Heinz R. Unger. PROLETENPASSION ff. mandelbaum verlag

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Transkript:

mandelbaum verlag

Heinz R. Unger PROLETENPASSION ff. mandelbaum verlag

Dieses Buch entstand mit Unterstützung durch Kulturabteilung der Stadt Wien, MA 7 Literatur www.mandelbaum.at ISBN 978-3-85476-462-5 Mandelbaum Verlag 2015 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Erhard Waldner Satz und Umschlaggestaltung: Michael Baiculescu Druck: Primerate, Budapest

INHALT 6 Damals. heute und dazwischen 10 Die Theatermacher 13 DIE OUVERTURE 13 Die Einleitung der Originalfassung 17 Die Einleitung der Theaterfassung 25 1. Station: DIE BAUERNKRIEGE 27 Die Originalfassung der,schmetterlinge 34 Die ausgesparten Lieder der Urfassung 40 Eine Proben-Version der Theaterfassung 49 2. Station: DIE REVOLUTION DER BÜRGER 50 Die Originalfassung der,schmetterlinge 61 Weitere Lieder der Urfassung 66 Die Proben-Version der Theaterfassung 85 3. Station: DIE PARISER KOMMUNE 86 Die Originalfassung der,schmetterlinge 100 Lieder aus dem Fundus der Urfassung 105 Eine Proben-Version der Theaterfassung 111 4. Station: DIE LEHREN DER KOMMUNE, GEZOGEN IN RUSSLAND IM OKTOBER 1917 112 Die Originalfassung der,schmetterlinge 126 Eine Proben-Version der Theaterfassung 135 5. Station: DER FASCHISMUS 136 Die Originalfassung der,schmetterlinge 147 Die Proben-Version der Theaterfassung 160 Lieder aus dem Fundus der Theaterfassung 167 6. Station: DIE LEHREN, DIE DER KAPITALISMUS AUS DEN REVOLUTIONEN ZIEHT 173 Lieder aus dem Pool der Theaterfassung 190 EPILOG 190 Die Originalversion der,schmetterlinge 197 DIE LIEDER

DAMALS, HEUTE UND DAZWISCHEN Ich mag Wien, besonders an den Rändern. Nur ein paar U-Bahn-Stationen und man ist in einer anderen Welt. Als ich das neue Theater suchte, in dem sie die Proletenpassion neu erfinden wollten, befand ich mich mitten in einem neuen Stadtteil. Ich sah eine Anzahl freundlicher Wohnblöcke, jeder offenbar von einem anderen Architekten erbaut, denn sie zeigten erkennbar unterschiedliche Individualität. Und sie hatten viel Raum zwischen sich, breite, einladende Verbindungsstraßen, großzügig angelegte Plätze, als stünden sie irgendwo im tiefen Süden. Ich versuchte mich zu orientieren, denn ich war vor Jahren schon einmal in dieser Gegend gewesen. Damals hatte es hier ein braches, ruinenartiges Industriegemäuer gegeben, ein ehemaliges Kabelwerk, das von den Wiener Festwochen als Exoskelett für Kulturimpulse genutzt wurde. Hier hatte ich damals Faust gesehen, die Inszenierung von Peter Stein. Jetzt traf ich auf ein großzügig neu adaptiertes Theater, das sich voll Zuversicht darauf vorbereitete, mit seiner ersten Spielzeit die noch undefinierbaren Bewohner dieser Randgegend zu erreichen. Undefinierbar in statistischer Hinsicht, denn der Bezirk Meidling war einst ein typischer Wiener Arbeiterbezirk gewesen, aber das war lange her. Heute präsentierte sich hier ein schwer einzuschätzendes Gemisch von modern wirkenden Bereichen, idyllischen Ecken mit Startwohnungen für junge Leute und einem Seniorenwohnblock mit der hinreißend trotzigen Aufschrift: Alt werden ist die einzige Möglichkeit, länger zu leben. Ich dachte an die vielen Theaterschließungen der letzten Jahre im ganzen deutschen Sprachraum, an alle diese Sparmaßnahmen auf kulturellem Gebiet, die die Kreativen dazu zwingen, noch ein bisschen mehr Selbstausbeutung zu betreiben. Aber siehe da, in Wien werden neue Theater eröffnet. Am Stadtrand. Auch die Arena 76, in der vor fast vierzig Jahren die Uraufführung der Proletenpassion stattgefunden hatte, lag nicht gerade im Zentrum der Stadt, sondern im ehemaligen Großschlachthof St. Marx. Damals hatte das Wiener Publikum nach der letzten Vorstellung die Arena besetzt, um ihren Abriss zu verhindern. Und jetzt soll die Premiere einer neuen Proletenpassion an einem gerade neu geborenen Theater stattfinden, dem WERK X, das sich in seiner Werbung als Theater am Arsch der Welt bezeichnet. Die beiden Theaterleiter, Harald Posch und Ali M. Abdullah, stellen dezidiert klar, warum sie sich an eine neue, zeitgemäße Proletenpassion wagen wollen: Uns ist es ein Anliegen, die Geschichte und das Thema der Verarschten auf die Bühne zu bringen und vor allem auch fortzuschreiben. 6

Uns interessiert, die Geschichte der Proleten erneut und aus zeitgenössischer Sicht zu untersuchen und auch die Gegenwart weltweiter Widerstands- und Bürgerrechtsbewegungen, von der sanften Revolution über Occupy bis zur Gezi-Park-Bewegung mit hineinzutragen: Kann die Geschichte noch immer als Abfolge von klassenkämpferischen Revolutionen gelesen werden? Wer sind die Proleten von heute und wie leben sie? Wann kommt die nächste Revolution? Und kommt sie überhaupt? Ja, wo bleibt sie denn? Und hat Theater überhaupt etwas damit zu tun? Kann Kunst politisch wirksam sein? Antwort: Manche nur eventuell, die Proletenpassion ganz gewiss. Es gibt solche kulturpolitischen Phänomene: Seit der Uraufführung 1976 und den Tourneen im gesamten deutschen Sprachraum war die Proletenpassion der Schmetterlinge ein singulärer Versuch geblieben, Geschichte aus der Perspektive von unten zu erzählen, war Kult und Wegbegleiter von Generationen. Seither ist die Proletenpassion immer höchst lebendig geblieben, der ursprünglichen Dreifach-LP folgten bis heute immer neue CD-Auflagen und engagierte Lehrer verwenden die Lieder im Geschichtsunterricht. Die Proletenpassion kenne ich aus meiner Kindheit, erzählt Christine Eder, die Regisseurin der Neufassung von 2015, wir haben sie als Kinder rauf und runter gehört, während auf dem Plattenspieler Spielzeugautos Karussell fuhren, die man immer über die Schranke des Tonarms heben musste, damit kein Unfall passierte. Später begegneten mir die Lieder wieder, meist auf Protestveranstaltungen, spätnachts nach Demos an Lagerfeuern erklang das Jalava-Lied, von bewegten Gitarreros mit heiserer Stimme dargeboten Ich hatte schon seit Jahren den Wunsch, sie aus der gegenwärtigen Sicht neu zu inszenieren. Ein kühnes Unterfangen, denn in den rund vierzig Jahren seit der Uraufführung hat sich die Welt gewaltig verändert und auch die Mächte, die sie beherrschen. Und damit veränderte sich zwangsläufig auch unser aller Bewusstsein. Wir werden ständig von unzähligen Einflüssen manipuliert, wir leben schneller als vor vierzig Jahren, schneller und oberflächlicher. Wir sind darauf gedrillt, vorbeihuschende Bilder und Botschaften schneller zu erfassen als je zuvor und noch schneller wieder zu vergessen. Speichern und löschen, hinschauen und wegblinzeln. Der Paradigmenwechsel mit dem Zusammenbruch des sogenannten realen Sozialismus, mit dem Zurückstutzen der sozialen Errungenschaften und dem globalen Durchbruch des Neoliberalismus war aber schon in den 1980er Jahren spürbar gewesen. Etwa zwölf Jahre nach der Arena -Besetzung hatte Dieter Haspel, der Regisseur der Uraufführung, in einem Interview festgestellt: Damals gab es eine Aufbruchstimmung. Heute hat zwar 7

jeder von uns seine kleinen Erfolge, aber keine Aufbruchstimmung. Wir beschäftigen uns heute mit den Rudimenten von damals. Der ganze Versuch der Arena -Bewegung war so etwas wie ein letztes Aufflackern, eine letzte Gegenwehr gegen etwas, das man schon lange auf sich zukommen spürte Was damals spürbar war, heute ist es Realität. Die Aussagen der Proletenpassion sind erschreckend aktuell geblieben, die Reichen sind reicher, die Armen noch ärmer geworden. Mächtiger Reichtum gegen ohnmächtige Armut, das ist das Match, das global ausgetragen wird. Politik war immer ein Verteilungskampf und Kunst hat ob sie will oder nicht immer auch politische Auswirkung (selbst wenn sie abstrakt ist). Denn nicht nur, was man tut, wirkt sich aus, sondern auch alles, was man unterlässt. Jetzt wurde die Proletenpassion neu inszeniert und aktualisiert. In einer nervösen Welt, in der die Bestseller von heute DAS MATCH die Ladenhüter des nächsten Jahres sind, Übermächtiger Reichtum erlebt sie ihre Neufassung, aufgeführt gegen ohnmächtige Armut von jungen Menschen, die bei der Uraufführung noch gar nicht geboren waren. das ist das Match! Sie umfasst nun die Zeiträume von den Bauernkriegen bis zum Zeitalter der Gier, dem Neoliberalismus unserer Gegenwart. Und genau wie damals ist nicht ganz klar, was sie eigentlich ist. Ist sie eine überdimensionierte Kantate? Ein grenzüberschreitendes Polit-Pop-Konzert? Eine raffinierte Bühnenshow? Zeitkritische Agitation? Apotheose des Widerstands? Aufmüpfige Literatur? Sie ist das alles und gleichzeitig auch weit mehr. Die Regisseurin Christine Eder verweist auf ein Zitat aus dem Buch Das Imperium der Milliardäre von Hans-Jürgen Krysmanski: Vieles deutet darauf hin, dass die Epoche des Kapitals zu Ende geht. Dennoch suggeriert uns unsere individuelle Befindlichkeit noch immer: diese Produktionsweise wird ewig währen, auch wenn unsere Intelligenz uns sagt, dass dies die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten ist. Es fällt heute noch leichter, den Zerfall des Planeten und seiner Natur zu imaginieren, als den Zusammenbruch des Kapitalismus. Da kann doch etwas nicht stimmen. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches waren die Proben der neuen Theaterfassung noch in vollem Gange. Erwarten Sie sich deshalb keine Präsentation eines Fertigprodukts, es ist einfach die Dokumentation einer kühnen Unternehmung. 8

Kürzlich habe ich eine Musikprobe erlebt und dabei versucht, mich in Georg Herrnstadt, den Komponisten der meisten Lieder, hineinzuversetzen. Der Schurli würde sich wundern, dachte ich mir, dann aber wäre er fasziniert, wenn er zum Beispiel die glasklare Stimme der Eva Gustav Jantschitsch hört, wie ganz anders sie das Jalava-Lied gestaltet. Ja, die neue Proletenpassion wird wohl anders klingen, aber das Gleiche wollen: Nichts hinnehmen, wie es ist. Wir stellen hier der Originalversion der Schmetterlinge einen aktuellen Arbeitsprozess gegenüber, bei dem ein Team von wagemutigen jungen Forschern im Bergwerk der Geschichte mühsam seine eigenen Stollen gräbt. Wie gesagt ein Abenteuer 9

DIE THEATERMACHER Einige Jahre nach der Uraufführung machten die Schmetterlinge ein Gruppenfoto mit der nächsten Generation. Die Akteure der Neufassung nahmen das zum Anlass, das Bild nachzustellen, um damit sichtbar zu machen, dass auch sie mit den aktuellen Teilen der neu erarbeiteten Proletenpassion die Fackel weitergeben wollen Das Team der Uraufführung: Arena der Wiener Festwochen 1976 im Schlachthof St. Marx. Inszenierung: Dieter Haspel. Die Schmetterlinge : Beatrix Neundlinger, Georg Herrnstadt, Willi Resetarits, Herbert Tampier, Erich Meixner. Mitwirkende (nicht im Bild): Pippa Armstrong-Tinsobin, Angela Beran, Christine Jirku, Lukas Resetarits, Erwin Steinhauer. 10

Das Team der Neufassung: Theater WERK X im ehemaligen Kabelwerk Meidling. Inszenierung: Christine Eder. Musiker: Eva Jantschitsch, Knarf Rellöm, Didi Kern, Imre Bozoki-Lichtenberger, Elise Mory, Oliver Stotz. Mitwirkende: Claudia Kottal, Bernhard Dechant, Tim Breyvogel. 11

Bertolt Brecht FRAGEN EINES LESENDEN ARBEITERS Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war, die Maurer? Das große Rom ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen triumphierten die Cäsaren? Hatte das viel besungene Byzanz nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang, die Ersaufenden nach ihren Sklaven. Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte untergegangen war. Weinte sonst niemand? Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer siegte außer ihm? Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus? Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen? So viele Berichte. So viele Fragen. 12

Die Ouverture DIE EINLEITUNG DER ORIGINALFASSUNG: WER SCHREIBT DIE GESCHICHTE? Jeden Tag, wenn wir zur Arbeit fahren, wird eine neue Seite ins Geschichtsbuch geschrieben. Wer schreibt sie? Geschieht Geschichte mit uns? Oder machen wir unsere Geschichte? Unsere Geschichte ist die Geschichte von Kämpfen, Verteilungskämpfen zwischen den Klassen, eine wütende Chronologie. Doch gelehrt wird uns eine lange Reihe von Thronen und Kronen, und über allem waltet ein blindes Geschick. Wenn wir so vieles nicht erfahren sollen, wer hat Interesse daran, dass wir es nicht wissen? Wenn so vieles nicht in den Lehrbüchern steht, wer will, dass es nicht gelehrt wird? 13

WIR HATTEN GRÄBER UND IHR HATTET SIEGE Wir hatten Gräber und ihr hattet Siege, wir haben für euch unsere Finger gerührt, wir fraßen zu lange gezuckerte Lüge beim falschen Wirt. Wir haben euch eure Kriege geführt, jetzt führen wir unsere Kriege. Die erzenen Reiter auf den Heldenplätzen. Die waren nie unsere Retter, die reichen Schlösser voll geräuberten Schätzen zeugen von den Opfern unsrer Väter. Das hat sich bis heute nicht geändert, das blieb sich bis heute gleich: Der Reichtum, den wir schaffen, der macht die Reichen reich. Wir bauten Schlösser und ihr last Gedichte, ihr saßet im Sattel und wir waren geduckt. Wir lebten zusammen, doch nur eure Berichte wurden gedruckt. Wir haben eure Geschichte geschluckt, jetzt machen wir unsere Geschichte. Wir wollen die Wahrheit, die ganze Wahrheit haben, durch eure Lügen ging sie uns verschütt. Wir wollen unsre Geschichte ausgraben und die Toten mit. Denn auch ihr Scheitern lehrt uns jeden Schritt, jetzt, da wir die neuen Kämpfe haben. Die erzenen Reiter auf den Heldenplätzen. Die waren nie unsere Retter, die reichen Schlösser voll geräuberten Schätzen zeugen von den Opfern unsrer Väter. Das hat sich bis heute nicht geändert, das blieb sich bis heute gleich: Der Reichtum, den wir schaffen, der macht die Reichen reich. 14

Was sich bis heute nicht geändert hat, das kann sich sehr schnell ändern, einem einigen Volk gehört sein Staat, das gilt in allen Ländern. DAS LIED DES GESCHICHTSLEHRERS Ich bin der Lehrer für Geschichte und verkünde die Berichte, die auf uns gekommen sind, in der Schule jedem Kind. Cäsar liebte fette Römer und Lukullus war ein Schlemmer, Erzherzog Johann war mehr steirisch, aber ich bin unparteiisch. Die Perser und die Griechen, die konnten sich nicht riechen. Die Säulen mag ich dorisch, sowohl ästhetisch als historisch. Ach, Italiens Renaissance, die versetzt mich fast in Trance. Das einundzwanzigste Jahrhundert hat mich immer schon verwundert. Drei-drei-drei bei Issos Keilerei. Aber das, was heute los ist, das erfährst du, wenn du groß bist. Der Schluss dieses Liedes lautete bei der Uraufführung neunzehnhundertsechsundsiebzig / ist beileibe nicht so wichtig und war eine aktuelle Kritik des damals üblichen Geschichtsunterrichts, der politisch kritische Themen ignorierte. Oft gelangte die Maturaklasse mit Glück gerade noch zum Ersten Weltkrieg, dann war das letzte Schuljahr vorbei. Das entsprach 15

durchaus dem üblichen Wegblenden der Zeit des Naziregimes und dem Verschweigen des eigenen Anteils daran. Seither hat sich einiges geändert, manche Lehrer verwendeten Lieder der Proletenpassion sogar im Unterricht. Allerdings enthalten die Lehrpläne in Deutschland und Österreich auch heute noch beachtliche Lücken. Während der Zeit der Proben im November 2014 erreichte mich eine Mailbotschaft von Dieter Kuckelkorn aus Frankfurt, der von der Produktion der neuen Fassung gehört hatte. Er schrieb: Gerade heute hält mein Sohn David in der Schule (12. Klasse Gymnasium) ein Referat über die Pariser Kommune (die natürlich nicht auf dem Lehrplan in Deutschland steht) und spielt unter dem Punkt künstlerische Rezeption durch die Nachwelt drei Stücke aus der Proletenpassion-CD vor. Er hat auch schon erreicht, dass der Lehrer den Bauernkrieg behandelte, der eigentlich auch nicht auf dem Lehrplan steht