Die ersten 50 Jahre der Geschichte Adveniats 1961-2011 Adveniats Geschichte hat, wie so viele Geschichten, eine Vorgeschichte. Sie begann im Hungerwinter 1946/1947, als in Deutschland mehrere Hunderttausend Menschen verhungerten, erfroren oder an durch das Elend bedingten Krankheiten zugrunde gingen. Die Nachrichten und Bilder dieses Massensterbens erschütterten auch das ferne Lateinamerika, vor allem da, wo die Nachkommen deutscher Einwanderer lebten: im Süden Brasiliens, in Argentinien und in Chile. Dort sammelten die lutherische und die katholische Kirche für die hungernden Kinder und alten Menschen in Deutschland. Diese Hilfe von drüben wurde nicht vergessen, auch nicht, als hierzulande Ende der 1950er Jahre die Not überwunden war und das Wirtschaftswunder begonnen hatte. Mehr und mehr Deutsche konnten einen Teil des Lohnes bzw. ihrer Rente für einen guten Zweck hergeben. Ihre beispielhafte Großzügigkeit kam den kirchlichen Hilfswerken zugute, die damals in schneller Folge entstanden: 1958 Misereor, 1959 Brot für die Welt und 1961 Adveniat. Die Gründung von Adveniat füllte eine Lücke. Denn obwohl in Lateinamerika mehr Katholiken lebten als in jedem anderen Erdteil, gab es bis 1958 kein katholisches Hilfswerk, das sich Lateinamerikas annahm. Denn das Päpstliche Werk der Glaubensverbreitung (heute: Missio) beschränkte sich auf die Missionsländer, also Afrika, Asien und Ozeanien. Das katholische Lateinamerika blieb außen vor. So richteten die lateinamerikanischen Katholiken alle Hoffnungen auf das neue Werk Misereor. Zur Hälfte, nämlich bei sozialen Anliegen, konnte die junge Aktion gegen Hunger und Krankheit helfen, doch bei pastoralen Anliegen erklärte Misereor sich für nicht zuständig. Die beiden, die auf die Enttäuschung in Lateinamerika angesichts der abschlägigen Bescheide aus Aachen reagierten, waren der Kölner Erzbischof Kardinal Josef Frings und sein Generalvikar Joseph Teusch. Sie verstanden, dass eine Initiative zugunsten der Kirche in Lateinamerika nottat und sie gewannen einen Dritten dafür: den Bischof des jungen Bistums Essen, Franz Hengsbach. Er schlug am 30. August 1961 der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz eine besondere Kollekte für die seelsorglichen Bedürfnisse in Lateinamerika vor, die zu Weihnachten in allen Kirchen der Bundesrepublik und Westberlins gehalten werden sollte. So geschah es und die Großherzigkeit der Katholiken übertraf mit einem Erlös von 23,4 Mio. DM alle Erwartungen der Bischöfe. Der Erfolg der ersten Kollekte bewirkte, dass die Bischöfe auch in den Folgejahren zu Weihnachten die Lateinamerika-Kollekte ansetzten, bis 1969 sie schließlich ratifizierten, dass aus zunächst einzelnen Kollekten ein weiteres weltkirchliches Werk entstanden war: Adveniat. Den Namen hatte Joseph Teusch schon im August 1961 in der zweiten Vaterunser-Bitte gefunden: Adveniat regnum tuum Dein Reich komme.
Eine weitere, Adveniat aufs engste verbundene Initiative ergriffen die deutschen Bischöfe, als sie im Aufruf zur Adveniat-Kollekte 1962 auch darum warben, Patenschaften für angehende Priester in Lateinamerika zu zeichnen, und hofften dabei auf eine Patenschaft je 2.000 Katholiken. Zum Erfolg dieser Patenschaftsaktion trug entscheidend bei, dass sie in den Bistümern verankert war. Die Verantwortung für die Vorbereitung der Lateinamerika-Kollekte und für deren Verteilung auf die in großer Zahl aus Lateinamerika einkommenden Vorhaben hatte die Bischofskonferenz Bischof Hengsbach als Vorsitzendem der Bischöflichen Kommission Adveniat übertragen so nahm Adveniat seinen Sitz in Essen. Im Jahr nach der ersten Adveniat-Kollekte, 1962, begann das II. Vatikanische Konzil. Dort lernte er die lateinamerikanischen Bischöfe kennen. Aus den Anliegen, die sie ihm vortrugen, ergab sich das Spektrum der von Adveniat geförderten Projekte: allen voran die Ausbildung junger Ordensschwestern und von Katecheten, der Bau von Kapellen und Kirchen, die Anschaffung von Fahrzeugen für die oft überaus weitgestreckten Landpfarreien, der Aufbau von Rundfunksendern, mit einem Wort: alle Initiativen und Werke, die der Verwirklichung der Konzilsbeschlüsse in Lateinamerika dienen, so die 1966 beschlossene Maßgabe für die Projektförderung. Adveniat kam gerade zur rechten Zeit, sagte Manuel Larraín, Bischof von Talca (Chile) und Präsident des Lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM, 1964 bei seinem ersten Besuch in Essen. Es sei wie eine Fügung Gottes gewesen, dass beides zusammentraf: der vom Konzil beflügelte Aufbruch der Kirche in Lateinamerika und die Hilfe, um all die Vorhaben zu verwirklichen. Wir waren reif für die Hilfe. Die naive Auffassung von Seelsorge: taufen, Sakramente spenden, in jedem Bistum ein Priesterseminar das war gewandelt zugunsten einer ganzheitlichen und gemeinsamen Pastoral, ergänzte ein anderer Bischof in einem Brief an Adveniat. Anfangs, als noch nicht abzusehen war, wie lange die Hilfe aus Deutschland noch nötig sein würde, waren die Anträge im Essener Generalvikariat bearbeitet worden, unter Mithilfe von ehrenamtlich tätigen Frauen und Männern, die aus Lateinamerika stammten oder dort gelebt hatten. Doch es wurde immer offensichtlicher, dass Tausende von Projekten nicht mehr nebenher, in einem Sonderreferat Adveniat des Generalvikariates verwaltet werden konnten. So wurde 1965 eine Geschäftsstelle eingerichtet und der erste Geschäftsführer eingestellt, Dr. Paul Hoffacker, sowie Länderreferenten, - referentinnen und Sekretärinnen, die zumeist muttersprachlich Spanisch und Portugiesisch sprachen. Externer Berater war seit 1969 der Pfarrer der Deutschen Gemeinde in Bogotá (Kolumbien), Emil Stehle, ein vorzüglicher Kenner der Vielfalt des kirchlichen Lebens in Lateinamerika. Auch die Öffentlichkeitsarbeit wurde verstärkt. Anfangs hatte sie sich mehr oder weniger auf Plakate und Handreichungen zur Werbung für die Kollekte sowie die Rechenschaftsberichte beschränkt. Nun reisten namhafte Fotografen, allen voran Jürgen Heinemann, Dokumentarfilmer und Journalisten im Auftrag Adveniats durch Lateinamerika. Sie dokumentierten und schilderten den Einsatz von Katecheten und anderen Laien, von Ordensschwestern und -brüdern, von Priestern und Bischöfen in
der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat, inmitten des Regenwaldes und der wuchernden Metropolen, angesichts von Landkonflikten, der Verachtung und Vertreibung der Indianer und der Bedrohung derer, die sie verteidigen. Ihre Fotos, Filme und Reportagen wurden Adveniat von Zeitungen, Zeitschriften und vom Fernsehen aus den Händen gerissen ; sie prägten in den späten 1960er und in den 1970er Jahren das Bild Lateinamerikas hierzulande. Adveniat übersetzte das Schlussdokument der bahnbrechenden II. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe 1968 in Medellín. Was bei kirchenamtlichen, nicht gerade leicht zu lesenden Texten eine seltene Ausnahme ist, geschah im Fall von Medellín: Das Buch musste nachgedruckt werden, denn in jenen auch kirchlich bewegten 68er Zeiten wollte man wissen, was Christen in Lateinamerika zur Theologie der Befreiung und zu Reform oder Revolution zu sagen hatten. 1968, das Jahr der Studentenrevolte in Westeuropa, war auch das Jahr der Gründung des Stipendienwerkes Lateinamerika-Deutschland durch die Professoren Bernhard Welte und Peter Hünermann. Die Finanzierung dieses wegweisenden Großprojektes ermöglichte seither Hunderten jungen Frauen und Männern aus Lateinamerika ein Aufbaustudium in Deutschland und nach ihrer Promotion eine Laufbahn in der Heimat. Ein Blick in die Namensliste der Adveniat-Stipendiaten zeigt, dass diese Studienförderung die Förderung einer Elite im besten Sinne des Wortes ist. Zahlreiche Absolventen haben in Politik und Gesellschaft, in Wissenschaft und Kirche Vorbildliches geleistet. 1977 wurde Prälat Stehle Geschäftsführer Adveniats, in eben jenem Jahr, als Adveniat im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand wie nie zuvor (und danach). Anlass war das Memorandum westdeutscher Theologen zur Kampagne gegen die Theologie der Befreiung vom 21. November 1977. Aus dem Umstand, dass der Vorsitzende der Adveniat-Kommission, Bischof Hengsbach, den Studienkreis Kirche und Befreiung mitbegründet hatte, dem ausgesprochene Gegner der Theologie der Befreiung angehörten, schlossen die Autoren, dass er sich Adveniats als eines Werkzeuges im Kampf gegen die Theologie der Befreiung bediene. Das Memorandum löste eine wochenlange lebhafte Debatte bei Podiumsdiskussionen, in Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen über die Theologie der Befreiung, über die katholische Kirche in Lateinamerika und über Adveniat aus. Überzeugende Antworten auf den Angriff auf Adveniat gaben zum einen die Projektpartner in Lateinamerika. Sie erinnerten daran, dass es gerade die Hilfe aus Deutschland war, die ihre Kirche unabhängig machte von den Zuwendungen der Reichen und ihr so ermöglichten, prophetisch Partei zu ergreifen für die Armen. Eine überzeugende Antwort gaben zum anderen die deutschen Katholiken: Die Weihnachtskollekte 1977 für Lateinamerika erbrachte mit 87,9 Mio. DM das bis dahin höchste Ergebnis. Zum 20-jährigen Jubiläum Adveniats lud der CELAM 1981 nach Quito (Ecuador) ein, um eine Zwischenbilanz der Zusammenarbeit zu ziehen. Vier Tage lang berieten die Vorsitzenden der 22 Bischofskonferenzen des Halbkontinentes und ihre Stellvertreter mit Vertretern Adveniats über die künftige Projektförderung. Die lateinamerikanischen Bischöfe erklärten, sich an der Solidarität der deutschen Katholiken ein Beispiel nehmen zu wollen, z.b. indem besser gestellte Diözesen zugunsten
ärmerer auf Beihilfen verzichten, und erwogen als Ausdruck inneramerikanischer Solidarität eine gesamtlateinamerikanische Kollekte für die Anliegen ihrer Kirche. Ein Hauptthema ist die Versorgung der Priester im Ruhestand. Adveniat unterstützt den Aufbau von Pensionskassen auf Gegenseitigkeit, damit Priester im Alter nicht darben müssen. Prälat Stehle war 1987 zum Bischof der Prälatur Santo Domingo de los Colorados (Ecuador) ernannt worden. Sein Nachfolger als Adveniat-Geschäftsführer wurde 1989 Dr. Dieter Spelthahn. Eine der Aufgaben, der er sich sogleich annahm, war die Vorbereitung auf den 1992 anstehenden 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, des Beginns der spanischen und portugiesischen Eroberung einer Neuen Welt und des Beginns der Aussaat des Evangeliums, wie die Bischöfe Guatemalas in einem Hirtenbrief schrieben. Denn nie zuvor hatte Lateinamerika in der deutschen Öffentlichkeit eine solche Beachtung gefunden. Auch hierzulande entzündete sich eine breite Diskussion über den Zusammenhang zwischen der Unterjochung der amerikanischen Völker und der christlichen Mission bzw. die Frage, inwieweit es gerade Christen, allen voran Ordensleute, waren, die sich auf die Seite der Erniedrigten und Ausgebeuteten stellten. Jenes Jahr 1992 erbrachte mit 138,4 Mio. DM (umgerechnet 70,8 Mio. ) das höchste Kollektenergebnis in der Geschichte Adveniats. Gewiss hatte die außerordentliche Aufmerksamkeit für Lateinamerika im Gedenkjahr dazu beigetragen. Seither sinkt der Ertrag der Kollekte, allmählich, aber stetig. Der Rückgang der Spenden verlangte eine Reaktion: auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite. Eine Antwort war die Ausweitung der Öffentlichkeitsarbeit. Eine Gelegenheit, Adveniat überall in Deutschland bekannt(er) zu machen, ist die sogenannte Adveniat-Aktion am 1. Adventssonntag. Aktion meint hier die Veranstaltungen in den Adventswochen insbesondere mit Gästen aus Lateinamerika und der Karibik. Die Eröffnung der Aktion fand bis 1990 stets im Bistum Essen statt. Im Blick auf die Zäsur der deutschen Wiedervereinigung und die Ausweitung der Adveniat-Kollekte auf Ostdeutschland wurde die Aktion 1991 erstmals außerhalb Essens eröffnet, und zwar in Berlin. Seither sind die deutschen Bistümer im Wechsel Gastgeber Adveniats. Die Resonanz auf Adveniat war und ist in der kleinen Schar der Katholiken in Ostdeutschland überdurchschnittlich stark. 1992 wurde naheliegend in diesem Jahr mit dem Heft Auf den Spuren des Kolumbus die Reihe Kontinent der Hoffnung aufgelegt, die in bisher 31 Ausgaben in Bild und Wort den Reichtum der Kulturen Lateinamerikas und der Karibik und den Dienst der Kirche vorstellt. Seit 1997 erscheint die Quartalszeitschrift Blickpunkt Lateinamerika, seit 2008 ist sie auch online zu lesen: www.blickpunktlateinamerika.de. Weiterentwicklungen auch in der Projektabteilung Adveniats: Ein Kernpunkt der Grundlagen und Orientierungshilfen für die Projektbearbeitung von 1996 war, die Armenorientierung zum Prüfstein der Projektförderung zu machen, um so die vorrangige Option für die Armen der Kirche in
Lateinamerika zu unterstützen. Armutsbezogene Faktoren (Lebensstandard, Bildung, Gesundheit) sind seither maßgeblich bei der Bemessung der Projektbudgets für die einzelnen Länder. Dies bewirkt eine Konzentration der Projektförderung zugunsten der ärmsten, zuungunsten der im lateinamerikanischen Vergleich relativ besser gestellten Länder sowie neue regionale Gewichtungen der Förderung innerhalb größerer Länder. Unter dem vierten Geschäftsführer, Prälat Bernd Klaschka (seit 2004), wurde dieses Grundgesetz 2010 als Grundsätze und Richtlinien der Projektförderung fortgeschrieben und präzisiert. Denn die gesellschaftlichen wie die kirchlichen Bedingungen, in denen Adveniat arbeitet, verändern sich stetig, in Lateinamerika wie hierzulande. Im 30. Jahr als Vorsitzender der Adveniat-Kommission war 1991 Bischof (seit 1988: Kardinal) Franz Hengsbach gestorben. Seine Nachfolger waren der Essener Weihbischof Franz Grave (1992-2008) und die Bischöfe von Essen Felix Genn (2008-2010) und Franz-Josef Overbeck (seit 2010). Nach Kardinal Hengsbachs Tod stand eine grundsätzliche Regelung an. Nach drei Jahrzehnten gelebter Praxis und mündlicher Überlieferung war es angebracht, die Grundlagen für die Tätigkeit von Adveniat zu systematisieren und zu verschriftlichen. 1993 erließ die Deutsche Bischofskonferenz ein Statut für Adveniat, das durch eine Geschäftsordnung und einen Geschäftsbesorgungsvertrag mit dem Bistum Essen ergänzt wurde. Denn Rechts- und Vermögensträger der Geschäftsstelle Adveniat ist im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz im Vorortprinzip das Bistum Essen. Ein Grundtext nicht rechtlicher, sondern theologischer Art war die Studie Theologische Identität Adveniats, die eine Gruppe aus Beratern der Adveniat-Kommission und Theologen aus Lateinamerika 1998/1999 erarbeitet hatte: eine Selbstvergewisserung darüber, was es bedeutet, dass ein Werk wie Adveniat die Communio der Weltkirche in seinem Arbeitsbereich darstellt und weiterbauen hilft. Ulrich Lüke hat es so ausgedrückt: Am Weihnachtsfest wird dafür gesammelt, dass Gottes Menschlichkeit erfahrbar wird durch des Menschen Menschlichkeit. Adveniat steht dafür, dass eine Kirche der Menschlichkeit die eiserne Ration im Kampf gegen die Unmenschlichkeit erhält. Adveniat steht dafür, dass Heilserfahrung nicht zur Breitband-Illusion der Vergangenheit verkommt, sondern Herz und Hände für Gegenwart und Zukunft bekommt. Adveniat regnum tuum. Glaubwürdig die Hände falten können wir nur dort, wo wir auch tatkräftig die Hände regen. (Fahrlässige Tröstung? Anstößige Gedanken im Kirchenjahr, Leipzig 1998, S. 135) Michael Huhn