Elisabeth Tova Bailey. Das Geräusch einer Schnecke beim Essen. Übersetzt von Kathrin Razum ISBN: 978-3-312-00498-0



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Transkript:

Elisabeth Tova Bailey Das Geräusch einer Schnecke beim Essen Übersetzt von Kathrin Razum ISBN: 978-3-312-00498-0 Weitere Informationen oder Bestellungen unter http://www.hanser-literaturverlage.de/978-3-312-00498-0 sowie im Buchhandel. Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag, München

2. Entdeckung Die Schnecke steht auf Und legt sich wieder schlafen Ohne viel Trara. Kobayashi Issa (1763 1827) Um die Abendessenszeit stellte ich überrascht fest, dass die Schnecke halb aus ihrem Gehäuse gekommen war. Sie lebte also. Der sichtbare Teil ihres Körpers war fast fünf Zentimeter lang und feucht. Der Rest war in dem zweieinhalb Zentimeter hohen Schneckenhaus verborgen, das sie elegant auf dem Rücken balancierte. Ich sah zu, wie sie langsam an der Seite des Blumentopfs hinabkroch. Während sie dahinglitt, wedelte sie sanft mit den Fühlern. Den ganzen Abend lang erkundete die Schnecke die Außenwand des Topfes und den Untersetzer, in dem er stand. Ihr gemächliches Tempo faszinierte mich. Ich fragte mich, ob sie im Lauf der Nacht davonkriechen würde. Vielleicht würde ich sie nie mehr wiedersehen, und das Schneckenproblem würde sich in Wohlgefallen auflösen. Doch als ich am nächsten Morgen nachschaute, war die Schnecke wieder im Topf; in ihr Gehäuse zurückgezogen, schlief sie unter einem Veilchenblatt. Am Abend zuvor hatte ich einen Briefumschlag gegen den Lampenfuß gelehnt. Jetzt entdeckte ich direkt unter dem Absender ein

rätselhaftes quadratisches Loch. Ich war verblüfft. Wie konnte über Nacht ein Loch noch dazu ein quadratisches in einem Umschlag erscheinen? Dann fielen mir die Schnecke und ihre Betriebsamkeit am Abend ein. Sie war offenkundig nachtaktiv. Und sie musste so etwas wie Zähne besitzen, die einzusetzen sie sich nicht scheute. Als gesunder Mensch hatte ich ein sehr aktives Leben geführt, das mit Freunden, Familie und Arbeit, mit den Freuden des Gärtnerns, Wanderns und Segelns und dem gewohnten Alltagstrott ausgefüllt war: Frühstück machen, den Wald erkunden, zur Arbeit fahren, ein Buch lesen, auf stehen, um etwas zu holen. Jetzt wäre schon Letzteres aufzustehen, um irgendetwas, egal was, zu holen eine echte Leistung gewesen. Für mich auf meinem Lager war das Leben außer Reichweite. Die Monate verstrichen, und es fiel mir zunehmend schwer, mir in Erinnerung zu rufen, warum die endlosen Details eines von Gesundheit geprägten Lebens und einer guten Arbeitsstelle so wichtig gewesen waren. Es war seltsam zu beobachten, dass meine Freunde ihr geschäftiges Leben kaum in den Griff bekamen, wo sie doch all das tun konnten, was ich nicht tun konnte, ohne einen Gedanken darauf verschwenden zu müssen. Hatte früher die Zukunft mit zahlreichen möglichen Marschrouten gelockt, gab es jetzt nur noch einen, jedoch nicht gangbaren Weg. Also wandten sich meine Gedanken stattdessen den reichhaltigen Sedimentschichten der Vergangenheit zu. Ein Windhauch, der durch das offene Fenster hereinkam, weckte die Erinnerung an eine Über

querung der Penobscot Bay auf dem Bugspriet eines Schoners. Der schlichte Wunsch, mir die Zähne zu putzen, führte mir das Badezimmer in meinem Bauernhaus mit seinem Ausblick auf die alten Apfelbäume und den Mohnblumengarten vor Augen. Es hatte mich heiter gestimmt, die über dem Mohn aufgehängte Wäsche zu sehen: Vor den Gelb-, Orange- und Rottönen hoben sich die blauen Laken und die Nachthemden, deren Ärmel zu den Blumen hinunterreichten, sehr schön ab. An meinem zweiten Morgen mit der Schnecke entdeckte ich wieder ein quadratisches Loch, diesmal in einer neben meinem Bett liegenden Liste. Mit jedem weiteren Morgen tauchten weitere Löcher auf. Ihre quadratische Form verblüffte mich nach wie vor. Meine Freunde waren überrascht und amüsiert, wenn sie von mir eine Postkarte mit einem kleinen Loch erhielten, das mit einem Pfeil und dem hingekritzelten Kommentar versehen war: «Von meiner Schnecke gefressen.» Mir dämmerte, dass die Schnecke etwas Richtiges zu fressen brauchte. Normalerweise ernährte sie sich vermutlich nicht von Briefen und Umschlägen. In einer Vase neben meinem Bett standen ein paar längst verwelkte Blumen. Eines Abends legte ich einige der welken Blüten in den Untersetzer des Veilchentopfs. Die Schnecke war wach. Sie kroch den Topf hinunter, inspizierte die Gabe interessiert und machte sich daran, eine der Blüten zu verzehren. In kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit begann ein Blütenblatt zu verschwinden. Ich horchte genau hin. Ich konnte hören, wie sie fraß. Es klang, als mampfte je

mand sehr Kleines unablässig Selleriestangen. Gebannt sah ich zu, wie die Schnecke im Lauf einer Stunde systematisch ein komplettes purpurrotes Blütenblatt verspeiste. Das leise, anheimelnde Geräusch der Schnecke beim Fressen gab mir ein Gefühl von Gemeinschaft, von Zusammenleben. Und es freute mich, dass ich die welken Blumen, die neben meinem Bett standen, weiterverwerten konnte, um ein bedürftiges kleines Lebewesen damit zu ernähren. Ich für meinen Teil mochte meinen Salat ja lieber frisch, aber der Schnecke war vergammelter Salat eindeutig lieber, denn an den lebenden Veilchen, in deren Schutz sie schlief, hatte sie noch kein einziges Mal geknabbert. Man muss die Vorlieben anderer Lebewesen respektieren, egal wie groß oder klein sie sind, und das tat ich mit Freuden.