterfahrung II Fallbasis: Weibliche Gesamtbevölkerung BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 8% 9% 8% keine Gewalt mehr als 10 Situationen 2-10 Situationen 1 Situation 75% Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 8
Dauer der Gewalt BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 10% 15% 12% 63% bis zu 1 Jahr bis zu 3 Jahren bis zu 10 Jahren mehr als 10 Jahre Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 9
Schwere der Gewalt BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, 2004 64 % der Betroffenen trugen Verletzungen davon Cluster-Analyse (keine bzw. eingeschränkte Repräsentativität) 1. 46 % geringe Häufigkeit und/oder Intensität 2. 17 % mäßige bis hohe Häufigkeit / Intensität 3. 37 % sehr hohe Häufigkeit / Intensität Cluster 3: Gewalt deutlich häufiger nach der Eheschließung u. im Kontext von Schwangerschaft u. Geburt, höchste Dauer und Steigerung Stärkere Bindung an den Partner durch Ehe, gemeinsamen Haushalt u. Kinder hält auch bei Gewalt -> längerer Verbleib, Zunahme von Häufigkeit und Intensität, kein Gewaltende in Beziehung (3 %) Faktoren der Cluster-Bildung: Schwere, Häufigkeit, Dauer, Modus der Beendigung Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, 2004 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 10
Gewalthandlungen Frühere Partner. Mehrfachnennungen BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 wütend weggeschubst 63 getreten, gestoßen 42 gedroht mich umzubringen verprügelt, zusammengeschlagen gewürgt 16 18 21 mit Waffe verletzt 3 Vergewaltigung, Nötigung 25 0 10 20 30 40 50 60 70 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 11
Körperverletzungen Mehrfachnennungen. Fallbasis: Gewaltbetroffene mit Verletzungsfolgen BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 Hämatome, Prellungen 90 Offene Wunden 20 Vaginale Verletzungen Knochenbrüche 4,5 10 Kopfverletzungen 18 Fehlgeburt innere Verletzungen 3,9 2,9 0 20 40 60 80 100 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 12
Gesundheitliche Auswirkungen im gynäkologischen Bereich Störungen der Menstruation Harnwegsinfektionen Schwangerschaftskomplikationen Verletzungen beim Fötus Früh- und Fehlgeburten niedriges Geburtsgewicht des Neugeborenen Hellbernd/Brzank: Wissenschaftliche Begleitung des S.I.G.N.A.L.Projektes; Hagemann-White: Expertise für den Landtag NRW; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen u. Jugend: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 13
Gesundheitliche Auswirkungen: psychosomatische Folgen Übelkeit, Brechreiz Schmerzzustände (o.b.) Schlafstörungen Magen-/ Darmbeschwerden Konzentrationsschwierigkeiten Suchtentwicklung (Nikotin, Medikamente, Alkohol) Essstörungen Erhöhte Krankheitsanfälligkeit Hellbernd/Brzank: Wissenschaftliche Begleitung des S.I.G.N.A.L.Projektes; Hagemann-White: Expertise für den Landtag NRW; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen u. Jugend: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 14
Gesundheitliche Auswirkungen: Psychische Folgewirkungen Angstzustände Scham- und Schuldgefühle Dauerndes Grübeln depressive Verstimmungen bis hin zu Suizidalität (Abgestumpftheit, innere Leere, Sinnlosigkeit, Antriebslosigkeit) Verlust von Selbstachtung und niedriger Selbstwert Reduktion der Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung (eigene Bedürfnisse, Gefühle, Interessen) Störungen des sexuellen Empfindens Angst vor Nähe und Intimität Hellbernd/Brzank: Wissenschaftliche Begleitung des S.I.G.N.A.L-Projektes; Hagemann-White: Expertise für den Landtag NRW; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen u. Jugend: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 15
Häusliche Gewalt: Vorurteile im Alltagswissen Männer, die ihre Frauen schlagen, sind psychisch krank Pack schlägt sich, Pack verträgt sich: Häusliche Gewalt ist ein Unterschicht-Problem Er schlägt nur, weil er getrunken hat Ein Bock stößt nie allein: Sie hat ihn wahrscheinlich provoziert Er war im Stress ihm ist halt mal die Hand ausgerutscht Sie könnte doch einfach gehen es wird nicht so schlimm sein BIG e.v: "Gewalt gegen Frauen im häuslichen Bereich. Alte Ziele Neue Wege"; Polizeipräsidium Berlin / BIG e.v.: "Polizeiliches Handeln in Fällen häusl. Gewalt"; Godenzi, Albert: "Gewalt im sozialen Nahraum", Basel und FFM, 1994 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 16
Hindernisse für die Loslösung aus einer Gewaltbeziehung Eigendynamik von Gewaltbeziehungen Schwächung der Opfer aufgrund der psychischen Folgewirkungen der Gewalt Sanktionsvermeidende Maßnahmen der Täter Mangelnde oder unangemessene Unterstützung durch das Umfeld (privat und/oder öffentlich) Angst vor Eskalation der Gewalt bei Trennung Schuldgefühle, den Kindern den Vater zu nehmen Wirtschaftliche Existenzängste Angst vor Einsamkeit Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 17
Gewaltspirale Phase 1: Gewalttat Phase 2: ( Honeymoon ) * Reue des Täters Bitten um Verzeihung, Versprechen, Umwerben * Hoffnung, u.u. neue Verliebtheit * Schweigen über die Gewalt Phase 3: Spannungsaufbau * Schuldverschiebung * zunehmend (verbal) aggressiver * weiterhin Schweigen über die Gewalt Steigerung von Intensität u. Frequenz Lenore E. Walker: Warum schlägst du mich?", München 1994 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 18
Verhaltensweisen und Strategien der Gewaltausübenden 1. Einflussnahme auf das Opfer: Zurücknahme des Strafantrags Nichterscheinen bei Gericht Inanspruchnahme Zeugnisverweigerungsrecht Zustimmung Täter-Opfer-Ausgleich 2. Falsche Darstellung des Sachverhalts Leugnen Bagatellisieren Motiv-Fälschung 3. Rechtfertigung der Gewalt Opferbeschuldigung (victim-blaming) Kontrollverlust Belastungssituation Die Darstellung beruht in Teilen auf Seminarunterlagen der Informationsstelle gegen Gewalt, Wien Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 19
Prüfkriterien zur Gefährdungsanalyse 1. Art und Intensität der aktuellen Gewalt 2. Waffenbesitz, Kenntnis von Kampfsporttechniken 3. Gewaltgeschichte gg. der Partnerin 4. Gewalt gegen Dritte 5. Alkohol- und Drogenkonsum 6. Ausgeprägtes Besitzdenken 7. Todes-, auch Suiziddrohungen 8. Situative Risikofaktoren Dr Lesley Laing: Risk Assessment in Domestic Violence; Australian Domestic & Family Violence Clearinghouse, 2004 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 20
Situative Risikofaktoren Trennung und Scheidung Schwangerschaft Arbeitslosigkeit Kausale Korrelationen traditionelle Geschlechtsrollen und Abhängigkeiten Gewalterfahrung in der Kindheit Alkohol- oder Drogensucht Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Dr Lesley Laing: Risk Assessment in Domestic Violence; Australian Domestic & Family Violence Clearinghouse, 2004 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 21
Gewalthandlungen aktuelle Partner (rot), frühere (blau), Mehrfachnennungen BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 wütend weggeschubst getreten, gestoßen gedroht mich umzubringen verprügelt, zusammengeschlagen gewürgt mit Waffe verletzt Vergewaltigung, Nötigung 3,6 4,1 3,5 3 1,2 6,1 21 18 21 16 25 42 63 75 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 22
Probleme im Kontext des Umgangs Mehrfachnennungen. Fallbasis: Cluster 3, Umgangsprobleme angegeben BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 drohte, mir/den Kindern etwas anzutun drohte die Kinder zu entführen 26,9 28,8 entführte die Kinder 9 griff mich körperlich an 41 griff die Kinder körperlich an versuchte mich umzubringen 11,1 14,6 versuchte die Kinder umzubringen 2,6 sonst. Probl. mit Gewalt/Drohung 26,4 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 23
Beteiligung der Kinder am Gewaltgeschehen Mehrfachnennungen. Fallbasis: letzte gewaltbel.beziehung, Kinder im Haushalt BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 2004 Die Kinder haben die Situation angehört 57 % haben die Situation gesehen 50 % gerieten in die Auseinandersetzung mit hinein 21 % haben versucht, mich zu verteidigen oder zu schützen 25 % haben versucht, meinen Partner zu verteidigen 2 % wurden selber körperlich angegriffen 10 % haben nichts mitbekommen 23 % weiß nicht, ob Kinder etwas mitbekommen haben 11 % Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 24
. Vielen Dank! Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, Miniterium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 25