Lüneburger Versicherungsgespräche* Am Institut für Wirtschaftsrecht der Leuphana Universität Lüneburg diskutieren Fachleute aus der Versicherungspraxis mit Vertretern der Lehre aktuelle Themen aus den Bereichen Risikomanagement, Haftpflicht und Versicherungen. Die Versicherungswirtschaft veröffentlicht die Ergebnisse in loser Folge. 1: Kraftfahrzeuge, Markt und Trends Mathias Paulokat: Herr Kelb, obwohl im ersten Halbjahr 2011 die Zahl der Verkehrstoten wetterbedingt leicht gestiegen ist, sinkt die Zahl der Toten im Jahresdurchschnitt erfreulicherweise seit vielen Jahren. Die Versicherer können sich über diesen Trend im Kfz-Geschäft freuen, oder? Andreas Kelb: Von Freude würde ich nicht sprechen. Dazu registrieren wir in Deutschland immer noch zu viele Unfälle. Nach wie vor werden jährlich über zwei Millionen Unfälle polizeilich erfasst viele davon mit Toten und Personenschäden. Jeder Verkehrstote und jeder Verletzte ist einer zuviel. Aber grundsätzlich haben Sie recht, die Entwicklung der letzten Jahre zeigt eine positive Tendenz:
Während die Zahl der zugelassenen Kfz in den letzten 20 Jahren um über 40 Prozent auf beinahe 58 Mio. gestiegen ist, hat sich die Zahl der Verkehrstoten im selben Zeitraum auf weniger als 4.000 pro Jahr halbiert. Paulokat: Worauf ist diese gegenläufige Entwicklung zurückzuführen? Kelb: Da spielen mehrere Erfolgsursachen zusammen. Insbesondere haben eine Reihe von technischen Entwicklungen sowie das ständige Bemühen um Verkehrssicherheit dazu beigetragen. In den letzten 20 Jahren haben wir großartige Innovationen erlebt: ABS, Airbags, elektronische Stabilitätskontrolle, Gurtstraffer mit integriertem Gurtkraftbegrenzer, passive Fußgängerschutzmaßnahmen und vieles mehr. Auch die Gesetzgebung, denken Sie beispielsweise an die Einführung der 0,5-Promille-Grenze, hat einen positiven Einfluss gehabt. Paulokat: Der ADAC geht davon aus, dass die Entwicklungen in Sachen Sicherheit noch weitergehen werden. Bernhard Hohlbein: Ja. Die neuere Forschung versucht sogar, unsere Emotionen, die in relevantem Umfang zu Unfällen beitragen, zu erfassen. Perspektivisch sollen Fahrzeuge unsere Gefühle erkennen können, uns ein Feedback geben und gegebenenfalls geeignete Sicherheitsmaßnahmen aktivieren. An unserer Universität gibt es dazu im Studiengang Wirtschaftpsychologie den Forschungsschwerpunkt Psychonik. Paulokat: Psychonik? Was genau dürfen wir uns darunter vorstellen?
Hohlbein: Hinter dem Begriff verbirgt sich eine Wissenschaftsdisziplin, die versucht, naturwissenschaftlich orientierte Psychologie auf technische Systeme zu übertragen. Die Forschung der Kollegen wird von der Volkswagenstiftung unterstützt. Paulokat: Herr Kelb, das sind gute Nachrichten. Dann werden die Kosten für Schadenaufwendungen, mithin auch die Prämien für die Kfz-Versicherung doch sinken? Kelb: Leider ist das nicht so monokausal, wie es auf den ersten Blick scheint. Zum einen wurden die Prämien vor allem wettbewerbsbedingt in den letzten Jahren abgesenkt. Hier steht ein Aufholprozess mit einer Verbesserung der Prämienqualität aus. Bei den die Rückversicherer besonders betreffenden Großschäden mit Schwerverletzten beobachtet die Versicherungswirtschaft eine Entwicklung, die für die Unfallopfer, bei allem Leid, das ihnen bleibt, doch erfreulich ist: verbesserte medizinische Behandlung und Betreuung führen zu einer längeren Lebenserwartung. Damit steigen aber auch die Schadenleistungen. Wir müssen die Schäden anders reservieren. Paulokat: Geht das etwas präziser? Kelb: Durchaus. Der Versicherungswirtschaft in Deutschland sind beispielsweise Personenschäden mit einem hohen Grad der Querschnittslähmung bekannt, bei denen Reserven im zweistelligen Millionenbereich realistisch sind.
Paulokat: Und was bedeutet das für die Kfz- Deckungssummen? Kelb: Haftpflichtschadenfälle sind in ihren Konsequenzen schwer vorherzusehen. Besonderes Schadenpotenzial kann sich ergeben, wenn Personen getötet oder schwer verletzt werden. In diesem Zusammenhang machen immer wieder Unfälle mit Bussen, in Tunneln, an Brücken oder mit Zügen Schlagzeilen. Hohlbein: So war bei dem Zugunglück von Eschede für kurze Zeit das realistisch anmutende Gerücht im Umlauf, der Schaden sei durch ein Kfz ausgelöst worden. Das erwies sich zwar letztlich als unzutreffend, aber seitdem gibt es ein Schadenszenario mehr. Vor diesem Unglück hätte man einen durch ein Kfz verursachten Schaden im knapp dreistelligen Millionenbereich als akademische Spielerei abgetan. Paulokat: Und was ist vor dem skizzierten Hintergrund von den gesetzlich vorgesehenen Mindestversicherungssummen zu halten, die für Personenschäden siebeneinhalb Millionen Euro und für Sachschäden eine Million Euro vorsehen? Kelb: Die Zahl derjenigen Fahrzeughalter, die heute noch mit solchen Deckungssummen unterwegs sind, bewegt sich im unteren einstelligen Prozentbereich. Hohlbein: Versicherungsprofis würden solche Deckungssummen heute wohl nur in Notfällen verkaufen, zumal der Markt für relativ wenig Mehrprämie bereits Deckungssummen bis zu 100 Millionen Euro für Personen-, Sach- und Vermögensschäden bietet, wobei die Haftung für
Personenschäden hier etwa zehn bis 15 Millionen Euro pro Person beträgt. Paulokat: Herr Kelb, seit dem 1. Januar 2011 ist das begleitete Fahren ab 17 bundesweit gesetzlich verankert. Bedeutet das ein erhöhtes Risiko? Kelb: Nein, überhaupt nicht. Entgegen vielen Befürchtungen ist es glücklicherweise anders gekommen. Sowohl während der Übungsphase als auch danach ist das Modell zahlenmäßig ein Erfolg. Der Feldversuch zeigt, dass die Fahranfänger im ersten Jahr des selbständigen Fahrens um fast ein Viertel seltener an Unfällen mit Sachschäden von mehr als 1.200 Euro oder Personenschäden beteiligt sind. Paulokat: Alles in allem sollte die positive Schadenentwicklung doch zu einer erheblichen Verbesserung der versicherungstechnischen Ergebnisse führen. Also doch Grund zur Freude? Kelb: Wir freuen uns gern über gute Ergebnisse, aber man darf hier nicht allein von der Schadenentwicklung auf das ökonomische Gesamtergebnis schließen. Die Ergebnissituation im Kfz-Versicherungsmarkt wird nicht nur von der Schadenseite, sondern auch von der Beitragsseite bestimmt. Und da gibt es seit geraumer Zeit nicht nur einen harten Wettbewerb, sondern auch einen Zyklus, der guten Jahren schlechte Jahre folgen lässt. Aus unserer Sicht befand sich der Markt im Jahr 2010 auf einem Tiefpunkt. Wir als Rückversicherer hoffen auf eine deutliche Beitragsverbesserung im Markt.
Paulokat: Welche sonstigen Markttrends beobachten Sie derzeit in der Kfz-Sparte? Kelb: Kfz-Versicherer spüren einen zunehmenden Wettbewerb durch branchenfremde Anbieter von Versicherungslösungen, insbesondere aus dem Sektor der Automobilhersteller. Diese versuchen, ihre Chance am Point-of-Sale zu nutzen und einen sogenannten automobilen Life-Cycle-Cash-Flow zu erzeugen. Die Versicherer antworten darauf mit einer weiteren Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zum Beispiel durch Optimierung der Schadensteuerung. Der Kampf um den Kunden ist also in vollem Gange. Paulokat: Für den Kunden ist das keine schlechte Situation. Welche aktuellen Themen gibt es sonst noch? Herr Hohlbein, werden wir zum Beispiel kurzfristig eine Tarifierung nach dem sogenannten Pay-as-you-drive-Modell sehen? Hohlbein: Solche Modelle werden diskutiert und im Versuch erprobt. Die Idee dabei ist, dass der Versicherungsnehmer eine Prämie zahlt, die sich an seiner individuellen Fahrweise orientiert. Das klingt unter Risikogesichtspunkten sachgerecht. Aber die Methode bringt sowohl technischen Aufwand (Black- Box-Einbau, der bezahlt werden muss) als auch Datenschutzgesichtspunkte mit sich. Das Ergebnis ist derzeit noch offen. Paulokat: Kommt das Auto als nunmehr 125-jähriges Erfolgsmodell der Massenmobilität an seine Grenzen? Von Trendforschern ist zu hören, dass in Ballungsräumen der individuelle Verkehr bald zum Erliegen kommen könnte. Parkplätze sind erlebbar schon jetzt knapp. Und die Umweltbelastung ist auch ein Thema. Außerdem scheint das
Auto bei jungen Leuten, jedenfalls in Großstädten, etwas an Attraktivität zu verlieren. Kelb: Es gibt hier zahlreiche relevante Entwicklungen. Wie in vielen Ländern, auf vielen Märkten und in vielen Branchen stellen sich auch in der Kfz-Versicherung in Deutschland regelmäßig neue Fragen. Da hilft es, dass Erst- und Rückversicherer gewohnt sind, Länder, Märkte und Trends zu beobachten und systemisch die Fähigkeit entwickelt haben, auf ein sich veränderndes Umfeld zu reagieren. In vielen Bereichen suchen und finden spezialisierte Rückversicherer gemeinsam mit den Kunden adäquate Lösungen für neue Herausforderungen dies geht vielfach weit über klassische Risikotransferüberlegungen hinaus. Diese Problemlösungsfähigkeit ist eine wichtige volkswirtschaftliche Aufgabe der Branche und zugleich ein Kernelement der Geschäftsmodelle der Erst- und Rückversicherer. Die Versicherungsbranche wäre nicht so alt geworden, wenn sie das nicht könnte. Paulokat: Das klingt jetzt doch etwas akademisch. Anders gefragt: Was machen Sie, wenn die Kfz-Sparte für Sie als Versicherer einfach wegbräche? Kelb: Trotz aller Veränderungen in den Mobilitätsmustern sehe ich hier kein Untergangsszenario. Ich gehe davon aus, dass persönliche und wirtschaftlich sinnvolle Mobilität auch in Deutschland weiter nachgefragt werden wird. Antriebsarten werden sich verändern. Mobilität bleibt. Und dann bleiben auch die mit Mobilität verbundenen Versicherungsfragen. Und nun zu den von Ihnen erwähnten Großstädten: Es ist durchaus möglich, vielleicht auch wahrscheinlich, dass sich Fortbewegungsbedarfe stärker als bisher regional unterschiedlich entwickeln werden. Doch selbst wenn das
Volumen einer Versicherungssparte tatsächlich abnähme, ist damit noch nichts über die Ertragssituation der Versicherungsbranche insgesamt gesagt. In anderen Sparten können sich neue Ertragschancen ergeben. Auch wäre zwischen einem kleineren Monoline-Erstversicherer und einem international diversifizierten Rückversicherer zu unterscheiden. Paulokat: Geht es nach der Bundesregierung, dann fahren bis 2020 mindestens eine Million Elektrofahrzeuge auf unseren Straßen. Ist das auch für die Versicherungsbranche ein Thema? Hohlbein: Der Fahrzeugantrieb an sich spielt versicherungstechnisch eher eine untergeordnete Rolle. Wenn allerdings die Fahrzeuge sehr klein wären und dabei wenig aktive und passive Sicherheit böten, was aber nicht zwingend der Fall ist, würden sich spezifische Risikofaktoren erhöhen. Kelb: Erst- und Rückversicherer beobachten diese Entwicklungen. Besonderes Augenmerk gilt den Ergebnissen von Crash-Tests, der Sicherheitstechnik insgesamt und der durchschnittlichen Anzahl beförderter Personen. Elektro- und Hybridfahrzeuge sind zwar oft klein, aber anders als früher wegen der Batterien vergleichsweise schwer. Es wird genau zu beobachten sein, welche Effekte das auf die Schadenbedarfe haben wird. Auch für Kleinstwagen hat die Versicherungsbranche seit Ende der 1950er-Jahre Tarifierungserfahrung und auch heute nehmen die Versicherer die Herausforderungen des Marktes an.
* Andreas Kelb ist Bereichsleiter Deutschland bei der E+S Rückversicherung AG. Dr. Bernhard Hohlbein ist Professor für Bürgerliches Recht, Handelsrecht und Versicherungen an der Leuphana Universität Lüneburg. Mathias Paulokat ist Diplom-Wirtschaftsjurist (FH), MBA und arbeitet als Unternehmens-Pressesprecher im Bankgewerbe sowie als freier Automobil- und Wirtschaftsjournalist.