Kompromisslos für die Kinder



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Transkript:

Kompromisslos für die Kinder 50 Jahre UNICEF Schweiz

Inhalt Die Geburtsstunde von UNICEF 4 1959 1970 Die Geburtsstunde von UNICEF Schweiz 9 1971 1980 Beteiligung der Menschen wird zum Schlüsselelement 17 Im Zeichen der Wohltätigkeit 18 1981 1990 Vermeidbares vermeiden 25 Die Zeit der Umbrüche und neuen Arbeitsschwerpunkte 29 1991 2000 Das Versprechen einlösen 35 Die Kinderrechtskonvention verändert die Welt und das Mandat 41 2001 2009 Kinder im Zentrum der Entwicklungsagenda 49 Wandel als Kontinuum 54

Impressum Kompromisslos für Kinder 50 Jahre UNICEF Schweiz Jubiläumsbroschüre 2009 Herausgeber: Schweizerisches Komitee für UNICEF Baumackerstrasse 24 8050 Zürich Texte: Ursula Eichenberger Adelbrecht van der Zanden Elsbeth Müller Fotos: UNICEF Archiv New York und Zürich Foto Seite 36: Keystone Gestaltung, Layout, Satz: Scherer Kleiber Creative Direction AG, Basel Druck: Hautle Druck AG Bezugsadresse: UNICEF Schweiz Baumackerstrasse 24 8050 Zürich Telefon +41 (44) 317 22 66 E-Mail: info@unicef.ch www.unicef.ch

Editorial UNICEF Schweiz kann 2009 auf ihr 50-jähriges Bestehen zurückblicken. Was 1959 klein begann, weitete sich zu einem Engagement von respek - tabler Grösse aus. Das UN Kinderhilfswerk durfte dabei auf die grosse Treue von Menschen zählen. Sie haben ermöglicht, was UNICEF heute ist: eine mutige, kompromisslose Organisation für die Kinder unabhängig von Rasse, Religion, Herkommen und Geschlecht. Eine Organisation, der es gelang, die ungehörte Stimme der Kinder auf die politische Agenda zu setzen, ihr Leiden zu mildern, Entwicklung zu bringen. Und eine Organisation, die nicht zurückschreckt. Nicht vor den Despoten, den Ausbeutern, den Schamlosen, den Rebellenführern und Kriegsherren und nicht vor den Zynikern und Resignierten. Unsere Vision, Kinder als eigenständige, verantwortungsvolle und rücksichtsvolle Menschen frei von Ideologien und Ausbeutung aufwachsen zu lassen und ihnen eine wohlbehaltene Kindheit zu sichern, ist unser Mandat. Dafür arbeiten wir und darauf vertrauen Spenderinnen und Spender in der ganzen Schweiz. UNICEF ist eine Organisation von Menschen für Menschen: für Kinder in erster Linie, für Mütter und Familien, für Dörfer und Gemeinschaften, für Länder und Kontinente. Sie gehört den Menschen und sie ist nur so stark, wie die Menschen sie machen. Als Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen ist sie dem Konsens verpflichtet. Und dahinter verbirgt sich eine grosse Vielfalt von Fertigkeiten, ohne die Entwicklung nicht möglich wäre. Zuhören, Beobachten, Beschreiben, Analysieren, Bedenken, Überzeugen, Entscheiden und Umsetzen gehören dazu wie das A und O zum Alphabet. Die Geschichte von UNICEF ist auch die Geschichte von UNICEF Schweiz. Der Wandel war dabei eine stete Herausforderung. Es brauchte manchmal Mut, Durchhaltewillen und die beharrliche Zuversicht, es schaffen zu können, es schaffen zu wollen. Heute dürfen wir zurückblicken und allen ein herzliches Dankeschön aussprechen. 50 Jahre UNICEF Schweiz sind 50 Jahre Einsatz für Kinder kompromisslos für alle Kinder. Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin Wolfgang Wörnhard, Präsident

1945 Aufbau Die Geburtsstunde von UNICEF 4 1945 dreht David Miller Seeds of Destiny, einen preisgekrönten Film mit einer klaren politischen Botschaft: Die moderne Kriegsführung bedeutet für das Kind Grausamkeiten Verbrennungen, Hunger, Tod der Eltern, Anfälligkeit für alle nur erdenklichen Krankheiten. In den zerbombten Städten Europas leben Kinder, die eines Tages die Geschicke ihres Landes lenken werden. Wenn die Welt ihre Not ignoriert und wenn nur Härte und Verschlagenheit allein ihr Überleben gewährleisten, dann werden aus ihren Reihen eines Tages Führer kommen, die jene Verbrechen gegen die Menschheit begehen werden, weswegen vor kurzem noch Millionen sterben mussten. Seeds of Destiny ist produziert worden, um die Hilfsorganisation United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) in ihrer Arbeit zu unterstützen. In Vorahnung dessen, was nach dem Krieg an katastrophalen Verhältnissen zu erwarten ist, haben 40 Staaten am 9. November 1943 die UNRRA, die Vorläuferorganisation von UNICEF, gegründet. Unvorstellbare Not in Europa UNRRA führt 1944 und 1945 das grösste und schwierigste Sofortprogramm durch. Millionen von Europäern leiden unter unvorstellbarem Mangel an Nahrungsmitteln, Kleidung und Brennmaterial. In manchen Gegenden stirbt die Hälfte der Neugeborenen vor ihrem ersten Geburtstag. 4,5 Millionen US-Dollar werden eingesetzt. Sie stammen hauptsächlich von den Vereinigten Staaten von Amerika. UNRRA liefert Fett, Getreide, Saatgut, Düngemittel und Landwirtschaftsmaschinen. Damit werden das Überleben der Menschen und die Wiederaufnahme der Nahrungsmittelproduktion gesichert. Bereits 1946 wird deutlich, dass die einstigen Kriegsverbündeten auseinanderdriften und die UNRRA nicht überleben wird. Will Clayton, Delegierter der Vereinigten Staaten, informiert seine Kollegen, «dass der Kuchen zum letzten Mal verteilt wird». Der Marshall-Plan soll die Haupttriebkraft für den Wiederaufbau in West- und Südeuropa sein. Einige meinen jedoch, dass zumindest für Kinder die internationale Nothilfe weitergehen muss. Herbert Hoover, früherer Präsident der Vereinigten Staaten, und Ludwik Rajchman, polnischer Delegierter bei der UNRRA, sind die grossen Stimmen für die Kinder. Hoover warnt die Weltöffentlichkeit Mitte 1946 mit folgenden Worten: «Von der russischen Grenze bis zum Ärmelkanal leben heute 20 Millionen Kinder, die nicht nur stark unterernährt sind, sondern zunehmend auch unter Tuberkulose, Rachitis, Anämie und anderen Mangelkrankheiten leiden. Wenn Europa eine Zukunft haben soll, dann muss für diese Kinder etwas getan werden.» Herbert Hoover darf als Vater von UNICEF bezeichnet werden. Er schafft ein positives Klima für einen Kinderhilfsfonds der Vereinten Nationen und hilft mit, dass die Idee in diplomatischen Kreisen an Unterstützung gewinnt. Ludwik Rajchman wirbt für ein Hilfswerk, das unter der Schirmherrschaft der UNO-Nahrungsmittel und ärztliche Versor-

gung für Kinder bereitstellt. Der Vorschlag stösst anfänglich auf wenig Resonanz. Die Wende bringt der Film Seeds of Destiny. Ein Hilfswerk für die Kinder der Welt Am 11. Dezember 1946 nimmt die Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig eine Resolution zur Gründung des Weltkinderhilfswerks der Vereinten Nationen an. Die folgende Begründung vermag die damaligen Überlegungen zu präzisieren. «Den Kindern Europas und Chinas fehlte es nicht nur mehrere grausame Jahre lang an Nahrung, sie lebten auch in einem Zustand ständigen Terrors, waren Zeugen von Massakern an Zivilpersonen, erlebten die Schrecken der wirtschaftlichen Kriegsführung und waren einem allmählichen Sinken der gesellschaftlichen Verhaltensnormen ausgesetzt. Die Vereinten Nationen stehen dem dringenden Problem gegenüber, wie das Überleben dieser Kinder gewährleistet werden kann. Kinder zu betreuen, ist ein internationales Problem, dessen Lösung auf internationaler Basis zu suchen ist, denn die Hoffnung der Welt richtet sich auf die kommende Generation.» Das Mandat, das UNICEF von der Generalversammlung erhält, betont den unpolitischen Charakter der Organisation und sieht ausdrücklich vor, dass jegliche Hilfe auf der Grundlage des Bedarfs ohne Diskriminierung aufgrund von Rasse, Glauben, Staatszugehörigkeit, Herkunft oder politischer Überzeugung geleistet werden muss. Erster 1946 wird UNICEF gegründet mit dem Ziel, den Kindern in den kriegszerstörten Ländern Europas zu helfen. Exekutivdirektor wird Maurice Pate. Er hat Herbert Hoover auf seiner Mission nach Europa begleitet. Für die Erfüllung der Aufgaben braucht er umfangreiche Mittel. Die USA setzen 40 Millionen Dollar frei eine Ergänzung zu jenen Beiträgen, die andere Regierungen beisteuern, darunter Australien, Kanada, Neuseeland und die Schweiz. Die grössten von UNICEF, dem United Nations International Children s Emergency Fund, organisierten Hilfslieferungen gehen in osteuropäische Länder und nach Deutschland. Die Organisation leistet überdies Nothilfe für 5

1945 Aufbau die Bürgerkriegsopfer in Griechenland, China und dem Nahen Osten. Nebst der Nothilfe unterstützt UNICEF den Aufbau der eigenen Kapazitäten im jeweiligen Land für das Wohl und die Gesundheit der Kinder. UNICEF erkennt dabei vollumfänglich an, dass die zuständigen nationalen Ministerien und ihre Beamten die letzte Verantwortung für das Gelingen eines Programms tragen. Ein Leitprinzip, das bis heute unter dem Begriff Hilfe zur Selbsthilfe gilt. Damals ist es jedoch eine Abweichung von der üblichen Einstellung zur Entwicklungshilfe. 1950 vertraten die USA an der UNO-Generalversammlung unter der Leitung von Eleanor Roosevelt den Standpunkt, dass UNICEF ein Nothilfefonds und nicht ein Werkzeug für die wirtschaftliche Entwicklung sei. Diese aber müsse künftig gefördert werden. Der Präsident der Tagung, Professor Ahmed Bokhari, Pakistan, verlässt das Podium und hält mitten im Saal stehend eine flammende Rede. Pakistan sei ebenso wie andere Länder Asiens erschüttert über die Bilder von ausgemergelten Kindern im Nachkriegseuropa. «Noch erschütternder war es allerdings, sich zu vergegenwärtigen, dass diese europäischen Kinder nicht schlechter auszusehen schienen als Millionen von Kindern, die in den Entwicklungsländern ein so genannt normales Leben führen.» Das Votum verfehlt seine Wirkung nicht. 1953 wird UNICEF als permanente Organisation etabliert, zusammen mit dem Weltkindertag als Symbol der Unterstützung ihrer Ziele. Der Name steht nun für United Nations Children s Fund. 6 Die ersten Nothilfeprogramme bestanden darin, Decken, Milch und Schuhe an Familien mit Kindern zu verteilen. Von Wohltätigkeit zu Entwicklungshilfe UNICEF etabliert sich als gut organisiertes UN Hilfswerk, dessen Arbeit am meisten geschätzt und am wenigstens umstritten ist. Die entkolonialisierten Länder sind nun Mitglieder der Staatengemeinschaft. Partnerschaft zwischen den industrialisierten und den Entwicklungsländern ein damals noch neuer Begriff und der gemeinsame Kampf gegen die Armut ist moralische Pflicht. Hinzu kommen strategische Motive. In der ideo-

Die Verleihung des Friedensnobelpreises geht auf die Initiative von Hans Conzett, Nationalrat und Präsident von UNICEF Schweiz, zurück. logischen Auseinandersetzung des Kalten Krieges über den Weg zur Überwindung der Armut bieten sich Chancen zu Allianzen. Auch das Pflichtenheft von UNICEF ändert sich. Kinder werden nicht länger nur als Empfänger von wohltätiger Hilfe gesehen. In einem umfassenden Bericht über die Lage der Kinder in den Entwicklungsländern trägt UNICEF 1960 die Erkenntnisse und statistischen Daten der verschiedenen spezialisierten UN Organisationen wie WHO, FAO, ILO und Unesco zusammen. Der Bericht zeigt auf, welche Bedürfnisse in den verschiedenen Phasen der Kindheit und der Adoleszenz erfüllt sein müssen und in der Entwicklungspolitik eines Landes Priorität haben müssen. 1965 erhält UNICEF den Friedensnobelpreis. Die Vergabe zeugt von der weltweiten Anerkennung der geleisteten Arbeit. Die Geberländer verlangen nun von den Empfängerstaaten umfassendes Engagement zugunsten ihrer Kinder. Neben den Aktivitäten und Einrichtungen, die Kindern direkt zugute kommen Geburtshilfe, frühkindliche Betreuung und Förderung, Gesundheitspflege oder Grundschulbildung, gilt es, gesellschaftliche Veränderungen zur Hebung des allgemeinen Lebensstandards zu bewirken, etwa durch den Ausbau der Wasserversorgung, von sanitären Einrichtungen und Wohnungen sowie durch Stadtentwicklung oder Einkommen fördernde Massnahmen. In den ersten Jahren wird befürchtet, dass die amerikanische Unterstützung nach der Gründung von UNICEF versiegen würde. Maurice Pate setzt auf die Unterstützung durch Bürgergruppen. Er hält diese für ebenso wichtig wie die Beiträge der Regierungen. 1948 wird auf Einladung der First Lady Bess Truman das amerikanische Komitee für UNICEF gegründet. Im Jahr 1952 bittet Maurice Pate den ehemaligen Premierminister Belgiens, Paul-Henri Spaak, sich bei den europäischen Regierungen und führenden Persönlichkeiten für die Anliegen von UNICEF einzusetzen. Auf seiner Reise wird er vom Schweizer Willy Meyer begleitet; sie wird Ausgangspunkt für ein Netz von nationalen UNICEF Komitees. 1953 entstehen die Komitees in Belgien und Deutschland, gefolgt von Dänemark, Schweden und Norwegen im Jahr 1954. 1955 kommen Italien, die Niederlande und Kanada hinzu, 1956 Grossbritannien, 1958 Luxemburg und schliesslich 1959 die Schweiz. 7

1959 1970

Die Geburtsstunde von UNICEF Schweiz Bei seinen Bestrebungen, ein nationales Komitee für UNICEF auch in der Schweiz zu etablieren, stösst Willy Meyer anfänglich auf grosse Schwierigkeiten. Bereits bestehende Organisationen für Kinder sehen die neue Organisation in Konkurrenz zu ihrer Arbeit. Daraufhin wendet er sich an Dr. Hans Conzett, einen alten Schulfreund. Conzett war Verleger und Nationalrat und in dieser Funktion Mitglied der Kommission für auswärtige Angelegenheiten. Meyers Vorschlag entsprach der Tradition der schweizerischen Neutralität und der humanitären Tätigkeit des Landes. Und er appellierte an Conzetts Engagement für internationale Zusammenarbeit. Die Schweiz hatte, obwohl nicht Mitglied der UNO, immer schon einen Sitz im UNICEF Verwaltungsrat; Die schweizerische Delegation gehörte mitunter zu den aktivsten. Mit Unterstützung des damaligen schweizerischen UNO- Botschafters Felix Schnyder wandte Maurice Pate sich an Max Petitpierre, den damaligen Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten. Dieser versicherte Hans Conzett anschliessend der Unterstützung der Regierung. Am 13. Juni 1959 wird im Berner Hotel Bristol das Schweizerische Komitee für UNICEF mit Sitz in Zürich gegründet. Werner Erisman, Zentralsekretär des Schweizerischen Hilfswerks für aussereuropäische Gebiete (SHAG), der heutigen Helvetas, leitet das Sekretariat. Vier jährliche Treffen sollen für die Bearbeitung der eingehenden Post aus Paris, dem damaligen UNICEF Sitz für Europa und Nordafrika, reichen. Doch die Schuhschachtel quillt bald über und Willy Meyer hat es unterlassen, das Komitee über die Kartenaktion zu informieren. Als ein paar Monate vor Weihnachten 13 000 Schachteln mit UNICEF Karten eintreffen, ist die Überraschung perfekt. Schnell sucht man eine geeignete Kraft, die sich für die Arbeit von UNICEF begeistern kann und Erfahrung in Organisation und Öffentlichkeitsarbeit mitbringt. In den beiden für die PR bei der Schweizerischen Ausstellung für Frauen in Zürich verantwortlichen Frauen, Marei Lehmann und ihrer Assistentin Andrée Lappé, wird er fündig. Die Erste wird Vizepräsidentin, letztere Ge - schäftsleiterin des Komitees. Andrée Lappé schafft die Herkulesaufgabe und verkauft innerhalb von zwei Monaten 11697 Schachteln. Damit beginnt die Arbeit von UNICEF Schweiz. Milchspende Eine der grössten Leistungen in den 1950er Jahren ist die Rolle, die UNICEF beim Aufbau der Genossenschaftsbewegung für die Milchproduktion in Westindien spielt. Nach der Wiederherstellung der Milchwirtschaft im zerstörten Nachkriegseuropa befasst sich UNICEF in logischer Fortführung mit der Milchversorgung in der Entwicklungswelt. Damals gilt Milch als perfekte Zusatznahrung für fehlernährte Kinder. In Indien hilft UNICEF massgeblich mit, die Milchwirtschaft zu entwickeln, ein halbes 9

1959 1970 Dutzend moderner Molkereibetriebe aufzubauen und hygienisch verarbeitete Milch der Büffelkuh, angereichert mit importiertem Magermilchpulver, an Kinder abzugeben. Die Produzenten können so ein Zusatzeinkommen generieren und für ein paar wenige Rupien am Tag besseres Essen für sich und besseres Futter für die Tiere kaufen. UNICEF Schweiz lanciert 1960 in Zusammenarbeit mit dem Zentralverband Schweizerischer Milchproduzenten die grosse Spendenaktion Eine Tasse Milch pro Tag zu - gunsten der Milchprogramme. UNICEF Schweiz will Milchkonserven im Wert von 2 Millionen Franken finanzieren. Ein Teil der Kosten soll aus privaten Spenden stammen. Rund 1500 Milch- und Lebensmittelläden, unter ihnen auch Migros und Coop, verkaufen in der Zeit vom 15. September bis 15. Oktober Gutscheine zu einem Franken als so genannte UNICEF Milchspende. Der für jene Zeit enorme Betrag von 1 910 000 Franken kommt zusammen. Eingeläutet wird die Aktion am 18. Mai 1960 mit einem nationalen Milchtag. Der damalige Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen unterstützte die Kampagne mit einer flammenden Rede über den Kampf gegen Hunger und Fehlernährung. Wahlen war in einer früheren Funktion Landwirtschaftsdirektor der FAO. Durch die Kampagne erhält UNICEF in der Schweiz einen gewaltigen Auftrieb. Von langer Dauer ist er jedoch nicht, denn die Entwicklungsdebatte nimmt international einen anderen Lauf. Die 1950er Jahre sind geprägt vom Kampf gegen Hunger und Seuchen wie die Himbeerpocken, Malaria, Lepra, Trachom und Tuberkulose. Mitte der 1960er Jahre wird klar, dass diese Massenkrankheiten nicht allein mit Massenkampagnen, sondern mit verbesserten gemeinschaftlichen Gesundheitsdiensten zu kontrollieren sind. Für UNICEF Schweiz bedeutet dies, dass die Spendensammlung für konkrete Projekte zugunsten einer integrierten Hilfe weichen muss. 10 Dank der Spendenaktion Eine Tasse Milch pro Tag können in Delhi, Indien, Tausende von Kindern täglich mit eiweissreicher Nahrung versorgt werden. UNICEF Grusskarten als Zeichen der guten Tat In den ersten Jahren ist der Verkauf von Weihnachts- und Grusskarten die wichtigste Einkommensquelle des Komitees. Er wird mit Hilfe von Freiwilligen organisiert. Von Beginn an lehnt Conzett eine finanzielle Unterstützung des Komitees durch den Bund ab. Er ist überzeugt, dass

Die Worte «ehrlich» und «geradlinig» fallen in seinem Zusammenhang früher oder später immer. So auch bei Andrée Lappé, der ersten Geschäftsführerin von UNICEF Schweiz und damit der ersten Angestellten von Hans Conzett, als er das Schweizerische Komitee für UNICEF gründete: «Was er machte, packte er fadengerade an. Er war hartnäckig und furchtlos; und für das, was er als sinnvoll und gerecht empfand, setzte er sich ohne Schonung eigener Kräfte und Bequemlichkeiten ein.» 1959 gelangte Bundesrat Petitpierre an Hans Conzett, damals 44-jährig und seit acht Jahren BGB-Nationalrat. Im Zuge der Überlegungen, wie die Schweiz ihr aus Zeiten des Zweiten Weltkrieges angeschlagenes Ansehen verbessern könnte, kam die Idee auf, ein nationales Komitee für UNICEF zu gründen. Conzett sagte zu, und innert Kürze war das Komitee ge - gründet. Auch wenn der Beginn bescheiden organisiert war, musste Conzett in den ersten beiden Jahren rote Zahlen hinnehmen. Auf Max Petitpierres Versprechen, es werde sich «immer irgendwo ein Kässeli finden», liess er sich indes nicht ein. Zu gross war seine Befürchtung, dass auch regiert, wer zahlt. Keinem seiner Grundsätze wurde er während seiner 29-jährigen UNICEF Karriere untreu. 1964 wurde er zum Delegationschef der Schweiz im UNICEF Verwaltungsrat gewählt, von 1974 bis 1976 war er Vorsitzender, und während 24 Jahren gehörte er dem UNICEF Verwaltungsrat an. «Immer wenn Neuwahlen anstanden, «Er packte alles fadengerade an» hatte der Name Conzett fast alleine für die Wiederwahl der Schweiz gebürgt», erinnert sich der heutige Präsident, Wolfgang Wörnhard, «jedes Mal hatte die Schweiz von den kandidierenden Ländern die meisten Stimmen. Ein Kommentar dazu erübrigt sich; die Fakten sprechen genug klare Worte.» Als Conzett 1988 zurücktrat mit der Be - gründung, gehen zu wollen, bevor die anderen fragten: «Wänn gaht dä alt Chlütterli äntli?», liessen ihn viele nur ungern ziehen. So auch Bundesrat René Felber, der ihm schrieb: «Sie übergeben Ihrem Nachfolger ein Werk, das ein Vorbild aller andern nationalen Komitees geworden ist. (...) Ein jahrzehntelanger Einsatz für die Gesundheit und die Entwicklung, für das Wohlbefinden und eine bessere Zukunft der Kinder dieser Welt stellt Sie in die Reihe der grossen Schweizer, welche unsere humanitäre Tradition begründet und weitergeführt haben.» Was Hans Conzett anpackte, tat er mit Leib und Seele: Von 1951 bis 1971 sass er als Mitglied der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (der späteren SVP) im Nationalrat, präsidierte dort die Petitionskommission und die Kommission für auswärtige Angelegenheiten und von 1967 bis 1968 den Nationalrat. Mit ebensolcher Energie hatte er sich Schöngeistigem gewidmet: Nach dem Jurastudium war er 1942 in den Familienbetrieb Conzett & Huber eingetreten und hatte zwei Produkte mit lanciert, die weltweit bekannt wurden: die Zeitschrift «Du» und die «Manesse-Bibliothek der Weltliteratur». Und immer wieder hatte er aussergewöhnliche Ideen. So auch 1964, als er Schweizer Parlamentarier überzeugen konnte, UNICEF für den Nobelpreis vorzuschlagen. Den 10. Dezember 1965 dürfte er nie vergessen haben: Es war der Tag, an dem Henri Labouisse, da maliger UNICEF Generalsekretär, von König Haakon in Oslo die Friedensnobelpreis-Medaille und das Diplom im Namen des Kinderhilfswerkes übergeben wurden. 11 Hans Conzett (1915 bis 1996), Jurist, Nationalrat, Präsident der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (später SVP), Verleger, Gründer und Präsident des Schweizerischen Komitees für UNICEF bis 1988.

1959 1970 12 mit Staatsgeldern Einmischungsversuche einhergehen würden. Finanzielle Unabhängigkeit und eine schlanke Organisation sind seither ein wichtiges Leitprinzip von UNICEF Schweiz. Bereits 1961 verkauft das UNICEF Team, in dem alle bei allem mit anpacken, 390 000 Grusskarten. Andrée Lappé erzählt: «Die ersten 13 000 Kartenschachteln konnten wir glücklicherweise in der Waschküche des SHAG einlagern. Die Kartenprospekte mussten möglichst portofrei verteilt werden. Perle Buignon, die oberste schweizerische Pfadfinderin, erlaubte uns, den Prospekt der Pfadfinder-Zeitschrift Trèfle beizulegen.» Dank persönlicher Kontakte und guter Beziehungen zu Papeterien, Detailhandelsketten und Frauenvereinen steigen die Verkaufszahlen rasch an. Bereits 1962 verdoppelt sich der Verkauf und 1965 wird die Millionengrenze überschritten. Die UNICEF Grusskarte mit Werken von bekannten und unbekannten Künstlern, mit Ornamenten und Mustern aus verschiedenen Kulturen wird zum Zeichen der guten Tat in der Weihnachtszeit. Friedensnobelpreis für UNICEF 1964 liesse sich als Boomjahr für UNICEF bezeichnen. Der Verkauf der Glückwunschkarten erreicht die Rekordhöhe von 40 Millionen Stück weltweit. Die Organisation konzentriert sich jetzt mit Nachdruck auf die Bedürfnisse der Kinder als Teil der nationalen Entwicklung. Hans Conzett ist überzeugt, dass die Organisation mit ihrem UNICEF Schweiz sammelt in den Jahren 1959 und 1960 1,9 Mio. Franken für die Milchprogramme in Indien. hohen humanitären Ziel, dem grossen praktischen Wert ihrer Arbeit, verbunden mit der Pflege der universellen Zusammenarbeit, eine ausserordentliche Leistung für die Weltgemeinschaft erbringt. Diese Arbeit sollte Anerkennung finden durch das Nobelpreiskomitee in Norwegen. Im Januar 1963 geht ein Brief, unterschrieben von den Nationalräten Hans Conzett, Hans Fischer, Matthias Eggenberger, Luis Guisan, Willy Sauser, Philipp Schmid, Ernst Studer und Rolf Suter, nach Oslo. 1965 erhält UNICEF den Preis und wird für ihren Beitrag zum Frieden ausgezeichnet.

«Ich wäre für UNICEF durchs Feuer gegangen» Es ist eine Stimme, die so energisch ist, dass sie nicht zu einem Menschen passen will, der auf die achtzig zugeht. Es sind Augen, die eine Vitalität ausstrahlen, wie wenn der grössere Teil des Lebens noch zu leben wäre. Es ist eine Gestik, die sprühende Energie und grossen Tatendrang verrät. Es ist eine aussergewöhnliche Persönlichkeit, die man am besten selbst zu Wort kommen lässt: «1959 ging es mit Volldampf los, nachdem ich den Film Und Kinder lächeln wieder mit dem grossartigen Schauspieler Danny Kaye gesehen hatte. Darin ging es um burmesische Kinder, wunderschöne Kinder, mit schrecklich schmerzhaften Himbeer-Pocken. Eine Penicillin-Spritze von UNICEF konnte diese Kinder heilen. Das schien mir wie ein Wunder! Ich hatte damals ein eigenes kleines Büro an der Zürcher Bahnhofstrasse und wollte freiberuflich Sekretariatsarbeiten durchführen und Veranstaltungen organisieren. Am allerliebsten im humanitären Bereich. Im Jahr zuvor hatte ich die gesamte Ausstellungsorganisation der SAFFA (Bürgschaftsgenossenschaft von Frauen für Frauen) unter mir wie auch jene der Gartenbau-Ausstellung. Als ich kurz nach dem Film ein Inserat in der Zeitung entdeckte, in welchem das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen eine Mitarbeiterin suchte, wusste ich: Jetzt ist es so weit! Das Inserat war zwar langweilig formuliert. Doch es sollte anders kommen. Schnell waren wir ein verschworenes Grüppchen, bestehend aus vielen Freiwilligen vor allem aus meinem Freundesund Bekanntenkreis. Alle gaben ihr Bestes, liessen sich von der Arbeit mitreissen und waren voller Freude, sich für so etwas Tolles einsetzen zu können. Immer wieder hatte ich das grosse Glück, aussergewöhnliche Persönlichkeiten kennen - zulernen. Da gab es Menschen, deren wortlose Berührung meiner Schulter wie ein Ritterschlag wirkte. Eine Trennlinie zwischen Hobby, Vergnügen und Arbeit konnte ich nie ziehen, und jahrelang machte ich keine Ferien. Mit Haut und Haaren widmete ich mich dem Kartenverkauf, organisierte unzählige Ausstellungen, Veranstaltungen, hielt Vorträge, reiste, und machte alles gern ausser die Buchhaltung. Anfang der siebziger Jahre merkte ich, dass ich diesbezüglich nicht nur an Grenzen gestossen war, sondern daran beinahe kaputt ging. Das kann sich die heutige Generation fast nicht mehr vorstellen. Ich konnte das einfach nicht mehr bewältigen und brauchte Hilfe. Es ging vor allem ums Verbuchen der Kartenaktionen. Wir nummerierten die Rechnungen laufend, legten alles in Kopie ab und ich schrieb von Hand Liste um Liste. Mit 300 Rechnungen ging das noch, mit 30 000 pro Jahr aber nicht mehr. Dann gab es einen Vorläufer zum Computer: ein Monstrum, er füllte das halbe Büro, konnte zwar viel speichern, war aber sehr kompliziert. Auch unter den Lochkarten litten wir. Wir mussten die Administration auf andere Beine stellen. Das war dann die Hauptaufgabe meiner Nachfolger. Ich bin ein ungeduldiger Mensch und wäre als Ehefrau und Mutter wohl nicht begabt gewesen. Überhaupt bin ich mehr fürs Kollektiv gemacht und weniger für die Einzelfürsorge. Ich habe Kinder sehr gern, und mir ist ein grosses Anliegen, dass jeder Mensch, der auf die Welt kommt, eine Chance hat, gesund aufzuwachsen und Gerechtigkeit zu erfahren. Genau in dieser Beziehung habe ich dank der UNICEF ein Instrument gefunden, mich einzubringen. Ich hätte mir auch vorstellen können, Politikerin zu werden, und bedaure manchmal ein wenig, mich auf der Ebene nicht engagiert zu haben. Aber noch heute glaube ich, dass UNICEF das Beste auf der Welt ist. Und es war es wert, sich hundert, manchmal auch zweihundert Prozent einzusetzen. Ich wäre für die UNICEF durchs Feuer gegangen.» 13 Andrée Lappé (*1930), von 1959 bis 1973 erste Geschäftsführerin von UNICEF Schweiz, bis 2000 freie Mitarbeiterin.

1959 1970 1959 liegt in unserer Hand richtet UNICEF Schweiz Die Migros kann für eine gemeinsame Kampa- Das Schweizerische Komitee wird am 13. Juni eine Ausstellung im Schloss Rapperswil ein gne gegen Hunger gewonnen werden. Der Erlös 1959 in Bern gegründet. Dr. Hans Conzett, mit dem Ziel, die Organisation und ihr Wirken von 440 000 Franken ist für Ernährungspro- Nationalrat und Verleger, wird zum Präsidenten bekannt zu machen. Im folgenden Jahr wird die gramme in Afrika bestimmt. gewählt. Zu den Gründungsmitgliedern gehören Ausstellung im Verkehrshaus Luzern gezeigt. 1967 u.a. Perle Buignon-Sécretan, Dr. Suzanne Oswald, 1963 Die Schweizer Schulen sammeln am Solidaritäts- Zürich, Marianne Jöhr, Bern, Berta Hohermuth, Eine neue Chance zur Verbreitung der UNICEF tag für die Kinder in Kambodscha. Der Krieg in St. Gallen, Isabelle Thormann, Bern, René Steudler, Idee bietet sich in der Zusammenarbeit mit der Vietnam trifft die Kinder auf beiden Seiten ent- Lausanne, Werner Erisman, Zürich. Das Komitee Kinderzeitschrift Junior. Sie wird viele Jahre lang des Ho-Chi-Minh-Pfads. bildet einen so genannten Arbeitsausschuss. Das halten. Dreimal jährlich erhält UNICEF die 1968 Schweizerische Hilfswerk für aussereuropäische Gelegenheit, über die Situation der Kinder in Die gesellschaftliche Diskussion über Entwick- Gebiete (SHAG) übernimmt das Sekretariat. anderen Ländern zu informieren. lungshilfe erreicht ein neues Stadium. Handel 1960 UNICEF Schweiz nutzt die internationale statt Hilfe gewinnt durch die UNO-Konferenz Die erste grosse Spendenaktion heisst Aktion Schriftenreihe Les carnets de L ENFANCE für über Handel und Entwicklung in Delhi weltweite Milchspende. Der Sammelerlös beträgt 1,9 Mil- die Öffentlichkeitsarbeit. Anerkennung. Das Komitee unter der Führung lionen Franken. 1964 von Hans Conzett diskutiert die möglichen Ver- UNICEF Generalsekretär Maurice Pate besucht UNICEF Schweiz zieht um an die Staufacher- änderungen, die sich für die UNICEF Hilfe den Bundesrat und nimmt die Naturalspende strasse 27 in Zürich. abzuzeichnen beginnen. von 5000 Kilogramm Milchpulver des Zentral- Der Bundesrat unterstützt UNICEF mit 1,9 Mil- 1969 verbandes der Schweizer Milchproduzenten mit lionen Franken. UNICEF Schweiz trägt zusätz- Die grosse Hungerkatastrophe in Biafra bringt Dank entgegen. lich 276 363 Franken bei. Bilder des Grauens in die Schweizer Stuben. Die Der Kartenverkauf ist für das SHAG zu aufwen- Dr. Hans Conzett engagiert sich zusammen mit Spendenkampagne erbringt 1 358 265 Franken. dig. Der Arbeitsausschuss entscheidet sich des- den Fraktionspräsidenten des Schweizer Parla- Ein Teil der Gelder stammt aus der Oliver-Gala halb zur Anstellung einer Mitarbeiterin. Andrée ments für die Vergabe des Friedensnobelpreises in Genf und Zürich. Erstmals treffen hier Wohl- Lappé wird zur ersten Geschäftsleiterin gewählt. an UNICEF. tätigkeit und politische Korrektheit aufeinander. 1961 1965 Vor den beiden Hotels demonstrieren Jugendliche Die langjährige Zusammenarbeit mit dem Bund UNICEF erhält den Friedensnobelpreis. gegen den Krieg in Vietnam und sorgen mit ihrer 14 Schweizerischer Pfadfinderinnen beginnt mit Die Schweizer Schulen führen den traditionellen Ablehnung von «High-Society-Galas» für Auf- einem Treffen im Calancatal. Die Initiative Mai-Solidaritätstag zugunsten von UNICEF sehen. kommt durch die Vermittlung von Perle Buignon durch. 1970 zustande. 1966 Die Hungerkatastrophe von Biafra kostet Mil- Die Kongo-Krise erfährt breite öffentliche Auf- Danny Kaye wird von UNICEF Direktor Maurice lionen von Kindern das Leben. In der Schweiz merksamkeit. Die Spendenkampagne für die Pate zum UNICEF Botschafter ernannt. Das flaut die Solidarität ab. Für Biafra fliessen noch UNICEF Hilfsleistungen beginnt mit einer Film- Engagement des beliebten und bekannten Stars 593 315 Franken. premiere im Kino Scala in Zürich. ermöglicht UNICEF Schweiz den Eingang ins Gertrud Lutz, ehemalige UNICEF Vizedirektorin, 1962 Fernsehprogramm. Die internationale Danny wird Mitglied des Komitees. Aus Platzgründen Unter dem Titel Die Zukunft der Welt liegt in Kaye Show wird auf allen Landessendern ge - zieht die Geschäftsstelle von der Stauffacher- den Händen des Kinder die Zukunft der Kinder zeigt und löst eine Welle der Solidarität aus. strasse an die Werdstrasse 36.

1971 1980

Beteiligung der Menschen wird zum Schlüsselelement Bei Entwicklungshilfe-Organisationen macht sich Anfang der 1970er Jahre vielfach Ernüchterung breit. Obwohl das vorangegangene Jahrzehnt als ein Entwicklungsjahrzehnt der Weltwirtschaft bezeichnet werden kann, ist die Kluft zwischen armen und reichen Ländern und zwischen armen und reichen Menschen gegen sein Ende wesentlich breiter. Die Erwartung, dass der Transfer von Kapital und technischem Know-how von selbst Wirtschaftswachstum bringen und der schlimmsten Armut rasch ein Ende setzen würde, erweist sich als Trugschluss. Zusätzlich verschärft eine Reihe von Krisen und Katastrophen die Not der Entwicklungsländer. Sie müssen zum Teil mehr als die Hälfte der Exporteinnahmen für Nahrungsmittel, Medikamente, Kunstdünger, Transport und andere lebenswichtige Güter einsetzen mit ernsthaften Folgen für 500 Millionen Kinder. Die Einsicht reift, dass Entwicklungshilfe gezielt den Lebensbedingungen der Armen gelten muss, indem man den Menschen hilft, ihre eigenen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Massgeblich gefördert wurde dieser Gedanke von der Internationalen Arbeitsorganisation. Geberorganisationen wie die Weltbank forderten die Regierungen der Entwicklungsländer auf, das Wohl der ärmsten Bevölkerungsgruppen oben auf die Agenda zu setzen. UNICEF entwickelt eine Strategie zur Errichtung von Grundversorgungsdiensten. Als Schlüsselelement gilt die Beteiligung der Gemeinschaft. Die Massnahmen umfassen die Ausbildung in einfachen Aufgaben der Säuglingspflege bis hin zum technischen Unterhalt von Wasserpumpen. Besondere Aufmerksamkeit erhält die Mutterund-Kind-Betreuung vor, während und nach der Geburt. Die Grundversorgungsdienste erwecken grosses Interesse, in einigen Kreisen aber auch Bedenken, dass sie für die ärmsten Länder zweitklassige Dienstleistungen bedeuten könnten. Wasser: die Quelle des Lebens Dürrekatastrophen und Überschwemmungen veranlassen UNICEF Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre, sich mehr mit Wasser zu beschäftigen. Zwar hat sich die Organisation bereits in den 1950er Jahren an der Errich- Die Entwicklung der Handpumpe Mark II markiert den Beginn von umfangreichen Brunnenprogrammen in zahlreichen Ländern. 17

1971 1980 18 tung von Wasserleitungen und Abwasseranlagen beteiligt. Doch die Dürre in Bihar verlangt nach neuen Massnahmen mit schnellen Resultaten. Erstmals bringt UNICEF 1967 auf dem Luftweg 11 Halco-Bohrtürme nach Indien. Dank ihnen kann innerhalb von 2 Monaten Zugang zu sauberem Wasser für 222 Dörfer geschaffen werden. 1974 wird mit Partnerorganisationen und der indischen Firma Richardson & Cruddas die Handpumpe aus Schweissstahl Mark II entwickelt. Sie wird zum Prototyp einer äusserst stabilen und dennoch körperlich leicht bedienbaren Handpumpe. Sie markiert den Beginn von umfangreichen Brunnenbauprogrammen in zahlreichen asiatischen und afrikanischen Ländern. 1972 kehren 10 Millionen Flüchtlinge in den neuen Staat Bangladesch zurück. In dieser Notlage beteiligt sich UNICEF an grossangelegten Wasserversorgungsprojekten für die Dörfer. Niemand hat zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von der durch arsenhaltige Gesteinsschichten verursachten Wasserverseuchung in weiten Teilen des Landes. 20 Jahre später werden die Folgen sichtbar und erfordern neue Strategien. Tausende von Brunnen werden überprüft und neu gebaut. UNICEF Schweiz wird das Programm Ende der 1990er Jahre unterstützen. Das Internationale Jahr des Kindes Am 9. Januar 1979 war die Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Bersten voll mit einem ungewöhnlichen Publikum. Es war die Galavorstellung A Gift of Song, der Auftakt zum Internationalen Jahr des Kindes. Künstler wie ABBA, Bee Gees, Olivia Newton-John u.a. schenkten ihre Lieder UNICEF. Sie reihten sich damit ein in die lange Liste berühmter Persönlichkeiten, die ihren Namen und ihre Zeit UNICEF zur Verfügung stellten. Angefangen beim legendären Weltstar Danny Kaye, der von Maurice Pate zum UNICEF Botschafter des guten Willens ernannt wurde, zu Peter Ustinov, Audrey Hepburn, Roger Moore, Shakira, Angélique Kidjo und vielen mehr. Sie alle arbeiteten bzw. arbeiten unentgeltlich für UNICEF. Das Internationale Jahr des Kindes (IJK) 1979 markiert einen Meilenstein in der Geschichte von UNICEF und UNICEF Schweiz. Es ist Anlass für eine Flut von Erklärungen, Entschliessungen und Feiern. Ins Zentrum des weltweiten Interesses rückt die Situation der Strassenkinder und der behinderten Kinder. 1980 löst James Grant Henri Labouisse als UNICEF Generalsekretär ab. Am 10. Dezember orientiert er in New York erstmals über die Situation der Kinder in der Welt. Das Statement markiert den Beginn einer neuen Ära und gipfelt in der jährlich erscheinenden Publikation Zur Situation der Kinder in der Welt. UNICEF Schweiz: Im Zeichen der Wohltätigkeit Die 1970er Jahre stehen ganz im Zeichen des Grusskartenverkaufs. Er erfordert den Einsatz aller Kräfte. Jedes Jahr wird ein neues Produkt geschaffen, das die Botschaften von UNICEF auf vielfältige Weise verbreitet. Es

Die Zeilen lesen sich wie eine Liebeserklärung: «Du hast unsere Herzen gewonnen! Deine Arbeitsfreude, Deine Liebe zu den Menschen, die zur grossen UNICEF Familie gehören, Dein Gefühl der Verantwortung gegenüber den notleidenden Kindern hast Du auf uns übertragen. Das wurde zum eigentlichen Grundstein un - serer Tätigkeit. Dass sie erfolgreich war und ist, haben wir daher zu einem ganz wesentlichen Teil Dir zu verdanken», schrieb das Schweizer UNICEF Komitee zu Beginn der neunziger Jahre. Gertrud Lutz war eine Frau, die sich auf gerader Linie in die Herzen ihrer Mitmenschen hineinbewegte. Sie war eine ungewöhnliche Frau mit einer ungewöhnlichen Schaffenskraft und einem ungewöhnlichen Werdegang: 1911 kommt sie als Tochter eines Käsers im Emmental zur Welt. Mit 18 fasst sie den Entschluss, in die USA auszuwandern. Das Handelsdiplom in der Tasche, findet sie eine Stelle beim Schweizerischen Konsulat in Louisiana. 1933 begegnet sie dort dem Schweizer Diplomaten Carl Lutz. Die beiden heiraten. Noch am Hochzeitstag reist das Paar nach Palästina, wo es bis 1941 bleibt. Die nächste Station heisst Budapest. Zwischen 1942 und 1944 rettet Vizekonsul Lutz über 60 000 Juden vor dem Tod. Seine Frau unterstützt ihn nach Kräften; während Monaten versorgt sie 50 Personen, die sie im Keller der Schweizerischen Gesandtschaft versteckt hält. Umso schmerzhafter muss die Er - fahrung sein, als ihr Mann sie wegen einer Ungarin verlässt. «Sie hat Berge versetzt» Resignation aber hatte in ihrem Herzen nie Platz. Gertrud Lutz engagierte sich für die Hilfsorganisation «Schweizer Spende» in Sarajewo, Finnland und Polen, bevor sie 1948 für UNICEF tätig wurde. Sie startete als Leiterin in Warschau, daraufhin übernahm sie für 14 Jahre die UNICEF Vertretung in Brasilien. Vor ihrem Einsatz äusserten die Angestellten wiederholt den Wunsch, einen Mann an ihrer Spitze zu haben. Schliesslich entschied UNICEF Direktor Maurice Pate, Gertrud Lutz einen Begleiter zur Seite zu stellen. Nach wenigen Wochen erwies sich dieser Schritt als überflüssig. Selbst der skeptische brasilianische Gesundheitsminister musste feststellen, Gertrud Lutz denke wie ein Mann, habe aber das Herz einer Frau. Oft war sie in Männergremien die einzige Frau. Sie baute das Speisungsprogramm auf, schuf Mütterheime, gründete Fachschulen für Kinderpflegerinnen. Bei ihrem Abschied 1965 wurde sie zur Ehrenbürgerin einer Reihe brasilianischer Staaten. Und die Zeitung «Brazil Herald» vermeldete vor ihrem Weiterzug nach Istanbul: «Der Engel fliegt in die Türkei.» Vor ihrer Pensionierung amtete sie als Vizepräsidentin von UNICEF in Paris. Dann zog sie in ihr Elternhaus im bernischen Zollikofen und wurde Gemeinderätin. Doch auch dieser Schritt hielt sie nicht davon ab, häufig zu reisen und viel unterwegs zu sein bis zu ihrem letzten Tag, als sie im Zug nach Zürich fuhr, um im Fernsehen an einem «Sternstunden»- Gespräch zum Gedenken an Carl Lutz teilzunehmen. Es sollte ihre letzte Reise sein: Gertrud Lutz starb unterwegs an Herzversagen. «Sie glaubte daran, dass man Berge versetzen kann, wenn man wirklich und ernsthaft an die Arbeit geht», sagte Andrée Lappé, erste Geschäftsführerin von UNICEF Schweiz, an der Abdankung. Und: «Sie hat Berge versetzt!» 19 Gertrud Lutz (1911 1995), 1949/50 Leiterin von UNICEF in Polen, 1951 1964 Missions-Chefin in Brasilien, 1966 1971 Vizepräsidentin von UNICEF und Direktorin für Europa und Nordafrika; bis 1988 Komiteemitglied und bis zum Tod Ehrenmitglied des Komitees.