Gabriele Bartsch, Raphael Gaßmann (Hg.) Generation Alkopops. Jugendliche zwischen Marketing, Medien und Milieu



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Welchen Einfluss hat Sucht in der Familie/auf die Lebenssituation von Kindern in suchtbelasteten Familien?

Transkript:

Gabriele Bartsch, Raphael Gaßmann (Hg.) Generation Alkopops Jugendliche zwischen Marketing, Medien und Milieu

Inhalt Vorwort... 7 Zwischen Ehrgeiz, Familiensinn und politischer Frustration. Ergebnisse der Shell Jugendstudie 2006 Gudrun Quenzel... 11 Markt und Milieu Alkohol in Jugendlichen Lebenswelten Hans-Jürgen Hallmann... 24 Motive zum Rauschtrinken Mara Wurdak und Jörg Wolstein... 37 Ab 14 Jahren nur noch Peers? Möglichkeiten und Grenzen familiären Einflusses Ulrike Lehmkuhl... 48 Alkohol und häusliche Gewalt eine zerstörerische Verbindung Hildegard Hellbernd... 63 Kindeswohl und Frühe Hilfen Kindesvernachlässigung und Entwicklungsstörungen: Zwei grundverschiedene Problemkreise Raimund Gene... 77 Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule JürgenSchmitter... 89 Bist du on? Online-Beratung Jugendlicher Klaus Fieseler... 96 Kinder und Jugendliche als Zielgruppe von Werbung Matthis Morgenstern... 110

Inhalt Alle reden über Kinder nichts geschieht. Alkoholkonsum, Jugendschutz und Prävention in Deutschland Raphael Gaßmann... 124 Die Autorinnen und Autoren... 136

Vorwort Die Flasche gehört mittlerweile zum Erscheinungsbild junger Menschen im Stadtbild, zumindest an Wochenenden. Auf dem WegzuTreffen mit Freunden, zur Party, zur Disco oder zum Chillen Alkopops, gleich ob auf Schnaps-, Bier-oder Weinbasis, sind zum nicht mehr wegzudenkenden Requisit einer ganzen Altersgruppe geworden. Die Flasche in der Hand scheint echte Coolness zu symbolisieren, ohne die man nicht mehr auskommt. Besser hätte es für die Hersteller und Vermarkter von Alkoholnicht laufen können ihr Produkt wurde voneiner ganzen Generation zum Markenzeichen der Jugendlichkeit erkoren. Schon seit einigen Jahren bleibt dies nicht unbemerkt. In der medienwirksamen Aufbereitung des jugendlichen Rauschmittelkonsums liegt die Betonung stets auf dem Immer-früher, Immer-mehr, Immer-riskanter. Der vorliegende Band soll dazu beitragen, hinter die aufgebauten Kulissen zu schauen und die Entstehungsbedingungen von Konsum und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen begreiflich zu machen. Zu selten werden Belastungen und Bewältigungsverhalten vonkindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten und gewalttätigen Familien diskutiert. Zu selten werden die Praktiken ins Visier genommen, die auf junge Menschen als Konsumentengruppe abzielen. Nicht zuletzt werden die Jugendlichen selbst zu selten als Peers und Gestalter ihres Lebens mit all seinen positiven und negativen Rahmenbedingungen wahrgenommen. In der öffentlichen Debatte geht es meist auch darum, wer die Schuldigen an der Misere sind. Die Kinder und Jugendlichen selbst, die Eltern, die sich nicht genug um ihre Kinder kümmern, die Lehrer, die zu wenig Engagement zeigen, die Kommunen,die zuwenigfür Präventionausgebenoderder Staat, der diesozialleistungen kürzt. Der vorliegende Band befasst sich jedoch nicht so sehr mit der (oft müßigen) Schuldfrage, sondern mit der Frage, wer in dem Geflecht persönlicher,familiärer,gesellschaftlicher und politischer Einflussfaktoren, die den Entwicklungsprozess Jugendlicher formen und begleiten, Verantwortung übernimmt und wie diese Verantwortung gefördert und zielgerecht genutzt werden kann, um die Chancen für eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu erhöhen. 7

Vorwort Dass die Übernahme vonverantwortung längst überfällig ist, hat sich in einigen Köpfen schon durchgesetzt: Angesichts der steigenden Zahl von Alkoholexzessen unter Jugendlichen und Erwachsenen mehren sich die Stimmen für ein generelles nächtliches Verkaufsverbot von Bier, Hochprozentigem, Mischgetränken und Wein. Baden-Württemberg ist Vorreiter in der Frage der Angebotsreduzierung. Dort ist mittlerweile der Verkauf von Alkoholika an Tankstellen, Kiosken und Supermärkten zwischen 22 Uhr und 5 Uhr verboten. In Niedersachen, Raum Hannover, werden im Rahmen der kommunalen Alkoholprävention Testkäufe durchgeführt. Sie haben dafür gesorgt, dass der Jugendschutz dort verbessert werden konnte. Beispiele auch aus anderen europäischen Ländern belegen, dass es in der Tat wirksame Maßnahmen der Alkoholprävention gibt und dass diese nicht nur eine Angelegenheit von Präventionsfachleuten sind, sondern besonders auch der politischen Entscheidungsträger.Der Rat der Europäischen Union hat seine Mitgliedsstaaten ersucht, die wirksamsten Maßnahmen im Handlungsfeld Alkoholpolitik zu nutzen, um auf einzelstaatlicher Ebene effektive Regelungen einzuführen und deren Durchsetzung zu gewährleisten. Dabei sollen sie auch die Rolle der Preispolitik etwa in Form von Regelungen für Happy Hour - Angebote, Sondersteuern auf Mix- und Gratisgetränke als wirksames Instrument zur Verringerung alkoholbedingter Schäden in Betracht ziehen. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes geben mit ihren Beiträgen Impulse, die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen differenzierter wahrzunehmen. Sie eröffnen darüber hinaus Perspektiven für die Weiterentwicklung und Gestaltung von Präventions- und Hilfeangeboten. Aber sie zeigen auch, dass guter Wille allein nicht reicht. Unverzichtbar sind Rahmenbedingungen und Strukturen, die soziale Ungleichheit nicht zementieren, sondern ihr entgegenwirken durch Förderung und Hilfen, die schon im Kindesalter beginnen, die selbstständiges Lernen und eigenverantwortliches Handeln unterstützen. Gudrun Quenzel stellt die Ergebnisse der Shell Jugendstudie vor. Sie konstatiert, dass entgegen des häufig in den Medien verbreiteten Bildes einer hemmungslosen, alkohol- und drogenkonsumierenden Jugend, diese über einen sehr stabilen Werterahmen verfügt. Die Jugendlichen vonheute setzen der deutlich höheren Optionsvielfalt für ihr Handeln und den damit einhergehenden Verunsicherungen Pragmatismus und Engagement entgegen, um ihre Zukunftswünsche im persönlichen und beruflichen Bereich zu verwirklichen. 8

Vorwort Hans-Jürgen Hallmann beschäftigt sich mit den Faktoren, die den Alkoholkonsum im Jugendalter beeinflussen. Neben den Einflüssen der direkten Bezugspersonen wie Eltern, Geschwister, Freundeskreis und Lehrer/-innen nimmt in diesem Zusammenhang auch die Alkoholwerbung eine große Bedeutung ein. Sie spricht offensiv und zugleich kreativ jugendliche Lebenswelten und Persönlichkeitsbilder an und vermittelt einen Lebensstil, an dem Jugendliche sich eher unbewusst orientieren. Unter welchen Umständen Alkoholprävention greifen kann, und welche Präventionsansätze wirken, unterstreicht der Beitrag sehr eindringlich. Aus welchen Gründen Jugendliche bis zum Rausch trinken, untersuchen Mara Wurdak und Jörg Wolstein. Sie erforschen nicht nur die sehr heterogenen Trinkmotive der Jugendlichen und wie sie erfasst werden, sondern entwickeln eine Typologie, die es erlaubt, Risikogruppen zu unterscheiden. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der Entwicklung wirksamer Präventionsstrategien von Bedeutung. Ulrike Lehmkuhl setzt sich aus entwicklungspsychologischer Sicht mit der Familie und den Einflussmöglichkeiten der Eltern auf den Reifungsprozess von Kindern und Jugendlichen auseinander.sie konzentriert sich vor allem auf die Phase der Ablösung der Kinder von den Eltern während der Pubertät, in der gleichaltrige Freunde immer wichtiger werden. Die Verquickung von Sucht- und Gewaltbelastung in Partnerbeziehungen und Familie ist ein Problem, das in allen Bevölkerungsschichten vorkommt. Die Auswirkungen auf Kinder werden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und in der Gesundheitsversorgung häufig unterschätzt. Hilde Hellbernd geht der Frage nach, wie Präventions- und Interventionschancen bei Gewalt und Sucht in der Familie und zum Schutz von Kindern besser genutzt werden können. Kindesvernachlässigung und Entwicklungsstörungen sind Schlagworte, wenn es in Diskussionen um die Gefährdung des Kindeswohls geht. Raimund Geene führt ein in die Thematik von Früherkennung, Frühförderung und Frühe Hilfen. Er zeigt auf, welche Problematiken mit dem Thema verbunden sind und welche Lösungsmöglichkeiten sich bieten. Trotz Schulpflicht besucht ein Teil der Kinder und Jugendlichen nicht die Schule. Und fast zehn Prozent eines Altersjahrgangs verlassen sie jährlich ohne Abschluss und haben dadurch nur geringe Chancen, eine Berufsausbildung zu absolvieren, ihren Lebensunterhalt später durch eine Erwerbsarbeit zu sichern. Schulmüdigkeit und Schulabbrüche er- 9

Vorwort höhen darüber hinaus das Risiko, mit dem Drogenkonsum zu beginnen. Jürgen Schmitter reflektiert in seinem Beitrag darüber, welche Faktoren dazu beitragen, dass Jugendliche in allgemein- und berufsbildenden Schulen scheitern können und welche Veränderungen im System Schule, vor allem in der beruflichen Bildung erfolgen müssen, damit selbstständiges und eigenverantwortliches Lernen auch über die Schule hinaus möglich ist. Das Internet wird heute zunehmend kritisch betrachtet, wenn es im Hinblick auf die Nutzung durch Jugendliche diskutiert wird. Vor allem Online-PC-Spiele werden vonerwachsenen in Verbindung gebracht mit süchtigem Verhalten. Dass das Internet auch neue Chancen für die Suchtberatung bietet, zeigt uns der Beitrag von Klaus Fieseler. Matthis Morgenstern beschreibt sehr eindrücklich, was Werbung ist, wie ihre Wirkung zu erklären ist und wie man die Wirkung messen kann. Dabei steht die Einschätzung vonalkoholwerbung im Vordergrund. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit Alkoholkonsum in Film und Fernsehen und dessen Folgen auf den Alkoholkonsum Jugendlicher. Im abschließenden Beitrag wird, dem Thema gemäß, die ungeteilte Verantwortung Erwachsener für den Alkoholkonsum junger Menschen unterstrichen. Erwachsene ermöglichen oder verhindern, schaffen Gelegenheiten und ermutigen oder eben nicht. Im Guten und im Schlechten und auf allen Ebenen ihres Tuns. (Ganz nebenbei: Seien Sie vorsichtig, ja misstrauisch, gegenüber allen vorgeblich an Prävention Interessierten, die Erwachsene stets nur als Eltern und Lehrer buchstabieren.) Wir wünschen Ihnen, den wohl regelmäßig erwachsenen Leserinnen und Lesern dieses Buches, eine angeregte Lektüre und handlungsleitende Denkanstöße. Gabriele Bartsch und Dr. Raphael Gaßmann 10

Motive zum Rauschtrinken Mara Wurdak, Jörg Wolstein Ich und meine Kumpels, wir sind ein duftes Team. Wir sind regelrechte Alkoholvernichtungsmaschinen. Wir saufen bis zum Umfall n, alle machen mit. Und wenn wir dann besoffen sind, dann singen wir unser Lied. ( Saufen, Die Ärzte) Saufen bis zum Umfallen? Oder bis der Arzt kommt? Kampftrinken? Komasaufen? Mit solchen Begriffen beschreibt die Presse medienwirksam dieveränderten Konsummuster vonjugendlichen. Die zunehmende Verbreitung von Rauschtrinken und der Anstieg der Krankenhausbehandlungen von Alkoholvergiftungen rückten jugendlichen Alkoholkonsum in den letzten Jahren verstärkt in das Zentrum des öffentlichen Interesses. Berauschung kennzeichnet in vielen Kulturen den Alkoholkonsum insbesondere von Teenagern und jungen Erwachsenen (Babor et al. 2005) und ein solcher exzessiver Alkoholgebrauch kann besonders in diesem Lebensalter zahlreiche gesundheitliche Risiken und negative psychosoziale Folgen nach sich ziehen (Kuntsche/Gmel/Annaheim 2006a; Laucht 2007; Stolle/Sack/Thomasius 2009; Zimmermann/Mick/Mann 2008). Wasaber steckt hinter diesem immer schlimmer,immer mehr? Warum trinken Jugendliche exzessiv? Welche Trinkmotive haben Jugendliche? Die negativen Konsequenzen des Rauschtrinkens 1 sind Jugendlichen zwar bekannt, besitzen allerdings nur für Nichttrinker eine hohe subjekti- 1 In Deutschland wird Rauschtrinken (engl.: Binge-Drinking) durch eine genaue Mengenangabe innerhalb eines bestimmten Zeitraumes beschrieben und ist demnach definiert durch den Konsum von fünf oder mehr Gläsern eines alkoholischen Getränkes bei einer Trinkgelegenheit (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, 2010). Ein Glas enthält ca. 10-12g reinen Alkohol, dies entspricht jeweils einem kleinen Glas Wein (0,125 l), einem kleinen Glas Bier (0,33 l) oder in einem doppelten Schnaps (0,04 l). 2008 gaben über 20 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren an in den letzten 30 Tagen mindestens einmal Binge-Drinking praktiziert zu haben (Bundesministerium für Gesundheit 2008). 37

Motive zum Rauschtrinken ve Eintretenswahrscheinlichkeit (Bergler et al. 2000). Empirische Daten zeigen, dass 50 Prozent der Jungen und über 60 Prozent der Mädchen Alkoholkonsum als eine riskante Aktivität mit möglichen Gesundheitsfolgen einschätzen (Kuntsche 2007). Aber dieses Wissen hält die Jugendlichen oftmals nicht von riskantem Alkoholkonsum ab. Wenn die meisten Jugendlichen aber über die Gefahren des Alkoholkonsums Bescheid wissen, drängt sich die Frage auf, warum sie dennoch häufig und exzessivkonsumieren. Erst wenn man die Beweggründe dieses Verhaltens kennt, kann man wirksame Präventionsstrategien entwickeln, die dabei helfen, riskanten Alkoholkonsum unter Jugendlichen und damit auch die negativen gesundheitlichen und psychosozialen Konsequenzen zu reduzieren. Die Frage nach dem Warum ist in diesem Fall eine Frage nach der Motivation der Jugendlichen. Was bedeutet Motivation? Motivation! aktivierende und richtungsgebende Vorgänge, die für die Auswahl und Stärke der Aktualisierung von Verhaltenstendenzen bestimmend sind ; (...) Motivationsvariablen sollen erklären, warum ein Mensch (...) sich unter bestimmten Umständen gerade so und mit dieser Intensität (Durchsetzung und Beharrlichkeit) verhält (Häcker/Stapf 2009). Kuntsche (2007) vermutet, dass Jugendliche trotz ihres Wissens über gesundheitliche Risiken eine hohe Motivation besitzen Alkohol zu konsumieren. Diese Motivation genauer zu bestimmen und spezifische Trinkmotive auszumachen ist das Ziel vieler Forschungsaktivitäten; die Methoden und Ergebnisse einiger solcher Studien werden im Folgenden vorgestellt. Wie werden Trinkmotive bei Jugendlichen erfasst? Die Messung der Trinkmotive gestaltet sich sehr heterogen: in manchen Studien werden die Studienteilnehmer in qualitativen Untersuchungen mithilfe von Interviews oder Fragebögen gefragt, warum sie Alkohol konsumieren (Stumpp/Stauber/Reinl 2009); in anderen werden unterschiedliche Items zu Fragebögen zusammengestellt ohne diese nach Kategorien zu klassifizieren; schließlich werden multidimensionale Fra- 38

Mara Wurdak, Jörg Wolstein gebögen eingesetzt, deren Reliabilität und Validität in verschiedenen weiterführenden Studien untersucht wird (Kuntsche et al. 2005). Diese Fragebögen weisen unterschiedliche Formulierungen, Längen und Klassifizierungen (zwischen 10 und 40 Items gegliedert in zwei bis zehn Dimensionen) auf (Kuntsche et al., 2005). Eine solche Heterogenität schränkt die Vergleichbarkeit der Ergebnisse ein und erschwert somit deren Interpretation. Kuntsche et al. (2005) weisen darauf hin, dass in der zukünftigen Motivmessung klar definierte, theoretisch begründete und einheitliche Instrumente verwendet werden sollten um die verschiedenen Studien besser miteinander vergleichen zu können. Sie empfehlen den Drinking Motive Questionnaire Revised (DMQ-R) (Cooper 1994), da dieser multidimensionale Fragebogen auf der Grundlage eines theoretischen Modells ( Motivational Model of Alcohol Use ) (Cox/Klinger 1988, 1990) entwickelt und in mehreren Studien validiert wurde. Den Ergebnissen einer Tagebuchstudie zufolge kann die Verwendung solch retrospektiververfahren zur ersten Grobeinschätzung befürwortet werden. Allerdings sollte man bei der Interpretation der Ergebnisse beachten, dass diese generalisierten Angaben unter Umständen nicht mit den Trinkmotivenzueiner bestimmten Trinkgelegenheit übereinstimmen, und dass Motive nicht über verschiedene Trinkereignisse hinweg stabil bleiben, sondern zumindest zum Teil Schwankungen unterliegen (Wurdak et al. 2010). Zu welchen Ergebnissen kommen aktuelle Forschungsaktivitäten? Teilnehmer einer qualitativen Studie (Stumpp et al. 2009) geben im Rahmen von Interviews an, dass sie Alkohol konsumieren, vor allem weil sie Spass haben und sich in eine gute Stimmung bringen möchten. Außerdem ist es für sie die enthemmende Wirkung des Alkohols wichtig, sie möchten ihre Schüchternheit überwinden und entspannt und aufgeschlossen auf andere Personen zugehen. In den Befragungen berichten die Jugendlichen aber auch, dass sie Alkohol trinken um Stress (in der Familie,Schule oder in der Partnerschaft) zu bewältigen und Probleme zu vergessen. Desweiteren hilft Alkohol manchen Jugendlichen bei Gewalthandlungen aggressiver zu sein und keine körperlichen Schmerzen zu spüren. Einige Jugendliche möchten einfach nur zu einer bestimmten Gruppe gehören und dies genügt ihnen als Motivation um Alkohol zu 39

Motive zum Rauschtrinken konsumieren: Wenn die Freunde was trinken, trink ich halt mit. Also ich tu es halt, weil sie es tun. Aber warum es die tun, weiß ich auch nicht (Stumpp et al. 2009). Nach den Ergebnissen dieser Studie ist Alkoholkonsum auch nicht zuletzt in vielen Cliquen eine Möglichkeit des Zeitvertreibs und eine Strategie gegen Langeweile. Häufige Motive für Rauschtrinken, das zu einer Alkoholintoxikation und somit zur Behandlung in einer Klinik führte, sind Zeitvertreib (aus Lust und Laune, macht Spass, aus Langeweile), Wetten und Trinkspiele (sich beweisen, wie viel man verträgt), Problemverdrängung (Stress mit Mutter, Streit mit bester Freundin) und Naivität und Unwissenheit im Umgang mit Alkohol (Unterschätzung der Menge, überraschende Wirkung) (Steiner/Knittel/Comte 2007). In den beiden vorgestellten Studien wurden die Motive ohne ein zugrundeliegendes theoretisches Modell erhoben. Eine Klassifikation von Trinkmotiven bietet das Motivational Model of Alcohol Use (Cox/ Klinger 1988, 1990), das auf der Annahme basiert, das Menschen Alkohol trinken um bestimmte Effekte zu erzielen. In das Modell wurden alle Variablen mit einbezogen, die die Entscheidung zum Alkoholkonsum beeinflussen: individuelle biochemische Mechanismen bei der Verstoffwechselung von Alkohol, Persönlichkeitseigenschaften, die soziokulturelle Umwelt, Situationsfaktoren (z.b. Verfügbarkeit von Alkohol), etc.. Diese Faktoren bestimmen über Gedanken, Wahrnehmungen und Erinnerungen die persönlichen Erwartungen bezüglich der Alkoholwirkung (Cox/Klinger 1988). Alkohol kann die Affektlage eines Menschen entweder direkt über chemische Effekte (z.b. Spannungsabbau) oder indirekt (z.b. durch Anerkennung von Gleichaltrigen) beeinflussen (Kuntsche 2007). Gemäß dem Modell entscheidet sich eine Person zum Alkoholkonsum, wenn die vomalkoholgebrauch erwarteten positiven Konsequenzen denen überwiegen, die sie vom Nichttrinken erwartet (Cox/ Klinger 1988). Trinkmotive werden in diesem Modell als the final common pathway to alcohol use beschrieben, also als eine Art Pforte, durch die distale Einflüsse (z.b. Persönlichkeitseigenschaften) mediiert werden. Kuntsche (2007) konnte in mehreren Studien die grundlegende Vermutung des Modells unterstützen, indem er zeigte, dass Trinkmotive tatsächlich den Faktor darstellen, der dem Alkoholkonsum unmittelbar vorausgeht und durch den weitere Variablen (z.b. alkoholbezogene Wirkungserwartungen, Präferenzen für bestimmte Alkoholika) vermittelt werden. 40

Mara Wurdak, Jörg Wolstein Mithilfe des Modells können Trinkmotive nach zwei zugrunde liegenden Dimensionen klassifiziert werden: gemäß der Wertigkeit (positiv oder negativ) und der Quelle (personenintern oder -extern) der erwarteten und erwünschten Effekte. Kreuzt man diese Dimensionen, erhält man vier Motivklassen: Verstärkungsmotive,soziale Motive,Konformitätsmotive und Bewältigungsmotive (Cox/Klinger 1988, 1990; Cooper 1994; Kuntsche et al. 2006a; Kuntsche et al. 2006b; Kuntsche 2007). personenintern personenextern positive Wertigkeit Verstärkungsmotive z.b. weil es einfach Spaß macht soziale Motive z.b. um dich nicht ausge- schlossen zu fühlen z.b. um kontaktfreudiger, offener zu sein negative Wertigkeit Bewältigungsmotive z.b. um deine Probleme zu vergessen Konformitätsmotive Cooper (1994) entwickelte, basierend auf dem Motivational Model of Alcohol Use, ein Vier-Faktoren-Messinstrument (Drinking Motive Questionnaire Revised, DMQ-R), das sich sowohl für die klinische Arbeit als auch für Forschungszwecke eignet, da es auf theoretische Annahmen gestützt, reliabel und valide sowie praktikabel ist. Der DMQ-R ist der in Amerika am häufigsten angewandte Fragebogen zur Erfassung von Trinkmotiven. Kuntsche et al. (2006b) haben gezeigt, dass der DMQ-R ein geeignetes, reliables und valides Instrument ist um Trinkmotive auch bei europäischen Jugendlichen zu erfassen. Aktuell wird eine Modifizierung des DMQ-R dahingehend vorgeschlagen, dass Bewältigungsmotive weiter differenziert werden. Studienergebnisse zeigen, dass eine Unterteilung in angst- und depressionsbezogene Bewältigungsmotive sinnvoll ist, da diese beiden Motive mit Alkoholkonsum und alkoholbezogenen Problemen jeweils unterschiedlich zusammenhängen (Grant et al. 2007). Mit der modifizierten Form des Fragebogens können nun also Jugendliche, die trinken um depressive Episodenzu überwinden vondenjenigen differenziert werden, die Alkohol zur Angstbewältigung gebrauchen. 41

Motive zum Rauschtrinken Kuntsche et al. (2005) halten fest, dass die meisten Jugendlichen angeben, aus sozialen Motiven zu trinken, einige trinken aufgrund von Verstärkungs- und nur wenige aufgrund von Bewältigungsmotiven. Die sozialen Motive hängen mit moderatem Alkoholgebrauch zusammen, wohingegen Verstärkungsmotive in vielen Studien mit starkem Alkoholkonsum assoziiert wurden (Kuntsche et al. 2005). Das Trinken aus Bewältigungsmotiven ist oft mit alkoholbezogenen Problemen verknüpft. Die Autoren weisen außerdem darauf hin, dass das Motiv Vermeidung von sozialer Zurückweisung in der Trinkmotivforschung oft vernachlässigt wird. Ergebnisse einer Tagebuchstudie (Wurdak et al. 2010) geben ebenfalls Hinweise darauf, dass Jugendliche eher aufgrund von sozialen und Verstärkungsmotiven(positive Motive)als aufgrund vonbewältigungs- und Konformitätsmotiven (negative Motive) trinken. Für Jugendliche mit einem risikoreichen Konsummuster spielen dabei personeninterne Motive (Bewältigungs- und Verstärkungsmotive) eine größere Rolle als für risikoarm konsumierende Studienteilnehmer.Außerdem beschreiben die Autoren signifikante Zusammenhänge zwischen den Trinkmotiven und der konsumierten Alkoholmenge sowie zwischen positivem und negativem Affekt und den Motiven. Je stärker die Jugendlichen den unterschiedlichen Motiven zustimmen, desto mehr Alkohol konsumieren sie. Bei risikoarm konsumierenden Jugendlichen findet sich ein Zusammenhang zwischen positivem Affekt und positiven Motiven(soziale Motive + Verstärkungsmotive); bei Teilnehmern mit einem riskanten Konsumprofil fällt eine Verknüpfung von negativem Affekt und internen Motiven (Verstärkungsmotive +Bewältigungsmotive)auf. Zudem zeigen die Studienergebnisse, dass Motive an einem bestimmten Trinkereignis unter Umständen nicht mit den retrospektivinfragebögen erhobenen Angaben übereinstimmen und dass Motive nicht über verschiedene Trinkereignisse hinweg stabil bleiben, sondern zumindest zum Teil Schwankungen unterliegen (Wurdak et al. 2010). Kuntsche, Rehm & Gmel (2004) gebensoziale Gemeinschaft (Spaß, Nervenkitzel, Enthemmung) und Spannungsabbau (Problembewältigung, Selbstmedikation) als die vornehmlichen Motive für Binge-Drinking an. Grant et al. (2007) kommen zu dem Ergebnis, dass Verstärkungs-, Depressionsbewältigungs- und Angstbewältigungsmotive als risikoreich angesehen werden sollten, da sie z.b. einen stärkeren Alkoholkonsum oder mehr alkoholbezogene Probleme vorhersagen. 42

Mara Wurdak, Jörg Wolstein Desweiteren konnten bedeutsame Zusammenhänge zwischen Verstärkungsmotiven und Vorlieben für Bier oder Spirituosen gefunden werden (Kuntsche et al. 2006d). Jugendliche, die Bier und Spirituosen bevorzugen, trinken häufig aufgrund vonverstärkungsmotiven, sie konsumieren Alkohol also um Spass zu haben und betrunken zu werden. Es könnte sein, dass für sie Spirituosen den effektivsten und Bier den billigsten Weg darstellen um die erwünschten Effekte zu erzielen. Kuntsche, Knibbe, Gmel & Engels (2006c) beschreiben einen Entwicklungstrend von allgemeinen und undifferenzierten Trinkmotiven in der späten Kindheit und frühen Jugend bis hin zu zwei oder mehr (geschlechts-)spezifischen Trinkmotiven in den folgenden Jahren. Außerdem differenzieren die Autoren zwei Typen von Jugendlichen, die sich in ihren Trinkmotiven voneinander unterscheiden: Typ1 Typ2 Trinkmotive Verstärkungsmotive Bewältigungsmotive Persönlichkeitseigenschaften Extraversion, Impulsivität, Aggression, Sensation- Seeking, geringe Verantwortlichkeit, schwacher Leistungswille Geschlecht meist männlich meist weiblich Neurotizismus, geringe Verträglichkeit, negatives Selbstbild, Schwierigkeiten Emotionen zu erkennen und zu beschreiben, Ängstlichkeit Konsum exzessiv(einschließlich Konsum vongroßen Mengen bei einer einzigen Trinkgelegenheit), zurückzuführen auf ihre risikofreudige Persönlichkeit mögen sie das Gefühl sich betrunken zu fühlen und streben danach erfahren alkoholbezogene Probleme zusätzlich zu ihrem starkem Alkoholkonsum, zurückzuführen auf ihre übersensible Persönlichkeit häufen sie persönliche Probleme an und gebrauchen Alkohol um diese zu bewältigen Die Unterscheidung dieser zwei Risikogruppen ist besonders relevant für die zukünftige Entwicklung von präventiven Strategien, da sie die Bedeutsamkeit eines differenzierten Vorgehens unterstreicht. Allgemeine Präventionsmaßnahmen, die den unterschiedlichen Hintergründen und Motiven der Jugendlichen keine Beachtung schenken und für Jedermann gleich gestaltet sind, können den individuellen Bedürfnissen der Jugend- 43

Motive zum Rauschtrinken lichen nicht genügen und sogar kontraproduktive Effekte nach sich ziehen. Zusammenfassendkannmanhervorheben, dasstrinkmotive auf sehr unterschiedliche Arten erhoben werden können und eine Verwendung von einheitlichen und theoretisch begründeten Instrumenten wünschenswert wäre. Basierend auf dem Motivational Model of Alcohol Use können Trinkmotive in vier Gruppen klassifiziert werden: soziale, Verstärkungs-, Bewältigungs- und Konformitätsmotive.Diese Trinkmotive können mithilfe des DMQ-R erfasst werden. Forschungsergebnisse zeigen, dass Jugendliche v.a. aus Spass trinken und um sich in eine gute Stimmung zu bringen oder um Hemmungen zu überwinden. Weitere Motive sind z.b. Problembewältigung, Naivität oder Zeitvertreib. Zudem können zwei Risikogruppen (siehe Tabelle) unterschieden werden, die mit spezifischen Präventionsmaßnahmen unterstützt werden sollten. Wasnützt uns das Wissen über Trinkmotive in der Praxis? Das Wissen über Trinkmotive kann uns dabei helfen wirksame Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Nach Kuntsche (2007) sind für die Prävention die proximalen Faktoren des Alkoholkonsums, also die Trinkmotive ( the final pathway ) besonders wichtig, da sie für Präventionsbemühungen vermutlich nicht nur leichter zugänglich sind als die distalen Faktoren (z.b. Kultur,Persönlichkeitseigenschaften) sondern diese auch miteinschließen. Erst wenn wir die Gründe jugendlichen Rauschtrinkens kennen, können wir individuell zugeschnittene präventive Strategien entwickeln. Allgemeine und undifferenzierte Präventionsmaßnahmen könnten womöglich sogar kontraproduktivwirken, wenn dadurch Motive unterstützt werden, die man nicht verstärken wollte. So wird beispielsweise ein Jugendlicher, der vornehmlich aufgrund von Verstärkungsmotiven trinkt, wahrscheinlich weniger von Selbstsicherheitstrainings und von Programmen für soziale Kompetenz profitieren als jemand, der Alkohol hauptsächlich aufgrund von Konformitätsmotiven konsumiert. In jedem Fall ist es also unerlässlich, die Trinkmotive der Jugendlichen mithilfe vongeeigneten Instrumenten zu erfassen um die Maßnahmen individuell auf die Adressaten abzustimmen. 44

Mara Wurdak, Jörg Wolstein Aus den vorgestellten Forschungsergebnissen lassen sich u.a. folgende Schlussfolgerungen für die Prävention jugendlichen Rauschtrinkens ziehen: Präventionsstrategien sollten der allgemeinen und undifferenzierten Trinkmotivation in der frühen Kindheit und sozialen und Verstärkungsmotiven in der frühen Jugend Beachtung schenken (Kuntsche et al. 2006c). Differenzierte Präventionsmaßnahmen für Jugendliche mit einem hochriskanten Alkoholkonsum sollten interne Motive (Verstärkungs- und Bewältigungsmotive) fokussieren sowie Strategien einbeziehen, mit deren Hilfe sie negativen Affekt ohne den Gebrauch von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen bewältigen können (Wurdak et al. 2010). Aktuelle Messinstrumente, wie der modifizierte DMQ-R, könnten als Screening-Instrumente verwendet werden um Jugendliche mit riskanten Konsummotiven (Verstärkungs-, Depressionsbewältigungs- und Angstbewältigungsmotive) zu identifizieren, damit sie mit gezielten Präventions- und Interventionsmaßnahmen unterstützt werden können (z.b. Entspannungsverfahren) (Grant 2007). Interventionen sollten speziell zwei Risikogruppen fokussieren: extravertierte Jungen, die aus Verstärkungsmotiven trinken sowie ängstliche Mädchen, die Alkohol aufgrund vonbewältigungsmotiven konsumieren (Kuntsche et al. 2006c). Literatur Babor,T.et al. (2005): Alkohol kein gewöhnliches Konsumgut. Göttingen: Hogrefe Bergler, R. et al. (2000): Ursachen des Alkoholkonsums Jugendlicher. Köln: Deutscher Instituts-Verlag.. Cooper,M.L. (1994): Motivations for Alcohol Use Among Adolescents: Development and Validation of a Four-Factor Model. In: Psychological Assessment, 6(2), 117 128. Cox, W.M./Klinger, E.(1988): A motivational model of alcohol use. In: Journal of Abnormal Psychology, 97(2), 168 180. Cox, W. M./Klinger, E.(1990): Incentive motivation, affective change, and alcohol use: Amodel. In: Cox, W. M. (Ed.): Why people drink. New York: Gardner Press, 291 314 45

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Mara Wurdak, Jörg Wolstein Wurdak, M. et al. (2010): Tagebuchstudie zu Trinkmotiven, Affektivität und Alkoholkonsum bei Jugendlichen. In: Sucht, 56 (3), S. 175 182. Zimmermann, U.S./Mick, I./Mann, K.F. (2008): Neurobiologische Aspekte des Alkoholkonsums bei Kindern und Jugendlichen. In: Sucht, 54 (6), 335 345. Internetquellen Bundesministerium für Gesundheit (2009): Drogen- und Suchtbericht Mai 2009. Verfügbar unter: www.bmg.bund.de Zugriff: 8.9.2010. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) (2010): Factsheet Binge- Drinking und Alkoholvergiftungen. Verfügbar unter: http://www.dhs. de/makeit/cms/cms_upload/dhs/091106_dhs_factsheet_ binge-drinking_din+fragebogen.pdf, Zugriff: 9.8.2010. 47

Die Autorinnen und Autoren Klaus Fieseler, Suchtberatung des Diakonischen Werkes Waldeck- Frankenberg, Ludwig-Curtze-Str. 15, 34497 Korbach Dr. Raphael Gaßmann, Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.v., Westenwall 4, 59065 Hamm Prof. Dr. Raimund Geene, Hochschule Magdeburg-Stendal, Osterburger Str. 25, 39576 Stendal Dr. Hans-Jürgen Hallmann, Landeskoordinierungsstelle Suchtvorbeugung NRW ginko, Kaiserstraße 90, 45468 Mülheim/Ruhr Hilde Hellbernd, Signal e.v. Modellprojekt, Rungestr. 22 24, 10179 Berlin Prof. Dr. Ulrike Lehmkuhl, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Charité, Universitätsmedizin Berlin, Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin Dr. Matthis Morgenstern, Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung, IFT-Nord, Harmsstr. 2,24114 Kiel Dr. Gudrun Quenzel, Universität Bielefeld, Fakultät Gesundheitswissenschaften, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Dr. Jürgen Schmitter, Neustr. 19, 48629 Metelen Prof. Dr. Jörg Wolstein, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Markusplatz 3, 96045 Bamberg Mara Wurdak, Universität Bamberg, Steutzger Str.41B, 87435 Kempten 136