PREDIGT ÜBER DEN TURMBAU ZU BABEL Michael Welker. Genesis 11, 1-9

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Transkript:

PREDIGT ÜBER DEN TURMBAU ZU BABEL Michael Welker Genesis 11, 1-9 Und alle Welt hatte einerlei Sprache und gebrauchte einerlei Worte. Und als sie von Osten her aufbrachen, da fanden sie im Land Schinear eine Ebene und siedelten sich dort an. Und sie sprachen zueinander: Auf, laßt uns Lehmziegel pressen und im Brand brennen! Und der Ziegel diente ihnen als Stein und das Erdpech diente ihnen als Mörtel. Und sie sprachen: Auf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis zum Himmel reicht! So wollen wir uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erdoberfläche zerstreuen! Da fuhr Gott herab, um Stadt und Turm anzusehen, die die Menschen bauten. Und Gott sprach: Siehe: sie sind ein Volk und alle haben eine Sprache. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns! Hinfort wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich zu tun vornehmen. Auf, wir wollen herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, so daß keiner mehr die Sprache des anderen verstehen kann! So zerstreute Gott sie von dort aus über die ganze Erde, und sie mußten aufhören, die Stadt zu bauen. Deswegen nennt man ihren Namen Babel (Wirrsal). Denn dort hat Gott die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort hat Gott sie über die ganze Erde zerstreut. Wie klein, ja kleinlich kann Gott in der biblischen Geschichte vom babylonischen Turmbau erscheinen. Klein und kleinlich - nicht nur auf den ersten, sondern auch auf den zweiten Blick. Kann Gott es etwa nicht ertragen, daß die Menschen technische Fortschritte machen, daß sie Städte und Türme bauen, daß sie Macht gewinnen und gemeinsame Pläne stolz und

2 erfolgreich umsetzen? Ist der Gott der Bibel tatsächlich zivilisationsfeindlich, innovationsfeindlich und leistungsfeindlich eingestellt? Ist Gott zumindest gegen alle menschlichen Leistungen, die das nomadische und ländliche Leben hinter sich zurücklassen? Wenn es aber so wäre, daß Gott gegen die Urbanisierung, gegen die Verstraßung und Asphaltierung der Welt kämpft, hat Gott dann nicht diesen Kampf verloren? Was beim ersten Ansatz zu einem Wolkenkratzer in Babylon noch verhindert werden konnte, wäre doch schon in Mesopotamien mit seinen monumentalen Stufentürmen gescheitert. Es wäre wieder und wieder gescheitert, nicht zuletzt an den großen Dom- und Kirchtürmen des mittelalterlichen Europas. Es wäre vom späten 19. Jahrhundert an auf der ganzen Linie gescheitert an den Hochhäusern, Funktürmen und Wolkenkratzern dieser Welt. Viele Türme, die bis an den Himmel reichten, wurden von Menschen erbaut. Und manche Bauherren, manche Städte und Länder machten sich damit jeweils einen großen Namen. Ist der Gott, der den babylonischen Turmbau noch stoppen konnte, damit nicht hoffnungslos in die Defensive geraten? Steht hinter der ganzen Geschichte vielleichts nichts als die hilflose Polemik der Nomaden- und Bauernkultur Israels gegen die mesopotamische Stadtkultur? Ein hilfloses Spottlied auf die mächtige Hauptstadt des babylonischen Weltreichs, deren zentrale Bauten am Anfang des 20. Jahrhunderts ausgegraben wurden? Viele biblische Aussagen über Gott und über Gottes Auseinandersetzung mit menschlichem Machtstreben fügen sich tatsächlich gut ein in dieses zivilisationskritische Gesamtbild. Als Israel einen König haben will, da zögert Gott - vom Propheten befragt - lange, ehe Israel die Zustimmung erhält. Israel wird sogar vorgeworfen, es wolle nur wie die anderen Völker sein. Immer wieder werden ihm die Nachteile und die Gefahren eines irdischen Königtums vor Augen geführt. Warum kann oder will es nicht sehen, daß Gott selbst sein König sein und bleiben will? Fast scheint es so, als sei Gott eifersüchtig und neidisch, wenn sich Israel oder andere Völker daran machen, große Türme und Städte zu bauen und einen König zu wählen. "Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns! Hinfort wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich zu tun vornehmen." Gehört unsere Geschichte in die Kategorie "neidischer Gott oder Neid der Götter", die uns in vielen Kulturen und Religionen begegnet? Hat Gott gar Angst vor den Menschen, die da ihre Hände nach Macht und Ruhm ausstrecken? Dieser Eindruck einer gewissen Hilflosigkeit Gottes wird, so scheint es, durch das von der Bibel selten gebrauchte Bild vom "Herabfahren Gottes" verstärkt. "Da fuhr Gott herab, um

3 die Stadt und den Turm anzusehen, den die Menschen bauten." Der Gott, dem nichts verborgen sein soll unter Sonne und Mond, der Gott, der alles so herrlich regieret, muß offensichtlich erst einen Ausflug in jene Ebene im Land Schinear machen, um, wie ein kurzsichtiger Tourist, die große Baustelle vor Ort zu besichtigen, ehe er denn beschließt: Jetzt reicht's, so geht es nicht weiter. Die Baustelle wird geschlossen. Der Turm bleibt eine Bauruine. Die machtsüchtigen und hybriden Menschen werden in alle vier Winde zerstreut. Ist die Geschichte vom Turmbau zu Babel damit richtig erfaßt? Handelt es sich um eine Geschichte der Zivilisationskritik und um eine Geschichte des neidischen Gottes, der die Menschen bremsen muß, ehe sie ihm zu mächtig werden? Ist dies die Geschichte, in der Gott feststellen muß: So habe ich mir den Auftrag: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und herrscht... - so habe ich mir das Ganze nicht vorgestellt? Ist diese Geschichte der Anfang eines ständigen Rückzugsgefechts Gottes gegen die Spezies Mensch, die sich machtvoll auf diesem Planeten ausbreitet? "Auf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze - bis zum Himmel reicht!" - "Da fuhr Gott herab, um die Stadt und den Turm anzusehen, den die Menschen bauten." Lösen wir uns einmal von den Klischees des Götterneides und des ängstlich-defensiven Gottes, so kommt eine zweite Möglichkeit in den Blick, Gottes Herabfahren vom Himmel auf die Ebene im Land Schinear zu verstehen. Bis zum Himmel soll der Tum reichen. Die Menschen wollen Gott offenbar ganz nahe kommen. Sie wollen sozusagen Gott Auge in Auge gegenübertreten. Das ist die mit dem Turmbau verbundene Idee. Tatsächlich zeigen Ausgrabungen solcher mesopotamischen Türme, daß auf ihren Spitzen Altäre, Opferaltäre errichtet wurden. Die Menschen - Auge in Auge mit Gott: dank des Turms. Eine grandiose Vorstellung! - Oder doch nur eine irrwitzige Wunschvorstellung!? Mit einem Satz nämlich bricht die Wunschvorstellung in sich zusammen. Gott, so heißt es, muß herabfahren, um das großartige Unternehmen recht ermessen zu können. Welch ein Perspektivenwechsel! Die fleißigen Turmbauer sind arme kleine Würmlein. Sie leiden unter einer falschen Selbsteinschätzung. Sie haben eine unrealistische Selbstwahrnehmung. Sie wählen deshalb falsche Zwecke und falsche Mittel. Sie irren sich, sie gehen in die Irre. Auf dieser Linie lassen sich zahlreiche Aussagen des Textes verstehen und in einen klaren Zusammenhang bringen.

4 "Und alle Welt hatte einerlei Sprache und gebrauchte einerlei Worte." So beginnt der Text. "So wollen wir uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erdoberfläche zerstreuen!" Das ist die Begründung für den Turmbau. Am Anfang des Turmbaus steht eine falsche Angst. Eine falsche Angst, eine vorgeschobene Angst oder eine einfach unsachliche Angst. Die Angst, sich zu zerstreuen, läßt nach dem Turm verlangen. Und das, obwohl die eine Sprache doch Einheit und Zusammenhalt gewährt. Ihr habt doch einen Halt in der gemeinsamen Sprache. Wie könnt ihr euch von dieser falschen Angst leiten lassen? Die falsche Angst aber läßt nach falscher Hilfe suchen: So - mit dem Turmbau wollen wir uns einen Namen machen, damit wir uns nicht zerstreuen. Am Turmbau und am damit verbundenen Namen wollen sich die Menschen festhalten. Als die Turmbauer wollen sie der möglichen Zerstreuung entgegenwirken. Damit aber begehen sie einen kardinalen Fehler. Aus falscher Angst heraus errichten sie eine falsche Mitte, ein falsches Zentrum, einen falschen Halt. Statt die freiheitliche Verbindung und Verbundenheit durch die gemeinsame Sprache zu erkennen und hochzuschätzen, wollen sie einen Turm errichten und sich einen daran geknüpften Namen machen. Aus einer falschen Angst heraus suchen die Menschen mit großer Anstrengung ein untaugliches Mittel, um einen Zweck zu erfüllen, der ohne alle Anstrengung bereits erfüllt werden kann, ja bereits erfüllt worden ist. Es geht aber nicht nur darum, sinnlose und kontraproduktive Anstrengungen zu verhindern, die das Gegenteil von dem erreichen, was sie anstreben. Es geht darum, eine Leistung zu verhindern, die das Gute, das den Menschen schon gegeben ist, verkennt und einen schlechten Ersatz für das Gute sucht. Eine solche Leistung verhindert Gott. Aber wie? Gott gebraucht ein Mittel, mit dem er nach biblischem Zeugnis wiederholt der Tyrannei und der gefährlichen Fehlorientierung entgegenwirkt. Gott zerstreut die Menschen. Eine befremdliche Befriedung ist mit diesen Aktionen der Zerstreuung verbunden, nachdem Tyrannei und Lügengeister die Menschen beherrscht haben. Das Chaos kommt als Wohltat, als Chance für einen Neuanfang: "Ich sah ganz Israel zerstreut auf den Bergen, wie Schafe, die keinen Hirten haben... Und Gott sprach: Diese haben keinen Herrn. Ein jeder suche sich in dieser Welt sein Haus in Frieden." (1Kön 22,17.23)

5 Gott gibt nicht nur das Gesetz, das die Menschen mit Gott und untereinander verbindet. Gott gibt nicht nur den Kult, den Bund, die Offenbarung des Gottesnamens. Da wo ein falscher Bund und Kult, da wo falsche Namen und Götzen, die keinen Halt geben, aufgerichtet werden, da steuert Gott dem auch durch Zerstreuung und durch ein gewisses Maß an Chaos entgegen. Das ist die erste Botschaft von Gottes Machterweis unter den babylonischen Turmbauern. Indem Gott die Sprache der Welt verwirrt, indem die leistungsbesessenen Turmbauer einander nicht mehr verstehen können, führt Gott herbei, was sie fälschlicherweise befürchtet hatten. Die zweite Botschaft von Gottes Machterweis sagt etwas über Gottes Gericht. Immer wieder begegnet uns in den biblischen Überlieferungen die Auskunft, daß Gott die Menschen richtet, indem Gott sie ihren Willen haben läßt. Gott gibt sie dahin an ihre eigensinnigen Vorhaben. In der Turmbaugeschichte läßt Gott die Menschen genau das erfahren, was sie unsinniger- und fälschlicherweise befürchtet hatten. Die falsche Angst, sie könnten sich über die ganze Erdoberfläche zerstreuen, wird zu einem wirklichen Problem. Die befürchtete Zerstreuung wird Ereignis. Die nicht richtig geschätzte und eingeschätzte Gabe der gemeinsamen Sprache wird zurückgenommen. Die Zersplitterung in die vielen Sprachen, Kulturen, Nationen und Geschichten ist nun - am Ende der sogenannten Urgeschichte - vorprogrammiert. Das Wort Babel wird zum Gerichtswort. Statt des Turmes, der bis zum Himmel reicht, statt des an ihm wie eine Siegesfahne hängenden Namens: Himmelhochjauchzende Himmelsstürmer: heißt es nun nur - "Babel" - Wirrsal. Doch das Wirrsal ist nur der letzte Schritt vor einem neuen Anfang. Und in diesem neuen Anfang hält Gott an seinem schöpferischen Segenswort fest: Werdet zahlreich, erfüllet die Erde und macht sie euch untertan! So problematisch dies viele von uns heute anmuten mag: die Menschen werden in die ganze Welt gesandt. Sie sollen nicht an einem Ort verharren, auf eine Stadt und einen Turm fixiert bleiben. Gott läßt sich nicht aufhalten im Vorhaben, die Menschen in alle Welt zu senden, damit sie Gottes Bild auf Erden darstellen und Gottes Gegenwart in aller Welt bezeugen. Gott läßt sich nicht aufhalten, auch wenn die Menschen durch den babylonischen Turmbau und auf andere Weise diesem Auftrag entgegenwirken. Auch unter den von den Menschen erschwerten Bedingungen hält Gott an den guten Absichten mit der Schöpfung fest. Das ist die dritte Botschaft von Gottes Machterweis in dieser Geschichte.

6 Der neue Anfang ist ja nicht nur die Zerstreuung der Menschen in alle Welt. Der neue Anfang ist auch und vor allem die Erwählung Abrahams und der Beginn einer Geschichte, in der Gott auf einem neuen Weg den Völkern den Segen zuwendet. "Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen!" Durch Abraham sollen die Völker gesegnet werden, durch Abraham, der Gott glaubt und der zum Vorbild im Glauben wird. Durch Abraham, der aufbricht, der nicht fixiert ist auf Turm und Stadt, der nicht auf den Turm steigen muß, um am Himmel die Sterne als Gottes Verheißung wahrzunehmen. Durch Abraham - dem Gott selbst einen "großen Namen" machen wird - sollen alle Völker gesegnet werden. Durch Abraham, der mit Gottes Geleit aufbricht, ohne Angst vor der Zerstreuung, ohne Angst, seinen Halt zu verlieren. Der Weg Abrahams und der Weg nach dem Vorbild Abrahams ist allerdings ein langer Weg. In einer langen, mühevollen und an Leiden reichen Geschichte gelangen die über die Erde zerstreuten Völker zur wahren Erkenntnis des lebendigen Gottes. Von Verheißungen der wahren Gotteserkenntnis in Israel und unter den Heidenvölkern begleitet, führt diese Geschichte auf die Ausgießung des Geistes Gottes hin. Erst das Pfingstfest ist die andere Seite des Bogens, der mit Babel beginnt. Die pfingstliche Ausgießung des Geistes stellt zwar nicht die mythologische Gemeinschaft der einen Sprache vor Babel wieder her. Die Ausgießung des Geistes führt aber auch nicht zu einem unverständlichen und deutungsbedürftigen Zungenreden. Die Ausgießung des Geistes führt ein Verstehenswunder herbei. Sie führt dazu, daß Menschen aus verschiedenen Kulturen und Nationen, mit verschiedenen Sprachen und Geschichten "Gottes große Taten" verstehen können. In der Vielfalt der Sprachen und Kulturen wird die Gemeinschaft im Glauben möglich und wirklich. Die Geschichte vom Babylonischen Turmbau warnt uns nicht vor Zivilisation und Leistungsdrang unter den Menschen. Sie zeigt uns nicht einen neidischen oder gar ängstlichen Gott. Sie warnt uns aber vor einem Leistungsdrang, der von falscher Angst getrieben wird. Es gibt einen Leistungsdrang, der trügerischen Halt und falsche Sicherheit sucht. Dieser Leistungsdrang führt zu gefährlichen Fehlleistungen. Dafür steht Babel. Statt sich die gemeinsame Sprache als Schutz vor der Zerstreuung, als freie Kraft der Verbindung gefallen zu lassen, suchen die Menschen die Zentrierung und die gemeinsame Bindung durch einen gigantischen Bau und den damit verbundenen großen Namen und Ruhm. Diese Fehlleistung, diese Suche nach einer falschen Hoffnung und nach einem trügerischen Halt beendet Gott durch die Sprachverwirrung. "Ich sah ganz Israel zerstreut auf den Bergen, wie Schafe, die

7 keinen Hirten haben... Und Gott sprach: Diese haben keinen Herrn. Ein jeder suche sich in dieser Welt sein Haus in Frieden." Aus dem Chaos wird ein Neuanfang. Aus der sogenannten Urgeschichte geht die Heilsgeschichte hervor. Gott korrigiert richtend und rettend die große Fehlorientierung der Menschen, die sich aus falscher Angst und falscher Selbsteinschätzung ihrer Sendung, ihrem göttlichen Auftrag verweigern. Das ist die Botschaft der Geschichte vom Turmbau zu Babel. Amen.