Neue Entwicklungen im deutschen und europäischen Flüchtlingsrecht 26./27. November 2009 / Tagungszentrum Hohenheim Aktuelle Fragen bei der Anwendung der Dublin II-Verordnung in der Schweiz Muriel Beck Kadima Richterin Bundesverwaltungsgericht (Abteilung V - Asyl) Postfach 3000 Bern 14 Telefon: +41 (0)58 705 28 05 E-Mail: muriel.beck@bvger.admin.ch 1
Internet: http://www.bvger.ch Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Richterkolleginnen und -kollegen Es ehrt mich sehr, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf und ich möchte mich bei den VeranstalterInnen ganz herzlich für die Einladung bedanken. Es dürften sich wohl noch kaum Schweizer Richterinnen und Richter zu dieser Thematik im Ausland geäussert haben. Dies aus dem einfachen Grund, weil die sogenannten Dublin-Verfahren erst seit dem 12. Dezember 2008 in der Schweiz in Anwendung sind. Sie können sich vorstellen, dass sich uns als Unerfahrene in der Anwendung von EU-Gesetzgebung zuerst einmal etliche Umsetzungsfragen stellten. Gliederung 1. Ausgestaltung des Schweizer Rechts i.s. Dublin-Verfahren 1.1. Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin 1.2. Landesrecht 2. Exkurs in die Asylstatistik seit Anwendung der Dublin II-Verordnung 3. Verfahrenspraxis der Vorinstanz 3.1. Eröffnungspraxis 3.2. Selbsteintritt 4. Bisher ausgemachte Problemfelder 4.1. verfahrensrechtlicher Natur 4.2. materiellrechtlicher Natur 2
1. Ausgestaltung des Schweizer Rechts i.s. Dublin-Verfahren Zuerst möchte ich Ihnen nun darlegen, wie das Schweizer Recht auf dem Gebiet der Dublin-Verfahren ausgestaltet ist. 1.1. Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin Mit Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin im Rahmen der 2. bilateralen Abkommen mit der EU ist die Schweiz mit dem Besitzstand der EU und dessen Fortentwicklung in diesen Bereichen assoziiert. vgl. DAA, SR 0.142.392.68: Abkommen vom 26. Oktober zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags Die verbindlichen Rechtsakte sind in den Assoziierungsabkommen aufgelistet. Diese Abkommen wurden am 26. Oktober 2004 unterzeichnet und traten am 1. März 2008 in Kraft. Konkret bedeutet das, dass die Dublin Zuständigkeitsverordnung (EG) Nr. 343/2003 Dublin II-VO zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist die Durchführungsbestimmungen (DVO) zu dieser Verordnung Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist sowie die EURODAC-Verordnungen (VO [EG] Nr. 2725/2000 und DVO [EG] Nr. 407/2002) für die Schweiz volle Gültigkeit haben. 1.2. Landesrecht Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 über Verfahrensfragen (AsylV 1, SR 142.311) Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG, SR 142.20) 3
Im innerstaatlichen Recht wurde insbesondere ein neuer Nichteintretenstatbestand ins Asylgesetz aufgenommen, namentlich Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG Art. 34 AsylG Nichteintreten bei Sicherheit vor Verfolgung im Ausland 1 Auf Gesuche von Asylsuchenden aus verfolgungssicheren Staaten nach Artikel 6a Absatz 2 Buchstabe a wird nicht eingetreten, ausser es gebe Hinweise auf eine Verfolgung. 2 Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende: a. in einen sicheren Drittstaat nach Artikel 6a Absatz 2 Buchstabe b zurückkehren können, in welchem sie sich vorher aufgehalten haben; b. in einen Drittstaat zurückkehren können, in welchem sie sich vorher aufgehalten haben und im Einzelfall effektiver Schutz vor Rückschiebung nach Artikel 5 Absatz 1 besteht; c. in einen Drittstaat weiterreisen können, für welchen sie ein Visum besitzen und in welchem sie um Schutz nachsuchen können; d. in einen Drittstaat ausreisen können, welcher für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist; e. in einen Drittstaat weiterreisen können, in dem Personen, zu denen sie enge Beziehungen haben, oder nahe Angehörige leben. 3 Absatz 2 findet keine Anwendung, wenn: a. Personen, zu denen die asylsuchende Person enge Beziehungen hat, oder nahe Angehörige in der Schweiz leben; b. die asylsuchende Person offensichtlich die Flüchtlingseigenschaft nach Artikel 3 erfüllt; c. Hinweise darauf bestehen, dass im Drittstaat kein effektiver Schutz vor Rückschiebung nach Artikel 5 Absatz 1 besteht. Verfahrensrechtlich ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass wir zwar den Grundsatz von Art. 19 Abs. 2 der Dublin II-Verordnung übernommen haben, nämlich dass Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben. Indessen kann unser Gericht nach Art. 107a AsylG die aufschiebende Wirkung gewähren, wenn begründete Anhaltspunkte für eine Verletzung der EMRK vorliegen. Art. 107a Asylgesetz Verfahren gemäss Dublin Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide bei Gesuchen von Asylsuchenden, die in einen Staat ausreisen können, der staatsvertraglich für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens zuständig ist, haben keine aufschiebende Wirkung. Liegen begründete Anhaltspunkte für eine Verletzung der durch die Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechte durch diesen Staat vor, so kann die aufschiebende Wirkung gewährt werden. Zu beachten ist im Weiteren, dass es in der Schweiz im Asylwesen nur eine Rechtsmittelinstanz gibt, das Bundesverwaltungsgericht, welches letztinstanzlich entscheidet. 4
Im Weiteren fand Art. 29a Asylverordnung 1 Aufnahme: Art. 29a AsylV1 Zuständigkeitsprüfung nach Dublin (Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG) 1 Das BFM prüft die Zuständigkeit zur Behandlung eines Asylgesuchs nach den Kriterien, die in der Verordnung (EG) Nr. 343/20032 geregelt sind. 2 Ergibt die Prüfung, dass ein anderer Staat für die Behandlung des Asylgesuches zuständig ist, und hat dieser Staat der Aufnahme oder Wiederaufnahme der asylsuchenden Person zugestimmt, so fällt das BFM einen Nichteintretensentscheid. 3 Das BFM kann aus humanitären Gründen das Gesuch auch dann behandeln, wenn die Prüfung ergeben hat, dass ein anderer Staat dafür zuständig ist. 4 Das Verfahren für die Aufnahme oder Wiederaufnahme der asylsuchenden Person durch den zuständigen Staat richtet sich nach der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 2. Exkurs in die Asylstatistik seit Anwendung der Dublin II-Verordnung Gemäss Asylstatistik des Bundesamts für Migration vom 16. Oktober 2009 fiel die Bilanz des Dublin-Abkommens positiv aus. Von Januar bis Ende September 2009 wurden total 12 136 Asylgesuche in der Schweiz eingereicht. Seit Beginn der Anwendung des Dublin-Abkommens am 12. Dezember 2008 bis Ende September 2009, hat die Schweiz bei 4'020 Personen (1. Quartal 1 997, 2. Quartal 1'500 und 3. Quartal 1'523 Personen) um Übernahme in einen anderen Dublin-Staat ersucht, wobei die Zahl in jedem Quartal gestiegen ist. Bei 3'045 Personen (1. Quartal 564, 2. Quartal 1'114 und 3. Quartal 1'367 Personen) wurde die Zustimmung zur Überstellung erteilt. Bis Ende September 2009 konnten 1'161 (1. Quartal 140, 2. Quartal 407 und im 3. Quartal 614 Personen) asylsuchende Personen den zuständigen Dublin-Staaten zugeführt werden. Bei 1'884 Personen ist die Überstellung in die Wege geleitet. 5
Die Schweiz hat bis heute von anderen Dublin-Staaten 331 Ersuchen (1. Quartal 52, 2. Quartal 117 und 3. Quartal 162 Ersuchen) um Übernahme erhalten. 262 Anfragen wurde zugestimmt, 105 Personen (1. Quartal 7, 2. Quartal 33 und 3. Quartal 65 Personen) wurden der Schweiz bereits überstellt. Es erstaunt also nicht, dass das BFM bilanziert, dass die Erfahrungen mit dem Assoziierungsabkommen Dublin nach etwas mehr als neun Monaten seit Inkraftsetzung des Übereinkommens positiv ausfallen. Die Zusammenarbeit mit den Dublin-Staaten funktioniere gut. Gestützt auf das Abkommen habe die Schweiz bisher deutlich mehr Personen in andere Dublin-Staaten überstellen können als sie selbst übernehmen musste. Eher erstaunen sollte uns, dass beim Bindesverwaltungsgericht nur etwa 130 Beschwerden in Dublin-Verfahren eingegangen sind. Deshalb lohnt sich wohl ein kurzer Einblick in die vorinstanzliche Verfahrenspraxis. 3. Verfahrenspraxis der Vorinstanz Im Lauf der Erstbefragung wird grundsätzlich das rechtliche Gehör zu einer allfälligen Wegweisung in einen Dublin-Staat gewährt. Da es nicht zu einer zweiten Anhörung kommt, wie in andern Verfahren üblich, werden diese Befragungen nicht in Anwesenheit eines Hilfswerkvertreters durchgeführt. 3.1. Eröffnungspraxis Wie in zahlreichen andern Dublin-Staaten eröffnet unsere Vorinstanz, das Bundesamt für Migration, bzw. die damit beauftragten kantonalen Migrationsbehörden Verfügungen in Dublin-Verfahren nicht zum Zeitpunkt wenn sie erstellt werden, sondern kurz vor der Überstellung des Asylsuchenden oder kurz bevor sie diesen im Hinblick auf die Überstellung in Haft nehmen (Art. 76 AuG, höchstens 20 Tage zur Sicherstellung des 6
Vollzugs). Dabei wird der sofortige Vollzug angeordnet 1. Diese Eröffnungspraxis der Vorinstanz tangiert direkt das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK. Denn diese kann dazu führen, dass eine Beschwerde nicht vor der Überstellung der betroffenen Person an unser Gericht gelangt. Und dies wiederum bedeutet, dass das Gericht eine allfällige aufschiebende Wirkung nicht rechtzeitig anordnen kann. Das Bundesamt für Migration stützt sich dabei auf die Vermutung, dass hinsichtlich Dublin- Staaten keine Hinweise auf EMRK-Verletzungen vorliegen, weshalb wohl kaum eine aufschiebende Wirkung der Beschwerde gewährt werden muss. Damit nimmt es klar den Entscheid des Gerichts vorweg. Es stellt sich damit also z.b. die Frage, ob ein sofortiger Vollzug Art. 19 Abs. 2 Dublin II- Verordnung verletzt, welcher die Angabe einer Überstellungsfrist fordert. Oder ob mit dieser Praxis die freiwillige Ausreise verunmöglicht wird. Soll deshalb eine nach Tagen berechnete Ausreisefrist angeordnet werden? Soll auch für die Prüfung, ob die aufschiebende Wirkung angeordnet werden soll, eine Behandlungsfrist für das Gericht gesetzt werden, bevor die Wegweisung vollzogen werden darf? Im Weiteren wird bei einem vertretenen Asylsuchenden die Verfügung direkt an den Asylsuchenden und lediglich mit Telefaxkopie an die Rechtsvertretung eröffnet 2. Es stellen sich also weitere rechtliche Fragen in Bezug auf diese Eröffnungspraxis. 3.2. Selbsteintritt/Souveränitätsklausel Das Bundesamt für Migration wendet Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO bei Asylsuchenden aus Griechenland an, die vulnerable groups angehören, also Kranke, Betagte, Minderjährige oder Familien mit Kleinkindern. Ansonsten ist eine Anwendung nicht bekannt. Das Gericht hat vor, in einem weiteren Grundsatzentscheid, sich der Frage des Ermessens bei der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO zu widmen. 1 Dies hat sich nach dem Grundsatzentscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Februar 2010 (E- 5841/2009), in welchem diese Praxis als EMRK- und verfassungswidrig erachtet wurde, weil kein effektiver Rechtsschutz gewährt wäre, geändert. Nun wird der Vollzug der Überstellung (bzw. Wegweisung) auf den Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist angeordnet. 2 Auch diese Praxis hat sich nach Publikation des unter FN 1 erwähnten Grundsatzentscheids geändert; in diesem wurde festgehalten, dass die Verfügung erst dann als korrekt eröffnet gilt, nachdem sie dem Rechtsvertreter per Post zu gestellt wurde. 7
4. Bisher vom Gericht ausgemachte Problemfelder 4.1. Verfahrensrechtlich Themen Gültige Eröffnung bei vertretenen Asylsuchenden Auswirkungen einer mangelhaften Eröffnung Zeitliche Verzögerung der Eröffnung Beschwerde vor eröffnetem Entscheid Verletzung des rechtlichen Gehörs (z.b. weil Vorbringen erst eingebracht werden, nachdem Verfügung schon ergangen, aber noch nicht eröffnet wurde) Akteneinsichtsrecht während des Verfahrens Zeitpunkt der Akteneinsicht Ausschaffungshaft trotz mangelhafter Eröffnung Frage der Zuständigkeit Recht auf wirksame Beschwerden (Art. 13 EMRK) 4.2. Materiellrechtlich Themen Anwendbares Recht Rechtsnatur der bilateralen Verträge direkte/indirekte Wirkung subjektive Rechte 3 bzw. self-executing Charakter der Dublin-II-VO Nachvollzug der EuGH-Rechtsprechung Beweislast/Beweisumfang einer Verletzung der EMRK/Kettenabschiebung durch den Dublin- Zielstaat auf den Ebenen: - aufschiebende Wirkung - in der Hauptsache Rolle europäischer oder internationaler Institutionen (EU-Kommission, EuGH, EGMR etc.) Zulässigkeit/Zumutbarkeit - Prüfungsumfang - Prüfungsebene Prüfungsinhalt unter dem Titel Wegweisung? Anwendung von Art. 3 Abs. 2 (Selbsteintritt) Kognition des BVGer (Ermessensüberprüfung) Abgrenzung zu Art. 15 (humanitäre Klausel) Es gibt also noch keine Rechtssprechung zu diesen einzelnen Punkten, das Gericht ist aber an der Ausarbeitung mehrerer Grundsatzurteile bzw. Arbeitspapiere dazu. Lassen Sie mich zum Schluss erläutern, weshalb auf obiger Liste die Frage erscheint, was 3 Dieses Konzept wird im Schweizer Recht nicht angewandt. 8
unter dem Titel Wegweisung zu prüfen sei. Gemäss dem Schweizer Asylverfahren wird eine zweistufige Prüfung vorgenommen: Zuerst wird geprüft, ob die asylsuchende Person die Flüchtlingseigenschaft erfüllt und Asyl erhält. Bei Verneinung dieser Frage wird in einem zweiten Schritt geprüft, ob die Wegweisung zulässig, zumutbar und möglich ist (Art. 44 Abs. 2 AsylG i.v.m. Art. 83 AuG). Mit der Souveränitätsklausel von Art. 3 Abs. 2 der Dublin-VO scheint nun dieses zweistufige Prüfungsschema nicht mehr anwendbar. Denn es kann nicht sein, dass bei der Eintrittsfrage zuerst festgestellt wird, dass kein Anlass besteht, gestützt auf Art. 3 Abs. 2 Dublin-VO selbst auf das Asylgesuch einzutreten trotz Zuständigkeit eines andern Dublin-Staates, um sodann festzustellen, dass eine Überstellung nicht zulässig oder nicht zumutbar sein soll. Also wird wohl festzustellen sein, dass sich eine Überprüfung der Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit des Vollzugs der Überstellung bzw. Wegweisung nach Art. 44 Abs. 2 AsylG erübrigt (zumal die Regelfolge nach Art. 83 AuG die sogenannte vorläufige Aufnahme wäre). Zur Zeit beinhalten die Verfügungen des Bundesamtes weiterhin dieses Prüfungsschema. Das Gericht ist teilweise bereits davon abgewichen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit 9