Aktuelle Fragen bei der Anwendung der Dublin II-Verordnung in der Schweiz

Ähnliche Dokumente
Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

A., geboren B., Tunesien, Beschwerdeführer,

Einzelrichter Daniel Willisegger, mit Zustimmung von Richter Hans Schürch; Gerichtsschreiber Michal Koebel.

Beschwerdeführende 1-6,

(AsylG) (Dringliche Änderungen des Asylgesetzes)

Teilrevision Asylgesetz

ZSBA Quartalsveranstaltung

U r t e i l v o m 5. A p r i l

Beschwerdeführerinnen,

und G., geboren ( ), alias H., geboren ( ), Beschwerdeführende, Bundesamt für Migration (BFM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

U r t e i l v o m 2 0. A p r i l

U r t e i l v o m 2. J u l i

Bundesbeschluss. Entwurf

U r t e i l v o m 26. M ä r z

Umgang des Rechtsstaates mit Ausschaffungshaft Nationale und internationale Fragestellungen: Ausschaffungshaft und das Dublin-System

A., geboren ( ), Sri Lanka, Beschwerdeführer,

A., geboren am ( ), Guinea, Beschwerdeführer, Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Liechtensteinisches Landesgesetzblatt

vom Art. 1 Art. 2 Das Bundesgesetz vom 16. Dezember über die Ausländerinnen und Ausländer wird wie folgt geändert:

A., geboren ( ), Äthiopien, Beschwerdeführer, Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (Ausländergesetz, AuG)

Staatssekretariat für Migration (SEM; zuvor Bundesamt für Migration, BFM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz

A., geboren ( ), Eritrea, Beschwerdeführerin,

Staatssekretariat für Migration (SEM; vormals Bundesamt für Migration, BFM) Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Asyl- und Aufenthaltsrecht 4. Vorlesung: Fortsetzung: Ablauf des Asylverfahrens. RLC Leipzig, Dr. Carsten Hörich

Einzelrichter Fulvio Haefeli, mit Zustimmung von Richter Hans Schürch; Gerichtsschreiberin Karin Schnidrig. Beschwerdeführer,

Neue Umschreibung der Zumutbarkeit der Wegweisung Verbesserte Rechtsstellung (Familiennachzug

Basics Asylrecht Weinfelden, 16. Februar 2017 Esther Potztal, MA Legal Studies

U r t e i l v o m 2 4. J a n u a r

Handbuch Asyl und Rückkehr

Art. 2 Sachüberschrift, Abs. 1, 2 und 3 Beginn der Vollzugsunterstützung

Teilrevision Asylgesetz: Internationaler Vergleich nach ausgewählten Themen

A., geboren am ( ), Gambia, Beschwerdeführer, Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

U r t e i l v o m 3 0. O k t o b e r

Flüchtlinge in der Schweiz. Zahlen, Fakten und Perspektiven

A., geboren am ( ), Angola, vertreten durch Alfred Ngoyi Wa Mwanza, Beschwerdeführer,

Table des matières. Zitierung der Schengen- oder Dublin-Assoziierungsabkommen in einem Gesetz (Gesamtpaket)

Protokoll

3.5.1 Anerkannter Asylberechtigter ( 25 I AufenthG) und kleines Asyl" ( 25 II AufenthG) Ausschlussgründe, Erlaubnisfiktion ( 25 I Satz 2,

Einzelrichterin Daniela Brüschweiler, mit Zustimmung von Richter Thomas Wespi; Gerichtsschreiberin Karin Fischli. F.

B., geboren am ( ), beide Kolumbien, Beschwerdeführende, Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Schweizer Asylverfahren

Einzelrichter Markus König, mit Zustimmung von Richterin Esther Marti; Gerichtsschreiber Nicholas Swain. A., geboren am ( ), Irak, Beschwerdeführer,

U r t e i l v o m 3 0. A p r i l

U r t e i l v o m 9. O k t o b e r

20 Minuten Infografik

Faktencheck Flucht & Asyl KF Willich

Asyl- und Aufenthaltsrecht 3. Vorlesung: Ablauf des Asylverfahrens. RLC Leipzig, Dr. Carsten Hörich

U r t e i l v o m 5. S e p t e m b e r

Einzelrichterin Contessina Theis, Richter Gérard Scherrer, Gerichtsschreiberin Susanne Bolz. B., geboren ( ),

ZSBA Quartalsveranstaltung

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Einführungsgesetz zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und zum Asylgesetz. Zuständiges Departement

Dieser Text ist ein Vorabdruck. Verbindlich ist die Version, welche in der Amtlichen Sammlung veröffentlicht wird.

Richterin Muriel Beck Kadima (Vorsitz), Richter Bendicht Tellenbach, Richterin Emilia Antonioni Luftensteiner, Gerichtsschreiberin Alexandra Püntener.

Vorschlag für eine VERORDNUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES

Dieses Dokument ist lediglich eine Dokumentationsquelle, für deren Richtigkeit die Organe der Gemeinschaften keine Gewähr übernehmen

Integration der anerkannten Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen (VA/FL)

Einzelrichter Simon Thurnheer, mit Zustimmung von Richter Martin Kayser; Gerichtsschreiberin Irina Wyss. A., geboren am ( ), Türkei, Beschwerdeführer,

A., geboren am ( ), Syrien, Beschwerdeführerin, Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

E., geboren am ( ), und deren Kinder. Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

A., geboren am ( ), Eritrea, vertreten durch MA Judith Nydegger, Beschwerdeführer,

Wiederholungseinheit RA in Pauline Endres de Oliveira, Dozentin RLC

U r t e i l v o m 1 8. M ä r z

Dublin IV Verordnung Vorschlag der EU Kommission Mai Nicole Viusa

Richterin Muriel Beck Kadima (Vorsitz), Richter Pietro Angeli Busi, Richter Kurt Gysi, Gerichtsschreiberin Alexandra Püntener. H.

A., geboren am ( ), Iran, Beschwerdeführer, Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Einzelrichter David R. Wenger, mit Zustimmung von Richter Hans Schürch; Gerichtsschreiberin Eliane Kohlbrenner. A., geboren am ( ), Eritrea,

Bundesgesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten

Vorläufige Aufnahme. Expert_innen-Kolloquium des Zentrums für Migrationsrecht Fribourg, 11. Dezember Constantin Hruschka, Leiter Protection SFH

U r t e i l v o m 7. J u n i 2018

Richterin Daniela Brüschweiler (Vorsitz), Richterin Barbara Balmelli, Richterin Claudia Cotting-Schalch, Gerichtsschreiberin Susanne Burgherr.

Bundesgesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten

Einführungsgesetz zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und zum Asylgesetz. Zuständiges Departement

U r t e i l v o m 2 0. F e b r u a r

Neuerungen durch die Dublin-IV-Verordnung Deutsche Version ineumanity.noblogs.org // ineumanity.eu

1 Allgemeine Bestimmungen

Abgeschlossen durch Notenaustausch vom 11. Juli 2013 Inkrafttreten: 11. Juli 2013

Vorwort... 3 Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis I Einführung Vom Dubliner Übereinkommen über die Dublin II- zur

Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer

Kantonswechsel von Drittstaatsangehörigen

Menschen ohne Rechte? Migrationspolitik in Europa. Dr. Julia Schulze Wessel

U r t e i l v o m 2 8. S e p t e m b e r

Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. (Veröffentlichungsbedürftige Rechtsakte)

Schweizer Asylverfahren. Freiplatzaktion Zürich Rechtshilfe Asyl und Migration

A., geboren am ( ), Sri Lanka, Beschwerdeführer, gegen. Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Das Asylverfahren: Ablauf und Entscheidungsmöglichkeiten. Universität Regensburg, Referent: RA Philipp Pruy, Regensburg

A., geboren am ( ), Côte d'ivoire, Beschwerdeführer, Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Rundschreiben zur Praxis bei der Anwesenheitsregelung von ausländischen Personen in schwerwiegenden persönlichen Härtefällen (vom 1.

Überblick aktueller Sonderregelungen für Personen aus sicheren Herkunftsstaaten

A., geboren am ( ), alias C., geboren am ( ), gegen. Staatssekretariat für Migration SEM, Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Asylverfahren aus Sicht des Verwaltungsrichters. Dr. Thomas Smollich Asylverfahren aus Sicht des Verwaltungsrichters

Handbuch Asyl und Rückkehr

Richter Andreas Trommer (Vorsitz), Richter Jean Daniel Dubey, Richter Blaise Vuille, Gerichtsschreiber Julius Longauer.

Situation von unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland, rechtliche Grundlagen des Asyl- und Aufenthaltsrechts und die Praxis ein Überblick

A., geboren am ( ), Kongo (Kinshasa), vertreten durch Alfred Ngoyi Wa Mwanza, Consultation juridique pour étrangers, Beschwerdeführerin,

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Ablauf der Referendumsfrist: 7. April 2018 (1. Arbeitstag: 9. April 2018)

Transkript:

Neue Entwicklungen im deutschen und europäischen Flüchtlingsrecht 26./27. November 2009 / Tagungszentrum Hohenheim Aktuelle Fragen bei der Anwendung der Dublin II-Verordnung in der Schweiz Muriel Beck Kadima Richterin Bundesverwaltungsgericht (Abteilung V - Asyl) Postfach 3000 Bern 14 Telefon: +41 (0)58 705 28 05 E-Mail: muriel.beck@bvger.admin.ch 1

Internet: http://www.bvger.ch Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Richterkolleginnen und -kollegen Es ehrt mich sehr, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf und ich möchte mich bei den VeranstalterInnen ganz herzlich für die Einladung bedanken. Es dürften sich wohl noch kaum Schweizer Richterinnen und Richter zu dieser Thematik im Ausland geäussert haben. Dies aus dem einfachen Grund, weil die sogenannten Dublin-Verfahren erst seit dem 12. Dezember 2008 in der Schweiz in Anwendung sind. Sie können sich vorstellen, dass sich uns als Unerfahrene in der Anwendung von EU-Gesetzgebung zuerst einmal etliche Umsetzungsfragen stellten. Gliederung 1. Ausgestaltung des Schweizer Rechts i.s. Dublin-Verfahren 1.1. Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin 1.2. Landesrecht 2. Exkurs in die Asylstatistik seit Anwendung der Dublin II-Verordnung 3. Verfahrenspraxis der Vorinstanz 3.1. Eröffnungspraxis 3.2. Selbsteintritt 4. Bisher ausgemachte Problemfelder 4.1. verfahrensrechtlicher Natur 4.2. materiellrechtlicher Natur 2

1. Ausgestaltung des Schweizer Rechts i.s. Dublin-Verfahren Zuerst möchte ich Ihnen nun darlegen, wie das Schweizer Recht auf dem Gebiet der Dublin-Verfahren ausgestaltet ist. 1.1. Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin Mit Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin im Rahmen der 2. bilateralen Abkommen mit der EU ist die Schweiz mit dem Besitzstand der EU und dessen Fortentwicklung in diesen Bereichen assoziiert. vgl. DAA, SR 0.142.392.68: Abkommen vom 26. Oktober zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags Die verbindlichen Rechtsakte sind in den Assoziierungsabkommen aufgelistet. Diese Abkommen wurden am 26. Oktober 2004 unterzeichnet und traten am 1. März 2008 in Kraft. Konkret bedeutet das, dass die Dublin Zuständigkeitsverordnung (EG) Nr. 343/2003 Dublin II-VO zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist die Durchführungsbestimmungen (DVO) zu dieser Verordnung Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist sowie die EURODAC-Verordnungen (VO [EG] Nr. 2725/2000 und DVO [EG] Nr. 407/2002) für die Schweiz volle Gültigkeit haben. 1.2. Landesrecht Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 über Verfahrensfragen (AsylV 1, SR 142.311) Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG, SR 142.20) 3

Im innerstaatlichen Recht wurde insbesondere ein neuer Nichteintretenstatbestand ins Asylgesetz aufgenommen, namentlich Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG Art. 34 AsylG Nichteintreten bei Sicherheit vor Verfolgung im Ausland 1 Auf Gesuche von Asylsuchenden aus verfolgungssicheren Staaten nach Artikel 6a Absatz 2 Buchstabe a wird nicht eingetreten, ausser es gebe Hinweise auf eine Verfolgung. 2 Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende: a. in einen sicheren Drittstaat nach Artikel 6a Absatz 2 Buchstabe b zurückkehren können, in welchem sie sich vorher aufgehalten haben; b. in einen Drittstaat zurückkehren können, in welchem sie sich vorher aufgehalten haben und im Einzelfall effektiver Schutz vor Rückschiebung nach Artikel 5 Absatz 1 besteht; c. in einen Drittstaat weiterreisen können, für welchen sie ein Visum besitzen und in welchem sie um Schutz nachsuchen können; d. in einen Drittstaat ausreisen können, welcher für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist; e. in einen Drittstaat weiterreisen können, in dem Personen, zu denen sie enge Beziehungen haben, oder nahe Angehörige leben. 3 Absatz 2 findet keine Anwendung, wenn: a. Personen, zu denen die asylsuchende Person enge Beziehungen hat, oder nahe Angehörige in der Schweiz leben; b. die asylsuchende Person offensichtlich die Flüchtlingseigenschaft nach Artikel 3 erfüllt; c. Hinweise darauf bestehen, dass im Drittstaat kein effektiver Schutz vor Rückschiebung nach Artikel 5 Absatz 1 besteht. Verfahrensrechtlich ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass wir zwar den Grundsatz von Art. 19 Abs. 2 der Dublin II-Verordnung übernommen haben, nämlich dass Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben. Indessen kann unser Gericht nach Art. 107a AsylG die aufschiebende Wirkung gewähren, wenn begründete Anhaltspunkte für eine Verletzung der EMRK vorliegen. Art. 107a Asylgesetz Verfahren gemäss Dublin Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide bei Gesuchen von Asylsuchenden, die in einen Staat ausreisen können, der staatsvertraglich für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens zuständig ist, haben keine aufschiebende Wirkung. Liegen begründete Anhaltspunkte für eine Verletzung der durch die Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechte durch diesen Staat vor, so kann die aufschiebende Wirkung gewährt werden. Zu beachten ist im Weiteren, dass es in der Schweiz im Asylwesen nur eine Rechtsmittelinstanz gibt, das Bundesverwaltungsgericht, welches letztinstanzlich entscheidet. 4

Im Weiteren fand Art. 29a Asylverordnung 1 Aufnahme: Art. 29a AsylV1 Zuständigkeitsprüfung nach Dublin (Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG) 1 Das BFM prüft die Zuständigkeit zur Behandlung eines Asylgesuchs nach den Kriterien, die in der Verordnung (EG) Nr. 343/20032 geregelt sind. 2 Ergibt die Prüfung, dass ein anderer Staat für die Behandlung des Asylgesuches zuständig ist, und hat dieser Staat der Aufnahme oder Wiederaufnahme der asylsuchenden Person zugestimmt, so fällt das BFM einen Nichteintretensentscheid. 3 Das BFM kann aus humanitären Gründen das Gesuch auch dann behandeln, wenn die Prüfung ergeben hat, dass ein anderer Staat dafür zuständig ist. 4 Das Verfahren für die Aufnahme oder Wiederaufnahme der asylsuchenden Person durch den zuständigen Staat richtet sich nach der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 2. Exkurs in die Asylstatistik seit Anwendung der Dublin II-Verordnung Gemäss Asylstatistik des Bundesamts für Migration vom 16. Oktober 2009 fiel die Bilanz des Dublin-Abkommens positiv aus. Von Januar bis Ende September 2009 wurden total 12 136 Asylgesuche in der Schweiz eingereicht. Seit Beginn der Anwendung des Dublin-Abkommens am 12. Dezember 2008 bis Ende September 2009, hat die Schweiz bei 4'020 Personen (1. Quartal 1 997, 2. Quartal 1'500 und 3. Quartal 1'523 Personen) um Übernahme in einen anderen Dublin-Staat ersucht, wobei die Zahl in jedem Quartal gestiegen ist. Bei 3'045 Personen (1. Quartal 564, 2. Quartal 1'114 und 3. Quartal 1'367 Personen) wurde die Zustimmung zur Überstellung erteilt. Bis Ende September 2009 konnten 1'161 (1. Quartal 140, 2. Quartal 407 und im 3. Quartal 614 Personen) asylsuchende Personen den zuständigen Dublin-Staaten zugeführt werden. Bei 1'884 Personen ist die Überstellung in die Wege geleitet. 5

Die Schweiz hat bis heute von anderen Dublin-Staaten 331 Ersuchen (1. Quartal 52, 2. Quartal 117 und 3. Quartal 162 Ersuchen) um Übernahme erhalten. 262 Anfragen wurde zugestimmt, 105 Personen (1. Quartal 7, 2. Quartal 33 und 3. Quartal 65 Personen) wurden der Schweiz bereits überstellt. Es erstaunt also nicht, dass das BFM bilanziert, dass die Erfahrungen mit dem Assoziierungsabkommen Dublin nach etwas mehr als neun Monaten seit Inkraftsetzung des Übereinkommens positiv ausfallen. Die Zusammenarbeit mit den Dublin-Staaten funktioniere gut. Gestützt auf das Abkommen habe die Schweiz bisher deutlich mehr Personen in andere Dublin-Staaten überstellen können als sie selbst übernehmen musste. Eher erstaunen sollte uns, dass beim Bindesverwaltungsgericht nur etwa 130 Beschwerden in Dublin-Verfahren eingegangen sind. Deshalb lohnt sich wohl ein kurzer Einblick in die vorinstanzliche Verfahrenspraxis. 3. Verfahrenspraxis der Vorinstanz Im Lauf der Erstbefragung wird grundsätzlich das rechtliche Gehör zu einer allfälligen Wegweisung in einen Dublin-Staat gewährt. Da es nicht zu einer zweiten Anhörung kommt, wie in andern Verfahren üblich, werden diese Befragungen nicht in Anwesenheit eines Hilfswerkvertreters durchgeführt. 3.1. Eröffnungspraxis Wie in zahlreichen andern Dublin-Staaten eröffnet unsere Vorinstanz, das Bundesamt für Migration, bzw. die damit beauftragten kantonalen Migrationsbehörden Verfügungen in Dublin-Verfahren nicht zum Zeitpunkt wenn sie erstellt werden, sondern kurz vor der Überstellung des Asylsuchenden oder kurz bevor sie diesen im Hinblick auf die Überstellung in Haft nehmen (Art. 76 AuG, höchstens 20 Tage zur Sicherstellung des 6

Vollzugs). Dabei wird der sofortige Vollzug angeordnet 1. Diese Eröffnungspraxis der Vorinstanz tangiert direkt das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK. Denn diese kann dazu führen, dass eine Beschwerde nicht vor der Überstellung der betroffenen Person an unser Gericht gelangt. Und dies wiederum bedeutet, dass das Gericht eine allfällige aufschiebende Wirkung nicht rechtzeitig anordnen kann. Das Bundesamt für Migration stützt sich dabei auf die Vermutung, dass hinsichtlich Dublin- Staaten keine Hinweise auf EMRK-Verletzungen vorliegen, weshalb wohl kaum eine aufschiebende Wirkung der Beschwerde gewährt werden muss. Damit nimmt es klar den Entscheid des Gerichts vorweg. Es stellt sich damit also z.b. die Frage, ob ein sofortiger Vollzug Art. 19 Abs. 2 Dublin II- Verordnung verletzt, welcher die Angabe einer Überstellungsfrist fordert. Oder ob mit dieser Praxis die freiwillige Ausreise verunmöglicht wird. Soll deshalb eine nach Tagen berechnete Ausreisefrist angeordnet werden? Soll auch für die Prüfung, ob die aufschiebende Wirkung angeordnet werden soll, eine Behandlungsfrist für das Gericht gesetzt werden, bevor die Wegweisung vollzogen werden darf? Im Weiteren wird bei einem vertretenen Asylsuchenden die Verfügung direkt an den Asylsuchenden und lediglich mit Telefaxkopie an die Rechtsvertretung eröffnet 2. Es stellen sich also weitere rechtliche Fragen in Bezug auf diese Eröffnungspraxis. 3.2. Selbsteintritt/Souveränitätsklausel Das Bundesamt für Migration wendet Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO bei Asylsuchenden aus Griechenland an, die vulnerable groups angehören, also Kranke, Betagte, Minderjährige oder Familien mit Kleinkindern. Ansonsten ist eine Anwendung nicht bekannt. Das Gericht hat vor, in einem weiteren Grundsatzentscheid, sich der Frage des Ermessens bei der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO zu widmen. 1 Dies hat sich nach dem Grundsatzentscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Februar 2010 (E- 5841/2009), in welchem diese Praxis als EMRK- und verfassungswidrig erachtet wurde, weil kein effektiver Rechtsschutz gewährt wäre, geändert. Nun wird der Vollzug der Überstellung (bzw. Wegweisung) auf den Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist angeordnet. 2 Auch diese Praxis hat sich nach Publikation des unter FN 1 erwähnten Grundsatzentscheids geändert; in diesem wurde festgehalten, dass die Verfügung erst dann als korrekt eröffnet gilt, nachdem sie dem Rechtsvertreter per Post zu gestellt wurde. 7

4. Bisher vom Gericht ausgemachte Problemfelder 4.1. Verfahrensrechtlich Themen Gültige Eröffnung bei vertretenen Asylsuchenden Auswirkungen einer mangelhaften Eröffnung Zeitliche Verzögerung der Eröffnung Beschwerde vor eröffnetem Entscheid Verletzung des rechtlichen Gehörs (z.b. weil Vorbringen erst eingebracht werden, nachdem Verfügung schon ergangen, aber noch nicht eröffnet wurde) Akteneinsichtsrecht während des Verfahrens Zeitpunkt der Akteneinsicht Ausschaffungshaft trotz mangelhafter Eröffnung Frage der Zuständigkeit Recht auf wirksame Beschwerden (Art. 13 EMRK) 4.2. Materiellrechtlich Themen Anwendbares Recht Rechtsnatur der bilateralen Verträge direkte/indirekte Wirkung subjektive Rechte 3 bzw. self-executing Charakter der Dublin-II-VO Nachvollzug der EuGH-Rechtsprechung Beweislast/Beweisumfang einer Verletzung der EMRK/Kettenabschiebung durch den Dublin- Zielstaat auf den Ebenen: - aufschiebende Wirkung - in der Hauptsache Rolle europäischer oder internationaler Institutionen (EU-Kommission, EuGH, EGMR etc.) Zulässigkeit/Zumutbarkeit - Prüfungsumfang - Prüfungsebene Prüfungsinhalt unter dem Titel Wegweisung? Anwendung von Art. 3 Abs. 2 (Selbsteintritt) Kognition des BVGer (Ermessensüberprüfung) Abgrenzung zu Art. 15 (humanitäre Klausel) Es gibt also noch keine Rechtssprechung zu diesen einzelnen Punkten, das Gericht ist aber an der Ausarbeitung mehrerer Grundsatzurteile bzw. Arbeitspapiere dazu. Lassen Sie mich zum Schluss erläutern, weshalb auf obiger Liste die Frage erscheint, was 3 Dieses Konzept wird im Schweizer Recht nicht angewandt. 8

unter dem Titel Wegweisung zu prüfen sei. Gemäss dem Schweizer Asylverfahren wird eine zweistufige Prüfung vorgenommen: Zuerst wird geprüft, ob die asylsuchende Person die Flüchtlingseigenschaft erfüllt und Asyl erhält. Bei Verneinung dieser Frage wird in einem zweiten Schritt geprüft, ob die Wegweisung zulässig, zumutbar und möglich ist (Art. 44 Abs. 2 AsylG i.v.m. Art. 83 AuG). Mit der Souveränitätsklausel von Art. 3 Abs. 2 der Dublin-VO scheint nun dieses zweistufige Prüfungsschema nicht mehr anwendbar. Denn es kann nicht sein, dass bei der Eintrittsfrage zuerst festgestellt wird, dass kein Anlass besteht, gestützt auf Art. 3 Abs. 2 Dublin-VO selbst auf das Asylgesuch einzutreten trotz Zuständigkeit eines andern Dublin-Staates, um sodann festzustellen, dass eine Überstellung nicht zulässig oder nicht zumutbar sein soll. Also wird wohl festzustellen sein, dass sich eine Überprüfung der Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit des Vollzugs der Überstellung bzw. Wegweisung nach Art. 44 Abs. 2 AsylG erübrigt (zumal die Regelfolge nach Art. 83 AuG die sogenannte vorläufige Aufnahme wäre). Zur Zeit beinhalten die Verfügungen des Bundesamtes weiterhin dieses Prüfungsschema. Das Gericht ist teilweise bereits davon abgewichen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit 9